Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 2. Hamburg, 1832.den; denn bei Völkern, wie bei einzelnen Menschen, den; denn bei Völkern, wie bei einzelnen Menſchen, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0211" n="197"/> den; denn bei Völkern, wie bei einzelnen Menſchen,<lb/> entwickeln ſich mit neuen Tugenden auch neue Fehler.<lb/> So gab es noch vor vierzig Jahren in Frankfurt<lb/> gar keine blonden und langweilige Juden, ſie waren<lb/> alle ſchwarz und witzig, ſeitdem ſie aber in der<lb/> Bildung fortgeſchritten, findet man nicht weniger<lb/> Philiſter unter ihnen, als unter den älteſten Chriſten.<lb/> Ein ſolches deutſch-langweiliges Stück habe ich neu¬<lb/> lich im <hi rendition="#aq">Théâtre des nouveautés</hi> geſehen. Es heißt:<lb/><hi rendition="#aq #g">le charpentier ou vice et pauvreté.</hi> Wir<lb/> haben ein Schauſpiel das heißt <hi rendition="#g">Armuth und Edel¬<lb/> ſinn</hi>, aber ein Franzoſe findet dieſe Parthie un¬<lb/> paſſend und er hat vielleicht Recht. Laſter iſt Ar¬<lb/> muth des Herzens, und wo ſich eine Armuth findet,<lb/> geſellt ſich die Andere bald dazu. <hi rendition="#aq">Le charpentier</hi><lb/> iſt ein höchſt merkwürdiges Stück für Paris. In<lb/> deutſchen Schauſpielen ſpielt zwar die Armuth auch<lb/> die erſte Liebhaberrolle, aber dort ſind es doch wenig¬<lb/> ſtens vornehme Leute, die heruntergekommen, oder<lb/> kommen auch arme Teufel von Geburt vor, ſo ſind<lb/> es doch vornehme Leute, die ihnen aus der Noth<lb/> helfen. Hier aber wird alles unter gemeinen Leuten<lb/> abgemacht. Alle Perſonen im Stück ſind zuſammen<lb/> keine tauſend Franken reich. Die Armuth iſt nicht<lb/> Schickſal, ſondern Stand, Gewohnheit, Beſtimmung.<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [197/0211]
den; denn bei Völkern, wie bei einzelnen Menſchen,
entwickeln ſich mit neuen Tugenden auch neue Fehler.
So gab es noch vor vierzig Jahren in Frankfurt
gar keine blonden und langweilige Juden, ſie waren
alle ſchwarz und witzig, ſeitdem ſie aber in der
Bildung fortgeſchritten, findet man nicht weniger
Philiſter unter ihnen, als unter den älteſten Chriſten.
Ein ſolches deutſch-langweiliges Stück habe ich neu¬
lich im Théâtre des nouveautés geſehen. Es heißt:
le charpentier ou vice et pauvreté. Wir
haben ein Schauſpiel das heißt Armuth und Edel¬
ſinn, aber ein Franzoſe findet dieſe Parthie un¬
paſſend und er hat vielleicht Recht. Laſter iſt Ar¬
muth des Herzens, und wo ſich eine Armuth findet,
geſellt ſich die Andere bald dazu. Le charpentier
iſt ein höchſt merkwürdiges Stück für Paris. In
deutſchen Schauſpielen ſpielt zwar die Armuth auch
die erſte Liebhaberrolle, aber dort ſind es doch wenig¬
ſtens vornehme Leute, die heruntergekommen, oder
kommen auch arme Teufel von Geburt vor, ſo ſind
es doch vornehme Leute, die ihnen aus der Noth
helfen. Hier aber wird alles unter gemeinen Leuten
abgemacht. Alle Perſonen im Stück ſind zuſammen
keine tauſend Franken reich. Die Armuth iſt nicht
Schickſal, ſondern Stand, Gewohnheit, Beſtimmung.
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