Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895.pbo_118.001 § 78. Das bürgerliche Trauerspiel. pbo_118.009 pbo_118.001 § 78. Das bürgerliche Trauerspiel. pbo_118.009 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0122" n="118"/><lb n="pbo_118.001"/> poetisch ist es, wenn die sittliche Macht des Helden sich selbst <lb n="pbo_118.002"/> rechtfertigt oder ihre rein menschlichen Helfer in Freundschaft <lb n="pbo_118.003"/> und Liebe wachruft. Derartige verklärte Gebilde hat auch am <lb n="pbo_118.004"/> vollkommensten Shakespeare geschaffen (Wintermärchen, Cymbeline, <lb n="pbo_118.005"/> Sturm). Daß sie auch in der Oper zu ihrem Rechte <lb n="pbo_118.006"/> gelangen können, beweist Beethovens überschwänglich herrlicher <lb n="pbo_118.007"/> „Fidelio“.</p> <lb n="pbo_118.008"/> </div> <div n="4"> <head> <hi rendition="#c">§ 78. Das bürgerliche Trauerspiel.</hi> </head> <p><lb n="pbo_118.009"/> Mit der Verflüchtigung der dramatischen Spiele zur täglich <lb n="pbo_118.010"/> gewohnten Zerstreuung und Unterhaltung breiter Volksmassen <lb n="pbo_118.011"/> muß die Tragödie natürlich viel von ihrer spezifischen <lb n="pbo_118.012"/> Würde, ihrer gewissermassen transszendentalen Haltung in der <lb n="pbo_118.013"/> Behandlung der menschlichen Geschicke einbüßen. Das Alltägliche <lb n="pbo_118.014"/> mit seinen gewöhnlichen Gestalten und kleinlichen Verwicklungen, <lb n="pbo_118.015"/> mit einer die Neugier oder das Tagesinteresse <lb n="pbo_118.016"/> anlockenden (sensationellen oder aktuellen) Spitze wird hier <lb n="pbo_118.017"/> zum Vorwurf des Dramas. Daß der idealere Boden des <lb n="pbo_118.018"/> Mythos, den das antike Drama immer wieder neu zu gestalten <lb n="pbo_118.019"/> liebte, oder der historischen Begebenheit verlassen wird, würde <lb n="pbo_118.020"/> diese dramatische Gattung noch nicht so sehr von der Tragödie <lb n="pbo_118.021"/> scheiden. Als das sogenannte „<hi rendition="#g">bürgerliche Trauerspiel</hi>“ <lb n="pbo_118.022"/> im vorigen Jahrhundert unter dem Einfluß der demokratischen <lb n="pbo_118.023"/> Revolutionsbewegung einsetzte, verband man (Diderot und <lb n="pbo_118.024"/> Lessing) damit die höchsten dramatischen Absichten, die unsere <lb n="pbo_118.025"/> Klassiker zum Teil bewährten (Lessings „Miß Sarah Sampson“ <lb n="pbo_118.026"/> und „Emilia Galotti“; Goethes „Clavigo“, Stella“; Schillers <lb n="pbo_118.027"/> „Cabale und Liebe“). Das äußerliche gesellschaftliche Verhältnis, <lb n="pbo_118.028"/> das den mythologischen und historischen Helden hebt, <lb n="pbo_118.029"/> macht ihn noch nicht zum <hi rendition="#g">tragischen Helden.</hi> Was ihn <lb n="pbo_118.030"/> zum tragischen Helden macht, ist sein eigentümliches Verhältnis </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [118/0122]
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poetisch ist es, wenn die sittliche Macht des Helden sich selbst pbo_118.002
rechtfertigt oder ihre rein menschlichen Helfer in Freundschaft pbo_118.003
und Liebe wachruft. Derartige verklärte Gebilde hat auch am pbo_118.004
vollkommensten Shakespeare geschaffen (Wintermärchen, Cymbeline, pbo_118.005
Sturm). Daß sie auch in der Oper zu ihrem Rechte pbo_118.006
gelangen können, beweist Beethovens überschwänglich herrlicher pbo_118.007
„Fidelio“.
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§ 78. Das bürgerliche Trauerspiel. pbo_118.009
Mit der Verflüchtigung der dramatischen Spiele zur täglich pbo_118.010
gewohnten Zerstreuung und Unterhaltung breiter Volksmassen pbo_118.011
muß die Tragödie natürlich viel von ihrer spezifischen pbo_118.012
Würde, ihrer gewissermassen transszendentalen Haltung in der pbo_118.013
Behandlung der menschlichen Geschicke einbüßen. Das Alltägliche pbo_118.014
mit seinen gewöhnlichen Gestalten und kleinlichen Verwicklungen, pbo_118.015
mit einer die Neugier oder das Tagesinteresse pbo_118.016
anlockenden (sensationellen oder aktuellen) Spitze wird hier pbo_118.017
zum Vorwurf des Dramas. Daß der idealere Boden des pbo_118.018
Mythos, den das antike Drama immer wieder neu zu gestalten pbo_118.019
liebte, oder der historischen Begebenheit verlassen wird, würde pbo_118.020
diese dramatische Gattung noch nicht so sehr von der Tragödie pbo_118.021
scheiden. Als das sogenannte „bürgerliche Trauerspiel“ pbo_118.022
im vorigen Jahrhundert unter dem Einfluß der demokratischen pbo_118.023
Revolutionsbewegung einsetzte, verband man (Diderot und pbo_118.024
Lessing) damit die höchsten dramatischen Absichten, die unsere pbo_118.025
Klassiker zum Teil bewährten (Lessings „Miß Sarah Sampson“ pbo_118.026
und „Emilia Galotti“; Goethes „Clavigo“, Stella“; Schillers pbo_118.027
„Cabale und Liebe“). Das äußerliche gesellschaftliche Verhältnis, pbo_118.028
das den mythologischen und historischen Helden hebt, pbo_118.029
macht ihn noch nicht zum tragischen Helden. Was ihn pbo_118.030
zum tragischen Helden macht, ist sein eigentümliches Verhältnis
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