Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 6. Paris, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

schaften will, auf welche beste Art er in der Nacht
einsteigen könnte. In diesen Häusern wohnten einst
berühmte Menschen. Solche verödete Wohnstätten
rühren mich mehr als die Gräber auf dem Kirch¬
hofe. Dort war früher nichts und jetzt lebt da der
Tod, es ist eine Art Geburt. Hier aber war frü¬
her alles, und jetzt ist das Leben todt, da ist die
wahre Vernichtung. Und welches Leben war in die¬
sen Häusern! Alle Lust und aller Schmerz des Da¬
seins; alle Weisheit und alle Thorheit des Lebens;
Reichthum, Armuth, die Freuden der Jugend, die
Leiden des Alters, Witz, Geist, Aberglaube, Philo¬
sophie, Edelmuth, Gaunerei, Freundschaft, Treue
und Verrath, aristokratische Verderbniß und demo¬
kratische Wuth, zwei Jahrhunderte und beide ver¬
raucht, und das ganze Paradies und die ganze Hölle,
die zwischen der glücklichen und unglücklichen Liebe
liegen. Jetzt wird in allen drei gemeine Krämerei
getrieben!

In dem ersten Hause hat Cagliostro ge¬
wohnt. Es sieht etwas labyrinthisch und theatralisch
aus und ist ganz geeignet zu einem Schauplatze für
Geisterbeschwörungen, Goldmacherei, Somnambulisti¬
schen Spuk und andere Täuschungen. Göthes aristo¬
kratische Verstocktheit und beispiellos enge Hofbe¬
schränkung wurden mir durch nichts klarer als durch
die falsche Ansicht, unter welcher er das Leben des

ſchaften will, auf welche beſte Art er in der Nacht
einſteigen könnte. In dieſen Häuſern wohnten einſt
berühmte Menſchen. Solche verödete Wohnſtätten
rühren mich mehr als die Gräber auf dem Kirch¬
hofe. Dort war früher nichts und jetzt lebt da der
Tod, es iſt eine Art Geburt. Hier aber war frü¬
her alles, und jetzt iſt das Leben todt, da iſt die
wahre Vernichtung. Und welches Leben war in die¬
ſen Häuſern! Alle Luſt und aller Schmerz des Da¬
ſeins; alle Weisheit und alle Thorheit des Lebens;
Reichthum, Armuth, die Freuden der Jugend, die
Leiden des Alters, Witz, Geiſt, Aberglaube, Philo¬
ſophie, Edelmuth, Gaunerei, Freundſchaft, Treue
und Verrath, ariſtokratiſche Verderbniß und demo¬
kratiſche Wuth, zwei Jahrhunderte und beide ver¬
raucht, und das ganze Paradies und die ganze Hölle,
die zwiſchen der glücklichen und unglücklichen Liebe
liegen. Jetzt wird in allen drei gemeine Krämerei
getrieben!

In dem erſten Hauſe hat Caglioſtro ge¬
wohnt. Es ſieht etwas labyrinthiſch und theatraliſch
aus und iſt ganz geeignet zu einem Schauplatze für
Geiſterbeſchwörungen, Goldmacherei, Somnambuliſti¬
ſchen Spuk und andere Täuſchungen. Göthes ariſto¬
kratiſche Verſtocktheit und beiſpiellos enge Hofbe¬
ſchränkung wurden mir durch nichts klarer als durch
die falſche Anſicht, unter welcher er das Leben des

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div>
            <p><pb facs="#f0028" n="16"/>
&#x017F;chaften will, auf welche be&#x017F;te Art er in der Nacht<lb/>
ein&#x017F;teigen könnte. In die&#x017F;en Häu&#x017F;ern wohnten ein&#x017F;t<lb/>
berühmte Men&#x017F;chen. Solche verödete Wohn&#x017F;tätten<lb/>
rühren mich mehr als die Gräber auf dem Kirch¬<lb/>
hofe. Dort war früher nichts und jetzt lebt da der<lb/>
Tod, es i&#x017F;t eine Art Geburt. Hier aber war frü¬<lb/>
her alles, und jetzt i&#x017F;t das Leben todt, da i&#x017F;t die<lb/>
wahre Vernichtung. Und welches Leben war in die¬<lb/>
&#x017F;en Häu&#x017F;ern! Alle Lu&#x017F;t und aller Schmerz des Da¬<lb/>
&#x017F;eins; alle Weisheit und alle Thorheit des Lebens;<lb/>
Reichthum, Armuth, die Freuden der Jugend, die<lb/>
Leiden des Alters, Witz, Gei&#x017F;t, Aberglaube, Philo¬<lb/>
&#x017F;ophie, Edelmuth, Gaunerei, Freund&#x017F;chaft, Treue<lb/>
und Verrath, ari&#x017F;tokrati&#x017F;che Verderbniß und demo¬<lb/>
krati&#x017F;che Wuth, zwei Jahrhunderte und beide ver¬<lb/>
raucht, und das ganze Paradies und die ganze Hölle,<lb/>
die zwi&#x017F;chen der glücklichen und unglücklichen Liebe<lb/><choice><sic>&#x017F;iegen</sic><corr>liegen</corr></choice>. Jetzt wird in allen drei gemeine Krämerei<lb/>
getrieben!</p><lb/>
            <p>In dem er&#x017F;ten Hau&#x017F;e hat <hi rendition="#g">Caglio&#x017F;tro</hi> ge¬<lb/>
wohnt. Es &#x017F;ieht etwas labyrinthi&#x017F;ch und theatrali&#x017F;ch<lb/>
aus und i&#x017F;t ganz geeignet zu einem Schauplatze für<lb/>
Gei&#x017F;terbe&#x017F;chwörungen, Goldmacherei, Somnambuli&#x017F;ti¬<lb/>
&#x017F;chen Spuk und andere Täu&#x017F;chungen. Göthes ari&#x017F;to¬<lb/>
krati&#x017F;che Ver&#x017F;tocktheit und bei&#x017F;piellos enge Hofbe¬<lb/>
&#x017F;chränkung wurden mir durch nichts klarer als durch<lb/>
die fal&#x017F;che An&#x017F;icht, unter welcher er das Leben des<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[16/0028] ſchaften will, auf welche beſte Art er in der Nacht einſteigen könnte. In dieſen Häuſern wohnten einſt berühmte Menſchen. Solche verödete Wohnſtätten rühren mich mehr als die Gräber auf dem Kirch¬ hofe. Dort war früher nichts und jetzt lebt da der Tod, es iſt eine Art Geburt. Hier aber war frü¬ her alles, und jetzt iſt das Leben todt, da iſt die wahre Vernichtung. Und welches Leben war in die¬ ſen Häuſern! Alle Luſt und aller Schmerz des Da¬ ſeins; alle Weisheit und alle Thorheit des Lebens; Reichthum, Armuth, die Freuden der Jugend, die Leiden des Alters, Witz, Geiſt, Aberglaube, Philo¬ ſophie, Edelmuth, Gaunerei, Freundſchaft, Treue und Verrath, ariſtokratiſche Verderbniß und demo¬ kratiſche Wuth, zwei Jahrhunderte und beide ver¬ raucht, und das ganze Paradies und die ganze Hölle, die zwiſchen der glücklichen und unglücklichen Liebe liegen. Jetzt wird in allen drei gemeine Krämerei getrieben! In dem erſten Hauſe hat Caglioſtro ge¬ wohnt. Es ſieht etwas labyrinthiſch und theatraliſch aus und iſt ganz geeignet zu einem Schauplatze für Geiſterbeſchwörungen, Goldmacherei, Somnambuliſti¬ ſchen Spuk und andere Täuſchungen. Göthes ariſto¬ kratiſche Verſtocktheit und beiſpiellos enge Hofbe¬ ſchränkung wurden mir durch nichts klarer als durch die falſche Anſicht, unter welcher er das Leben des

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/boerne_paris06_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/boerne_paris06_1834/28
Zitationshilfe: Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 6. Paris, 1834, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boerne_paris06_1834/28>, abgerufen am 23.11.2024.