Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895.pbo_110.001 § 72. Dramatische Komposition. pbo_110.002 pbo_110.025 pbo_110.001 § 72. Dramatische Komposition. pbo_110.002 pbo_110.025 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <pb facs="#f0114" n="110"/> <lb n="pbo_110.001"/> </div> <div n="4"> <head> <hi rendition="#c">§ 72. Dramatische Komposition.</hi> </head> <p><lb n="pbo_110.002"/> Das Jnteresse muß nach Stärke und Umfang zusammengehalten <lb n="pbo_110.003"/> werden: es darf nicht geschwächt, es darf nicht verzettelt <lb n="pbo_110.004"/> werden. Diesem Zwecke dient das entschiedene, durch <lb n="pbo_110.005"/> keine Abschweifungen aufgehaltene Hinaufführen der Handlung <lb n="pbo_110.006"/> auf ihren natürlichen Höhepunkt, auf dem die in ihr <lb n="pbo_110.007"/> zum Ausdruck gelangenden persönlichen Gegensätze voll aufeinanderprallen <lb n="pbo_110.008"/> und so den geforderten Abschluß der Handlung <lb n="pbo_110.009"/> in einem auffallenden Ereignis (sei es des Hasses oder der <lb n="pbo_110.010"/> Liebe: Tod oder Versöhnung) notwendig herbeiführen. Man <lb n="pbo_110.011"/> nennt diesen Höhepunkt der Handlung nach Aristoteles <hi rendition="#g">Peripetie,</hi> <lb n="pbo_110.012"/> d. h. ihren Umschlag ins Widerspiel der Begebenheiten <lb n="pbo_110.013"/> (Aristot. cap. 11. 1452<hi rendition="#sup">a</hi> 23 sq. <foreign xml:lang="grc">ἡ εἰς τὸ ἐναντίον</foreign> <foreign xml:lang="grc">τῶν πραττομένων</foreign> <lb n="pbo_110.014"/> <foreign xml:lang="grc">μεταβολή</foreign>). Man wird nämlich leicht bemerken, daß <lb n="pbo_110.015"/> die Handlung im dramatischen Sinne immer so gebaut ist, <lb n="pbo_110.016"/> daß die im Anfange sich gut anlassende schließlich ihr Widerspiel <lb n="pbo_110.017"/> ins Schlechte erfährt, und umgekehrt anfängliche Trübsal <lb n="pbo_110.018"/> sich am Schlusse glücklich ausgleicht. Grade dadurch wird <lb n="pbo_110.019"/> der für fremde Schicksale notwendige, gleichsam materielle <lb n="pbo_110.020"/> Anteil (die <hi rendition="#g">Spannung</hi>) gesichert und diejenigen Handlungen, <lb n="pbo_110.021"/> die in diesem Sinne der Peripetie entbehren (Aristoteles' <hi rendition="#g">einfache</hi> <lb n="pbo_110.022"/> Handlungen im Gegensatz zu den <hi rendition="#g">verwickelten</hi> mit <lb n="pbo_110.023"/> Peripetie) werden nicht diesen besonderen dramatischen Eindruck <lb n="pbo_110.024"/> machen. (Sophokles' Oedipus in Kolonos).</p> <p><lb n="pbo_110.025"/> Die Peripetie ist besonders eindringlich, wenn in ihr die <lb n="pbo_110.026"/> Personen der Handlung ganz sicher auf dem Punkte zu stehen <lb n="pbo_110.027"/> meinen, wo sich ihr Geschick ins Gute beziehungsweise ins <lb n="pbo_110.028"/> Schlimme wenden muß, während der Zuschauer aus den angesponnenen <lb n="pbo_110.029"/> Fäden das Gegenteil unabwendbar herankommen <lb n="pbo_110.030"/> sieht. So hat Aristoteles schon das Beispiel des Oedipus </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [110/0114]
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§ 72. Dramatische Komposition. pbo_110.002
Das Jnteresse muß nach Stärke und Umfang zusammengehalten pbo_110.003
werden: es darf nicht geschwächt, es darf nicht verzettelt pbo_110.004
werden. Diesem Zwecke dient das entschiedene, durch pbo_110.005
keine Abschweifungen aufgehaltene Hinaufführen der Handlung pbo_110.006
auf ihren natürlichen Höhepunkt, auf dem die in ihr pbo_110.007
zum Ausdruck gelangenden persönlichen Gegensätze voll aufeinanderprallen pbo_110.008
und so den geforderten Abschluß der Handlung pbo_110.009
in einem auffallenden Ereignis (sei es des Hasses oder der pbo_110.010
Liebe: Tod oder Versöhnung) notwendig herbeiführen. Man pbo_110.011
nennt diesen Höhepunkt der Handlung nach Aristoteles Peripetie, pbo_110.012
d. h. ihren Umschlag ins Widerspiel der Begebenheiten pbo_110.013
(Aristot. cap. 11. 1452a 23 sq. ἡ εἰς τὸ ἐναντίον τῶν πραττομένων pbo_110.014
μεταβολή). Man wird nämlich leicht bemerken, daß pbo_110.015
die Handlung im dramatischen Sinne immer so gebaut ist, pbo_110.016
daß die im Anfange sich gut anlassende schließlich ihr Widerspiel pbo_110.017
ins Schlechte erfährt, und umgekehrt anfängliche Trübsal pbo_110.018
sich am Schlusse glücklich ausgleicht. Grade dadurch wird pbo_110.019
der für fremde Schicksale notwendige, gleichsam materielle pbo_110.020
Anteil (die Spannung) gesichert und diejenigen Handlungen, pbo_110.021
die in diesem Sinne der Peripetie entbehren (Aristoteles' einfache pbo_110.022
Handlungen im Gegensatz zu den verwickelten mit pbo_110.023
Peripetie) werden nicht diesen besonderen dramatischen Eindruck pbo_110.024
machen. (Sophokles' Oedipus in Kolonos).
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Die Peripetie ist besonders eindringlich, wenn in ihr die pbo_110.026
Personen der Handlung ganz sicher auf dem Punkte zu stehen pbo_110.027
meinen, wo sich ihr Geschick ins Gute beziehungsweise ins pbo_110.028
Schlimme wenden muß, während der Zuschauer aus den angesponnenen pbo_110.029
Fäden das Gegenteil unabwendbar herankommen pbo_110.030
sieht. So hat Aristoteles schon das Beispiel des Oedipus
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