Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 1. Hamburg, 1832.

Bild:
<< vorherige Seite

Wiegen Eyapopeya. Und doch steckt der Teufel in
jedem Buchstaben. Aber lesen Sie nur erst das
Stück dormantische Poesie, das Gebet an die Ge¬
duld
, das ich diesen Vormittag in der Verzweiflung
meiner Ungeduld niedergeschrieben, und dann sollen
Sie meine Leiden erfahren.


Geduld, sanfte Tochter des grausamsten Va¬
ters; Schmerzerzeugte, Milchherzige, weichlispelude
Göttin; Beherrscherin der Deutschen und der Schild¬
kröten; Pflegerin meines armen kranken Vaterlands,
die du es wartest und lehrest warten.

Die du hörest mit hundert Ohren, und siehest
mit hundert Augen, und blutest an hundert Wunden
und nicht klagest.

Die du Felsen kochst und Wasser in Steine
verwandelst.

Schmachbelastete, Segenspendende Geduld; hol¬
des Mondlächelndes Angesicht; heiligste Mutter aller
Heiligen, erhöre mich!

Sieh! mich plagt die böse Ungeduld, deine
Nebenbuhlerin; befreie mich von ihr, zeige, daß du
mächtiger bist als sie. Sieh! mir zucken die Lippen;
ich zapple mit den Füßen, wie ein Windelkind, das
gewaschen wird; ich renne toll wie ein Sekunden¬
zeiger um die schleichende Stunde; ich peitsche und

Wiegen Eyapopeya. Und doch ſteckt der Teufel in
jedem Buchſtaben. Aber leſen Sie nur erſt das
Stück dormantiſche Poeſie, das Gebet an die Ge¬
duld
, das ich dieſen Vormittag in der Verzweiflung
meiner Ungeduld niedergeſchrieben, und dann ſollen
Sie meine Leiden erfahren.


Geduld, ſanfte Tochter des grauſamſten Va¬
ters; Schmerzerzeugte, Milchherzige, weichliſpelude
Göttin; Beherrſcherin der Deutſchen und der Schild¬
kröten; Pflegerin meines armen kranken Vaterlands,
die du es warteſt und lehreſt warten.

Die du höreſt mit hundert Ohren, und ſieheſt
mit hundert Augen, und bluteſt an hundert Wunden
und nicht klageſt.

Die du Felſen kochſt und Waſſer in Steine
verwandelſt.

Schmachbelaſtete, Segenſpendende Geduld; hol¬
des Mondlächelndes Angeſicht; heiligſte Mutter aller
Heiligen, erhöre mich!

Sieh! mich plagt die böſe Ungeduld, deine
Nebenbuhlerin; befreie mich von ihr, zeige, daß du
mächtiger biſt als ſie. Sieh! mir zucken die Lippen;
ich zapple mit den Füßen, wie ein Windelkind, das
gewaſchen wird; ich renne toll wie ein Sekunden¬
zeiger um die ſchleichende Stunde; ich peitſche und

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0030" n="16"/>
Wiegen Eyapopeya. Und doch &#x017F;teckt der Teufel in<lb/>
jedem Buch&#x017F;taben. Aber le&#x017F;en Sie nur er&#x017F;t das<lb/>
Stück dormanti&#x017F;che Poe&#x017F;ie, das <hi rendition="#g">Gebet an die Ge¬<lb/>
duld</hi>, das ich die&#x017F;en Vormittag in der Verzweiflung<lb/>
meiner Ungeduld niederge&#x017F;chrieben, und dann &#x017F;ollen<lb/>
Sie meine Leiden erfahren.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <p><hi rendition="#g">Geduld</hi>, &#x017F;anfte Tochter des grau&#x017F;am&#x017F;ten Va¬<lb/>
ters; Schmerzerzeugte, Milchherzige, weichli&#x017F;pelude<lb/>
Göttin; Beherr&#x017F;cherin der Deut&#x017F;chen und der Schild¬<lb/>
kröten; Pflegerin meines armen kranken Vaterlands,<lb/>
die du es warte&#x017F;t und lehre&#x017F;t warten.</p><lb/>
          <p>Die du höre&#x017F;t mit hundert Ohren, und &#x017F;iehe&#x017F;t<lb/>
mit hundert Augen, und blute&#x017F;t an hundert Wunden<lb/>
und nicht klage&#x017F;t.</p><lb/>
          <p>Die du Fel&#x017F;en koch&#x017F;t und Wa&#x017F;&#x017F;er in Steine<lb/>
verwandel&#x017F;t.</p><lb/>
          <p>Schmachbela&#x017F;tete, Segen&#x017F;pendende Geduld; hol¬<lb/>
des Mondlächelndes Ange&#x017F;icht; heilig&#x017F;te Mutter aller<lb/>
Heiligen, erhöre mich!</p><lb/>
          <p>Sieh! mich plagt die bö&#x017F;e Ungeduld, deine<lb/>
Nebenbuhlerin; befreie mich von ihr, zeige, daß du<lb/>
mächtiger bi&#x017F;t als &#x017F;ie. Sieh! mir zucken die Lippen;<lb/>
ich zapple mit den Füßen, wie ein Windelkind, das<lb/>
gewa&#x017F;chen wird; ich renne toll wie ein Sekunden¬<lb/>
zeiger um die &#x017F;chleichende Stunde; ich peit&#x017F;che und<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[16/0030] Wiegen Eyapopeya. Und doch ſteckt der Teufel in jedem Buchſtaben. Aber leſen Sie nur erſt das Stück dormantiſche Poeſie, das Gebet an die Ge¬ duld, das ich dieſen Vormittag in der Verzweiflung meiner Ungeduld niedergeſchrieben, und dann ſollen Sie meine Leiden erfahren. Geduld, ſanfte Tochter des grauſamſten Va¬ ters; Schmerzerzeugte, Milchherzige, weichliſpelude Göttin; Beherrſcherin der Deutſchen und der Schild¬ kröten; Pflegerin meines armen kranken Vaterlands, die du es warteſt und lehreſt warten. Die du höreſt mit hundert Ohren, und ſieheſt mit hundert Augen, und bluteſt an hundert Wunden und nicht klageſt. Die du Felſen kochſt und Waſſer in Steine verwandelſt. Schmachbelaſtete, Segenſpendende Geduld; hol¬ des Mondlächelndes Angeſicht; heiligſte Mutter aller Heiligen, erhöre mich! Sieh! mich plagt die böſe Ungeduld, deine Nebenbuhlerin; befreie mich von ihr, zeige, daß du mächtiger biſt als ſie. Sieh! mir zucken die Lippen; ich zapple mit den Füßen, wie ein Windelkind, das gewaſchen wird; ich renne toll wie ein Sekunden¬ zeiger um die ſchleichende Stunde; ich peitſche und

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/boerne_paris01_1832
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/boerne_paris01_1832/30
Zitationshilfe: Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 1. Hamburg, 1832, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boerne_paris01_1832/30>, abgerufen am 22.12.2024.