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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903.

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wie ein böses Tier zurückkriecht, die Ebene frei giebt und auf
die hohen Berge und die Polarlande zurückklettert.

Dieser Eiszeit-Mensch taucht uns in wundervollen Fund¬
stätten auf, wo sein Leben aufgeschlagen noch vor uns liegt
wie ein Buch. Die eine ist in Taubach bei Weimar, die
andere die schon erwähnte an der Schussenquelle in Ober¬
schwaben. Dort, auf der klassischen Erde, stand eine prä¬
historische Niederlassung an einem See, den die Ilm bildete,
und die Abfälle fielen in den Grund, wo der Kalkschlamm sie
umspann und erhielt. Hier hatten Renntierjäger ihr Sommer¬
quartier an einer Gletschergrube im Moränenschutt, und aller¬
hand Kulturmüll geriet unter die Grönlandmoose dieser Grube,
die ihn tadellos bewahrten. In beiden Fällen siehst du auf
erste "Kultur", also auf Werkzeuge. In Taubach haben sie
den Alt-Elefanten und das Mercksche Rhinozeros, den Hirsch
und den Höhlenbär in Gruben gefangen und die Knochenteile
für ihre Zwecke verarbeitet. Für andere Werkzeuge und Waffen
lieferten harte Gesteine, Feuerstein, Kiesel und Quarzporphyr,
den Stoff. An der Schussenquelle ist es besonders das Renn¬
tiergeweih, das, mit dem Feuerstein-Werkzeug geschnitten, un¬
endliches Material zu weiterer Werkzeugschaffung geliefert hat.

Von diesem einfachen Gebrauch der Werkzeuge kannst du
aber nun nicht ohne weiteres sagen, daß die Eiszeit ihn erst
dem Menschen aufgenötigt hat. Was wissen wir, ob der Pithek¬
anthropus der Tertiär-Wälder nicht schon damit begann.
Greift doch der Affe heute noch zum Stein, zum Ast als Ver¬
teidigungsmittel; der Orang baut sich sein Schlaflager im Baum
kunstvoll genug aus Zweigen. Der erste regelrecht als Waffe
zurecht gehauene Feuersteindolch würde allerdings wohl immer
die gute Grenze gezogen haben zwischen Affe und Mensch.
Aber jeder Anhalt fehlt uns, wie weit diese Menschwerdung
als solche hinter die Eiszeit zurückgehen kann.

Doch es sind da gewisse engere Kulturspuren, die über
dieses allgemeinste Prinzip hinausführen, und die geben aller¬

wie ein böſes Tier zurückkriecht, die Ebene frei giebt und auf
die hohen Berge und die Polarlande zurückklettert.

Dieſer Eiszeit-Menſch taucht uns in wundervollen Fund¬
ſtätten auf, wo ſein Leben aufgeſchlagen noch vor uns liegt
wie ein Buch. Die eine iſt in Taubach bei Weimar, die
andere die ſchon erwähnte an der Schuſſenquelle in Ober¬
ſchwaben. Dort, auf der klaſſiſchen Erde, ſtand eine prä¬
hiſtoriſche Niederlaſſung an einem See, den die Ilm bildete,
und die Abfälle fielen in den Grund, wo der Kalkſchlamm ſie
umſpann und erhielt. Hier hatten Renntierjäger ihr Sommer¬
quartier an einer Gletſchergrube im Moränenſchutt, und aller¬
hand Kulturmüll geriet unter die Grönlandmooſe dieſer Grube,
die ihn tadellos bewahrten. In beiden Fällen ſiehſt du auf
erſte „Kultur“, alſo auf Werkzeuge. In Taubach haben ſie
den Alt-Elefanten und das Merckſche Rhinozeros, den Hirſch
und den Höhlenbär in Gruben gefangen und die Knochenteile
für ihre Zwecke verarbeitet. Für andere Werkzeuge und Waffen
lieferten harte Geſteine, Feuerſtein, Kieſel und Quarzporphyr,
den Stoff. An der Schuſſenquelle iſt es beſonders das Renn¬
tiergeweih, das, mit dem Feuerſtein-Werkzeug geſchnitten, un¬
endliches Material zu weiterer Werkzeugſchaffung geliefert hat.

Von dieſem einfachen Gebrauch der Werkzeuge kannſt du
aber nun nicht ohne weiteres ſagen, daß die Eiszeit ihn erſt
dem Menſchen aufgenötigt hat. Was wiſſen wir, ob der Pithek¬
anthropus der Tertiär-Wälder nicht ſchon damit begann.
Greift doch der Affe heute noch zum Stein, zum Aſt als Ver¬
teidigungsmittel; der Orang baut ſich ſein Schlaflager im Baum
kunſtvoll genug aus Zweigen. Der erſte regelrecht als Waffe
zurecht gehauene Feuerſteindolch würde allerdings wohl immer
die gute Grenze gezogen haben zwiſchen Affe und Menſch.
Aber jeder Anhalt fehlt uns, wie weit dieſe Menſchwerdung
als ſolche hinter die Eiszeit zurückgehen kann.

Doch es ſind da gewiſſe engere Kulturſpuren, die über
dieſes allgemeinſte Prinzip hinausführen, und die geben aller¬

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[52/0066] wie ein böſes Tier zurückkriecht, die Ebene frei giebt und auf die hohen Berge und die Polarlande zurückklettert. Dieſer Eiszeit-Menſch taucht uns in wundervollen Fund¬ ſtätten auf, wo ſein Leben aufgeſchlagen noch vor uns liegt wie ein Buch. Die eine iſt in Taubach bei Weimar, die andere die ſchon erwähnte an der Schuſſenquelle in Ober¬ ſchwaben. Dort, auf der klaſſiſchen Erde, ſtand eine prä¬ hiſtoriſche Niederlaſſung an einem See, den die Ilm bildete, und die Abfälle fielen in den Grund, wo der Kalkſchlamm ſie umſpann und erhielt. Hier hatten Renntierjäger ihr Sommer¬ quartier an einer Gletſchergrube im Moränenſchutt, und aller¬ hand Kulturmüll geriet unter die Grönlandmooſe dieſer Grube, die ihn tadellos bewahrten. In beiden Fällen ſiehſt du auf erſte „Kultur“, alſo auf Werkzeuge. In Taubach haben ſie den Alt-Elefanten und das Merckſche Rhinozeros, den Hirſch und den Höhlenbär in Gruben gefangen und die Knochenteile für ihre Zwecke verarbeitet. Für andere Werkzeuge und Waffen lieferten harte Geſteine, Feuerſtein, Kieſel und Quarzporphyr, den Stoff. An der Schuſſenquelle iſt es beſonders das Renn¬ tiergeweih, das, mit dem Feuerſtein-Werkzeug geſchnitten, un¬ endliches Material zu weiterer Werkzeugſchaffung geliefert hat. Von dieſem einfachen Gebrauch der Werkzeuge kannſt du aber nun nicht ohne weiteres ſagen, daß die Eiszeit ihn erſt dem Menſchen aufgenötigt hat. Was wiſſen wir, ob der Pithek¬ anthropus der Tertiär-Wälder nicht ſchon damit begann. Greift doch der Affe heute noch zum Stein, zum Aſt als Ver¬ teidigungsmittel; der Orang baut ſich ſein Schlaflager im Baum kunſtvoll genug aus Zweigen. Der erſte regelrecht als Waffe zurecht gehauene Feuerſteindolch würde allerdings wohl immer die gute Grenze gezogen haben zwiſchen Affe und Menſch. Aber jeder Anhalt fehlt uns, wie weit dieſe Menſchwerdung als ſolche hinter die Eiszeit zurückgehen kann. Doch es ſind da gewiſſe engere Kulturſpuren, die über dieſes allgemeinſte Prinzip hinausführen, und die geben aller¬

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 52. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/66>, abgerufen am 19.05.2024.