Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 2. Hamburg, 1832.schwach, tugendhaft, aber unverständig; es macht der ſchwach, tugendhaft, aber unverſtändig; es macht der <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0108" n="94"/> ſchwach, tugendhaft, aber unverſtändig; es macht der<lb/> Menſchheit Ehre, aber nicht den Menſchen. Man<lb/> hat Talleyrand vorgeworfen, er habe nach und nach<lb/> alle Partheien, alle Regierungen verrathen. Es iſt<lb/> wahr, er ging von Ludwig <hi rendition="#aq">XV.</hi> zur Republik, von<lb/> dieſem zum Direktorium, von dieſem zum Conſulat,<lb/> von dieſem zu Napoleon, von dieſem zu den Bour¬<lb/> bonen, von dieſen zu Orleans über, und es könnte<lb/> wohl noch kommen, ehe er ſtirbt, daß er wieder von<lb/> Louis Philipp zur Republik überginge. Aber verra¬<lb/> then hat er dieſe Alle nicht, er hat ſie nur verlaſſen,<lb/> als ſie todt waren. Er ſaß am Krankenbette jeder<lb/> Zeit, jeder Regierung, hatte immer die Finger auf<lb/> dem Pulſe, und merkte es zuerſt, wenn ihr das Herz<lb/> ausgeſchlagen. Dann eilten er vom Todten zum Er¬<lb/> ben; die Andern aber dienten noch eine kurze Zeit<lb/> der Leiche fort. Iſt das Verrath? Iſt Talleyrand<lb/> darum ſchlechter, weil er klüger iſt als Andere, weil<lb/> feſter, und ſich der Nothwendigkeit unterwirft? Die<lb/> Treue der andern währte auch nicht länger, nur ihre<lb/> Täuſchung währte länger. Auf Talleyrands Stimme<lb/> habe ich immer gehorcht, wie auf die Entſcheidung<lb/> des Schickſals. Ich erinnere mich noch, wie ich er¬<lb/> ſchrack, als nach der Rückkehr Napoleons von Elba<lb/> Talleyrand Ludwig <hi rendition="#aq">XVIII.</hi> treu geblieben. Das ver¬<lb/> kündigte mir Napoleons Untergang. Ich freute mich,<lb/> als er ſich für Orleans erklärte; ich ſah daraus daß<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [94/0108]
ſchwach, tugendhaft, aber unverſtändig; es macht der
Menſchheit Ehre, aber nicht den Menſchen. Man
hat Talleyrand vorgeworfen, er habe nach und nach
alle Partheien, alle Regierungen verrathen. Es iſt
wahr, er ging von Ludwig XV. zur Republik, von
dieſem zum Direktorium, von dieſem zum Conſulat,
von dieſem zu Napoleon, von dieſem zu den Bour¬
bonen, von dieſen zu Orleans über, und es könnte
wohl noch kommen, ehe er ſtirbt, daß er wieder von
Louis Philipp zur Republik überginge. Aber verra¬
then hat er dieſe Alle nicht, er hat ſie nur verlaſſen,
als ſie todt waren. Er ſaß am Krankenbette jeder
Zeit, jeder Regierung, hatte immer die Finger auf
dem Pulſe, und merkte es zuerſt, wenn ihr das Herz
ausgeſchlagen. Dann eilten er vom Todten zum Er¬
ben; die Andern aber dienten noch eine kurze Zeit
der Leiche fort. Iſt das Verrath? Iſt Talleyrand
darum ſchlechter, weil er klüger iſt als Andere, weil
feſter, und ſich der Nothwendigkeit unterwirft? Die
Treue der andern währte auch nicht länger, nur ihre
Täuſchung währte länger. Auf Talleyrands Stimme
habe ich immer gehorcht, wie auf die Entſcheidung
des Schickſals. Ich erinnere mich noch, wie ich er¬
ſchrack, als nach der Rückkehr Napoleons von Elba
Talleyrand Ludwig XVIII. treu geblieben. Das ver¬
kündigte mir Napoleons Untergang. Ich freute mich,
als er ſich für Orleans erklärte; ich ſah daraus daß
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