her wüßte sie sonst alle pathologischen Bewe¬ gungen des Körpers so Naturtreu darzustellen? Ich mußte manchmal die Augen von der Bühne abwenden, um nur wieder Athem zu schöpfen; denn wenn man die Pulsschläge zählt, die zu solchen Gemüthsbewegungen gehören, wird ei¬ nem ganz angst bei der Rechnung. Mein kühles Urtheil: daß die Malibran oft zu natürlich spiele, hieß ich mit Unwillen schweigen, so recht es auch hat. In der Tragödie, sowohl im Gedichte als in der mimischen Darstellung, darf zwar die Person handeln; aber leiden darf nur der Mensch. Die Person leiden zu sehen -- was hat man davon? (Es ist doch schön, daß ein Kritiker nichts zu fürchten hat; hätte das: "was hat man davon?" ein Anderer gesagt, ich wollte mich schön über ihn lustig machen.) Der Körper soll die Lei¬ den der Seele durchblicken lassen; wird er aber selbst trübe, wie kann da die Seele durch¬
III. 9
her wuͤßte ſie ſonſt alle pathologiſchen Bewe¬ gungen des Koͤrpers ſo Naturtreu darzuſtellen? Ich mußte manchmal die Augen von der Buͤhne abwenden, um nur wieder Athem zu ſchoͤpfen; denn wenn man die Pulsſchlaͤge zaͤhlt, die zu ſolchen Gemuͤthsbewegungen gehoͤren, wird ei¬ nem ganz angſt bei der Rechnung. Mein kuͤhles Urtheil: daß die Malibran oft zu natuͤrlich ſpiele, hieß ich mit Unwillen ſchweigen, ſo recht es auch hat. In der Tragoͤdie, ſowohl im Gedichte als in der mimiſchen Darſtellung, darf zwar die Perſon handeln; aber leiden darf nur der Menſch. Die Perſon leiden zu ſehen — was hat man davon? (Es iſt doch ſchoͤn, daß ein Kritiker nichts zu fuͤrchten hat; haͤtte das: „was hat man davon?“ ein Anderer geſagt, ich wollte mich ſchoͤn uͤber ihn luſtig machen.) Der Koͤrper ſoll die Lei¬ den der Seele durchblicken laſſen; wird er aber ſelbſt truͤbe, wie kann da die Seele durch¬
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her wuͤßte ſie ſonſt alle pathologiſchen Bewe¬
gungen des Koͤrpers ſo Naturtreu darzuſtellen?
Ich mußte manchmal die Augen von der Buͤhne
abwenden, um nur wieder Athem zu ſchoͤpfen;
denn wenn man die Pulsſchlaͤge zaͤhlt, die zu
ſolchen Gemuͤthsbewegungen gehoͤren, wird ei¬
nem ganz angſt bei der Rechnung. Mein kuͤhles
Urtheil: daß die Malibran oft zu natuͤrlich
ſpiele, hieß ich mit Unwillen ſchweigen, ſo
recht es auch hat. In der Tragoͤdie, ſowohl
im Gedichte als in der mimiſchen Darſtellung,
darf zwar die Perſon handeln; aber leiden
darf nur der Menſch. Die Perſon leiden
zu ſehen — was hat man davon? (Es iſt
doch ſchoͤn, daß ein Kritiker nichts zu fuͤrchten
hat; haͤtte das: „was hat man davon?“ ein
Anderer geſagt, ich wollte mich ſchoͤn uͤber
ihn luſtig machen.) Der Koͤrper ſoll die Lei¬
den der Seele durchblicken laſſen; wird er aber
ſelbſt truͤbe, wie kann da die Seele durch¬
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Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 3. Paris, 1833, S. 129. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boerne_paris03_1833/143>, abgerufen am 15.05.2024.
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