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Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 2. Hamburg, 1832.

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Warum denken Sie immer an die Polen, warum
trauern Sie nur für sie? Sind die Russen nicht
beweinenswerther? Die Polen sterben den schönen
Heldentodt, oder sie leben für die Freiheit. Der
Russe zwischen grausame Sense und schimpfliche
Knute gestellt, kämpft nur für eigne Sklaverei, unter¬
liegt wie ein Schlachtvieh, oder siegt wie ein Metz¬
gerhund, für seinen Herrn. Die Menschen zu
Völkern vereinigt, sind dümmer, geduldiger als die
Steine. Jeder Stein rächt sich, wenn ihn einer zu
hart berührt, und versetzt seinem Beleidiger blutige
Beulen; ein Volk aber, eine Alpenkette, läßt schimpf¬
lich mit sich kegeln, und hat es die Kegel erreicht
und umgeworfen, läßt es sich geduldig in die höl¬
zerne Rinne legen, und eilt sehr, herabzurollen zu
seinem Spielherrn, und läßt sich von neuem kegeln.
Es ist zum Rasendwerden!

Ich will nicht versäumen, Ihnen eine Stelle
aus einem Briefe aus Warschau mitzutheilen, den
gestern ein hiesiges Blatt enthielt. "Der öffentliche
"Geist in Warschau ist herrlich; doch gibt es Men¬
"schen, die das Wohl ihres Kramladens dem des
"Vaterlandes vorziehen. Das darf Sie aber nicht
"in Verwunderung setzen, denn auf 140,000 Ein¬

Warum denken Sie immer an die Polen, warum
trauern Sie nur für ſie? Sind die Ruſſen nicht
beweinenswerther? Die Polen ſterben den ſchönen
Heldentodt, oder ſie leben für die Freiheit. Der
Ruſſe zwiſchen grauſame Senſe und ſchimpfliche
Knute geſtellt, kämpft nur für eigne Sklaverei, unter¬
liegt wie ein Schlachtvieh, oder ſiegt wie ein Metz¬
gerhund, für ſeinen Herrn. Die Menſchen zu
Völkern vereinigt, ſind dümmer, geduldiger als die
Steine. Jeder Stein rächt ſich, wenn ihn einer zu
hart berührt, und verſetzt ſeinem Beleidiger blutige
Beulen; ein Volk aber, eine Alpenkette, läßt ſchimpf¬
lich mit ſich kegeln, und hat es die Kegel erreicht
und umgeworfen, läßt es ſich geduldig in die höl¬
zerne Rinne legen, und eilt ſehr, herabzurollen zu
ſeinem Spielherrn, und läßt ſich von neuem kegeln.
Es iſt zum Raſendwerden!

Ich will nicht verſäumen, Ihnen eine Stelle
aus einem Briefe aus Warſchau mitzutheilen, den
geſtern ein hieſiges Blatt enthielt. „Der öffentliche
„Geiſt in Warſchau iſt herrlich; doch gibt es Men¬
„ſchen, die das Wohl ihres Kramladens dem des
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„in Verwunderung ſetzen, denn auf 140,000 Ein¬

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[166/0180] Warum denken Sie immer an die Polen, warum trauern Sie nur für ſie? Sind die Ruſſen nicht beweinenswerther? Die Polen ſterben den ſchönen Heldentodt, oder ſie leben für die Freiheit. Der Ruſſe zwiſchen grauſame Senſe und ſchimpfliche Knute geſtellt, kämpft nur für eigne Sklaverei, unter¬ liegt wie ein Schlachtvieh, oder ſiegt wie ein Metz¬ gerhund, für ſeinen Herrn. Die Menſchen zu Völkern vereinigt, ſind dümmer, geduldiger als die Steine. Jeder Stein rächt ſich, wenn ihn einer zu hart berührt, und verſetzt ſeinem Beleidiger blutige Beulen; ein Volk aber, eine Alpenkette, läßt ſchimpf¬ lich mit ſich kegeln, und hat es die Kegel erreicht und umgeworfen, läßt es ſich geduldig in die höl¬ zerne Rinne legen, und eilt ſehr, herabzurollen zu ſeinem Spielherrn, und läßt ſich von neuem kegeln. Es iſt zum Raſendwerden! Ich will nicht verſäumen, Ihnen eine Stelle aus einem Briefe aus Warſchau mitzutheilen, den geſtern ein hieſiges Blatt enthielt. „Der öffentliche „Geiſt in Warſchau iſt herrlich; doch gibt es Men¬ „ſchen, die das Wohl ihres Kramladens dem des „Vaterlandes vorziehen. Das darf Sie aber nicht „in Verwunderung ſetzen, denn auf 140,000 Ein¬

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Zitationshilfe: Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 2. Hamburg, 1832, S. 166. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boerne_paris02_1832/180>, abgerufen am 15.05.2024.