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Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 6. Paris, 1834.

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schuld und der Freisprechung, eine Ewigkeit der
Qual zu setzen, die entweder die verdiente Strafe
grausam erhöht oder die Freisprechung ganz trügerisch
macht? Das ist aber der Fluch unseres Vaterlandes,
daß selbst die schlechtesten Regierungen keinen Platz
mehr zur Willkühr finden, weil schon die böse Laune
der Gesetze allen Raum einnimmt. Selbst der
boshafteste Richter, wenn er einen Angeschuldigten,
der in seine Hände gefallen, aus Rache peinigen
wollte, vermöchte dies nicht, sobald die Anschuldigung
ein Staatsverbrechen betrifft. Da hören alle
Schranken zum Schutze des Unschuldigen, zum
Troste des Schuldigen auf; der Richter hat keine
zu übertreten. Jeder eines Staatsverbrechens An¬
geklagter, ist vogelfrei in seinem Kerker. Glücklich
wenn er einem gewissenlosen Richter in die Hände
fällt: Dann hat er doch Hoffnung ihn mit Gold zu
bestechen. Ist aber der Richter ein ehrlicher Mann,
ein sogenannter treuer Staatsdiener, ist der Unglück¬
liche verloren. Ein solcher treuer Staatsdiener sieht
die Bäume vor dem Walde nicht; der Mensch ist
ihm nichts, der Staat ist ihm alles, und -- was
noch unheilbringender: er sieht den ganzen Staat in
der Regierung, und sieht die ganze Regierung in
dem Fürsten. Auf diese Weise sind dreißig Millionen
Deutsche nichts, und ihre dreißig Fürsten sind alles.
Fragen Sie einen solchen wahnsinnigen deutschen

ſchuld und der Freiſprechung, eine Ewigkeit der
Qual zu ſetzen, die entweder die verdiente Strafe
grauſam erhöht oder die Freiſprechung ganz trügeriſch
macht? Das iſt aber der Fluch unſeres Vaterlandes,
daß ſelbſt die ſchlechteſten Regierungen keinen Platz
mehr zur Willkühr finden, weil ſchon die böſe Laune
der Geſetze allen Raum einnimmt. Selbſt der
boshafteſte Richter, wenn er einen Angeſchuldigten,
der in ſeine Hände gefallen, aus Rache peinigen
wollte, vermöchte dies nicht, ſobald die Anſchuldigung
ein Staatsverbrechen betrifft. Da hören alle
Schranken zum Schutze des Unſchuldigen, zum
Troſte des Schuldigen auf; der Richter hat keine
zu übertreten. Jeder eines Staatsverbrechens An¬
geklagter, iſt vogelfrei in ſeinem Kerker. Glücklich
wenn er einem gewiſſenloſen Richter in die Hände
fällt: Dann hat er doch Hoffnung ihn mit Gold zu
beſtechen. Iſt aber der Richter ein ehrlicher Mann,
ein ſogenannter treuer Staatsdiener, iſt der Unglück¬
liche verloren. Ein ſolcher treuer Staatsdiener ſieht
die Bäume vor dem Walde nicht; der Menſch iſt
ihm nichts, der Staat iſt ihm alles, und — was
noch unheilbringender: er ſieht den ganzen Staat in
der Regierung, und ſieht die ganze Regierung in
dem Fürſten. Auf dieſe Weiſe ſind dreißig Millionen
Deutſche nichts, und ihre dreißig Fürſten ſind alles.
Fragen Sie einen ſolchen wahnſinnigen deutſchen

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[202/0214] ſchuld und der Freiſprechung, eine Ewigkeit der Qual zu ſetzen, die entweder die verdiente Strafe grauſam erhöht oder die Freiſprechung ganz trügeriſch macht? Das iſt aber der Fluch unſeres Vaterlandes, daß ſelbſt die ſchlechteſten Regierungen keinen Platz mehr zur Willkühr finden, weil ſchon die böſe Laune der Geſetze allen Raum einnimmt. Selbſt der boshafteſte Richter, wenn er einen Angeſchuldigten, der in ſeine Hände gefallen, aus Rache peinigen wollte, vermöchte dies nicht, ſobald die Anſchuldigung ein Staatsverbrechen betrifft. Da hören alle Schranken zum Schutze des Unſchuldigen, zum Troſte des Schuldigen auf; der Richter hat keine zu übertreten. Jeder eines Staatsverbrechens An¬ geklagter, iſt vogelfrei in ſeinem Kerker. Glücklich wenn er einem gewiſſenloſen Richter in die Hände fällt: Dann hat er doch Hoffnung ihn mit Gold zu beſtechen. Iſt aber der Richter ein ehrlicher Mann, ein ſogenannter treuer Staatsdiener, iſt der Unglück¬ liche verloren. Ein ſolcher treuer Staatsdiener ſieht die Bäume vor dem Walde nicht; der Menſch iſt ihm nichts, der Staat iſt ihm alles, und — was noch unheilbringender: er ſieht den ganzen Staat in der Regierung, und ſieht die ganze Regierung in dem Fürſten. Auf dieſe Weiſe ſind dreißig Millionen Deutſche nichts, und ihre dreißig Fürſten ſind alles. Fragen Sie einen ſolchen wahnſinnigen deutſchen

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Zitationshilfe: Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 6. Paris, 1834, S. 202. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boerne_paris06_1834/214>, abgerufen am 23.11.2024.