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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903.

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wirkliche Nackthaut zum Vorschein kam. Ausnahmslos alle
Menschen, die heute auf der Erde hausen, müßten Nachkommen
sein von solchen, die irgendwie durch die Schule der Eiszeit¬
kälte hindurchgegangen wären. Denn alle sind enthaart, und
und wenn das nur dort geschehen konnte, so müssen sie eben
alle dort dabei gewesen sein.

Ich gestehe gern, daß mir selber diese Folge-Theorie
lange Zeit so ungeheuerlich vorgekommen ist, daß ich um ihren
Preis die ganze Enthaarungs-Theorie nicht annehmen wollte.
Aber je mehr ich mich in den anfangs so alphaft drückenden
Gedanken eingelebt habe, desto mehr hat er von seiner Un¬
geheuerlichkeit eingebüßt. Bis ich mir schließlich gesagt habe:
Ja warum denn nicht?

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Wenn man die Sitten und Bräuche unserer sogenannten
Naturvölker auf Erden anschaut, so will es an allen Ecken
und Enden gar nicht als so wunderbar erscheinen, sich zu
denken: es könnten hier schon Ergebnisse recht verzwickter alter
Entwickelungen vorliegen, Wandlungen, Verschiebungen, Degenera¬
tionen aller Art. Ich will natürlich nicht etwa einer Theorie
der menschlichen Ur-Weisheit das Wort reden, als wären alle
nackten Naturvölker Abfallsprodukte einer schon einmal enorm
hohen Gesamtkultur in unbekannt mythischer Vorzeit. Aber ein
so einfacher Schritt läßt sich, meine ich, ohne viel Mühe machen:
zu denken, es sei etwa der nackte Wilde von heute nicht nackt,
weil er noch keine Bekleidung kennt, sondern er sei nackt, weil
er das Sichbekleiden wieder verlernt hat. Eine so große Kultur¬
sache ist ja das Tragen von Kleidern nicht. Ich möchte es
unter die schlichtesten und ersten Erfindungen des Menschen

wirkliche Nackthaut zum Vorſchein kam. Ausnahmslos alle
Menſchen, die heute auf der Erde hauſen, müßten Nachkommen
ſein von ſolchen, die irgendwie durch die Schule der Eiszeit¬
kälte hindurchgegangen wären. Denn alle ſind enthaart, und
und wenn das nur dort geſchehen konnte, ſo müſſen ſie eben
alle dort dabei geweſen ſein.

Ich geſtehe gern, daß mir ſelber dieſe Folge-Theorie
lange Zeit ſo ungeheuerlich vorgekommen iſt, daß ich um ihren
Preis die ganze Enthaarungs-Theorie nicht annehmen wollte.
Aber je mehr ich mich in den anfangs ſo alphaft drückenden
Gedanken eingelebt habe, deſto mehr hat er von ſeiner Un¬
geheuerlichkeit eingebüßt. Bis ich mir ſchließlich geſagt habe:
Ja warum denn nicht?

[Abbildung]

Wenn man die Sitten und Bräuche unſerer ſogenannten
Naturvölker auf Erden anſchaut, ſo will es an allen Ecken
und Enden gar nicht als ſo wunderbar erſcheinen, ſich zu
denken: es könnten hier ſchon Ergebniſſe recht verzwickter alter
Entwickelungen vorliegen, Wandlungen, Verſchiebungen, Degenera¬
tionen aller Art. Ich will natürlich nicht etwa einer Theorie
der menſchlichen Ur-Weisheit das Wort reden, als wären alle
nackten Naturvölker Abfallsprodukte einer ſchon einmal enorm
hohen Geſamtkultur in unbekannt mythiſcher Vorzeit. Aber ein
ſo einfacher Schritt läßt ſich, meine ich, ohne viel Mühe machen:
zu denken, es ſei etwa der nackte Wilde von heute nicht nackt,
weil er noch keine Bekleidung kennt, ſondern er ſei nackt, weil
er das Sichbekleiden wieder verlernt hat. Eine ſo große Kultur¬
ſache iſt ja das Tragen von Kleidern nicht. Ich möchte es
unter die ſchlichteſten und erſten Erfindungen des Menſchen

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[78/0092] wirkliche Nackthaut zum Vorſchein kam. Ausnahmslos alle Menſchen, die heute auf der Erde hauſen, müßten Nachkommen ſein von ſolchen, die irgendwie durch die Schule der Eiszeit¬ kälte hindurchgegangen wären. Denn alle ſind enthaart, und und wenn das nur dort geſchehen konnte, ſo müſſen ſie eben alle dort dabei geweſen ſein. Ich geſtehe gern, daß mir ſelber dieſe Folge-Theorie lange Zeit ſo ungeheuerlich vorgekommen iſt, daß ich um ihren Preis die ganze Enthaarungs-Theorie nicht annehmen wollte. Aber je mehr ich mich in den anfangs ſo alphaft drückenden Gedanken eingelebt habe, deſto mehr hat er von ſeiner Un¬ geheuerlichkeit eingebüßt. Bis ich mir ſchließlich geſagt habe: Ja warum denn nicht? [Abbildung] Wenn man die Sitten und Bräuche unſerer ſogenannten Naturvölker auf Erden anſchaut, ſo will es an allen Ecken und Enden gar nicht als ſo wunderbar erſcheinen, ſich zu denken: es könnten hier ſchon Ergebniſſe recht verzwickter alter Entwickelungen vorliegen, Wandlungen, Verſchiebungen, Degenera¬ tionen aller Art. Ich will natürlich nicht etwa einer Theorie der menſchlichen Ur-Weisheit das Wort reden, als wären alle nackten Naturvölker Abfallsprodukte einer ſchon einmal enorm hohen Geſamtkultur in unbekannt mythiſcher Vorzeit. Aber ein ſo einfacher Schritt läßt ſich, meine ich, ohne viel Mühe machen: zu denken, es ſei etwa der nackte Wilde von heute nicht nackt, weil er noch keine Bekleidung kennt, ſondern er ſei nackt, weil er das Sichbekleiden wieder verlernt hat. Eine ſo große Kultur¬ ſache iſt ja das Tragen von Kleidern nicht. Ich möchte es unter die ſchlichteſten und erſten Erfindungen des Menſchen

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/92>, abgerufen am 21.11.2024.