Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895.pbo_123.001 § 84. Epische Technik. pbo_123.018 pbo_123.001 § 84. Epische Technik. pbo_123.018 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0127" n="123"/><lb n="pbo_123.001"/> versicherte sein gläubiges Publikum, daß er die Begebenheit <lb n="pbo_123.002"/> in einem Buche so gefunden oder noch besser von einem <lb n="pbo_123.003"/> Gewährsmann, Augenzeugen so gehört. Aber schon der <lb n="pbo_123.004"/> freier seines poetischen Amtes waltende Heldensang bezieht sich <lb n="pbo_123.005"/> nur im allgemeinen auf „alte Mären“, und gar der antike, <lb n="pbo_123.006"/> seines poetischen Rechts bewußte Sänger ruft die Göttin der <lb n="pbo_123.007"/> Einbildungskraft, die <hi rendition="#g">Muse,</hi> an, daß sie ihn durch bloße <lb n="pbo_123.008"/> Eingebung über die Geschichte seines Helden erleuchte. Diese <lb n="pbo_123.009"/> Anrufung der Muse (invocatio) ist mit mannigfacher Variation <lb n="pbo_123.010"/> des Bezugs (auf die christliche Gottheit) von der auf die <lb n="pbo_123.011"/> antike Kunst zurückgreifenden Geistesbewegung, der Renaissance, <lb n="pbo_123.012"/> wieder aufgenommen worden. Aeußerlich den Verhältnissen <lb n="pbo_123.013"/> der Neuzeit und dem Glauben der Dichter nicht recht entsprechend, <lb n="pbo_123.014"/> im Kerne aber die epische Tradition, das Anrecht <lb n="pbo_123.015"/> des Dichters auf poetische Ausgestaltung seines Stoffes von <lb n="pbo_123.016"/> vornherein wahrend.</p> <lb n="pbo_123.017"/> </div> <div n="4"> <head> <hi rendition="#c">§ 84. Epische Technik.</hi> </head> <p><lb n="pbo_123.018"/> Die Ausgestaltung des Stoffes wird begreiflicherweise <lb n="pbo_123.019"/> schon im rein technischen Verstande wesentlich anders ausfallen <lb n="pbo_123.020"/> müssen als im Drama. Wo der Dramatiker unter allen Umständen, <lb n="pbo_123.021"/> selbst wenn er seine Bühne noch so fern von aller <lb n="pbo_123.022"/> Rücksicht auf das wirkliche Theater in die Luft hineinbaut, <lb n="pbo_123.023"/> immer das feste, scenisch abgegrenzte Bühnenbild vor die <lb n="pbo_123.024"/> Augen führt, hat der epische Dichter den freien, alles verknüpfenden <lb n="pbo_123.025"/> Raum unserer selbstthätigen Phantasie zur Verfügung. <lb n="pbo_123.026"/> Er wird daher ganz anders mit ihm schalten können <lb n="pbo_123.027"/> ohne Rücksicht auf Scenen, die er mit einander zu verbinden <lb n="pbo_123.028"/> hat, ohne Bedenken, woher er die Personen einzuführen und <lb n="pbo_123.029"/> wohin er sie abtreten zu lassen habe, ohne stete Beziehung <lb n="pbo_123.030"/> seines Vorwurfs auf das abgesteckte Teilchen Raum und Zeit, </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [123/0127]
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versicherte sein gläubiges Publikum, daß er die Begebenheit pbo_123.002
in einem Buche so gefunden oder noch besser von einem pbo_123.003
Gewährsmann, Augenzeugen so gehört. Aber schon der pbo_123.004
freier seines poetischen Amtes waltende Heldensang bezieht sich pbo_123.005
nur im allgemeinen auf „alte Mären“, und gar der antike, pbo_123.006
seines poetischen Rechts bewußte Sänger ruft die Göttin der pbo_123.007
Einbildungskraft, die Muse, an, daß sie ihn durch bloße pbo_123.008
Eingebung über die Geschichte seines Helden erleuchte. Diese pbo_123.009
Anrufung der Muse (invocatio) ist mit mannigfacher Variation pbo_123.010
des Bezugs (auf die christliche Gottheit) von der auf die pbo_123.011
antike Kunst zurückgreifenden Geistesbewegung, der Renaissance, pbo_123.012
wieder aufgenommen worden. Aeußerlich den Verhältnissen pbo_123.013
der Neuzeit und dem Glauben der Dichter nicht recht entsprechend, pbo_123.014
im Kerne aber die epische Tradition, das Anrecht pbo_123.015
des Dichters auf poetische Ausgestaltung seines Stoffes von pbo_123.016
vornherein wahrend.
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Die Ausgestaltung des Stoffes wird begreiflicherweise pbo_123.019
schon im rein technischen Verstande wesentlich anders ausfallen pbo_123.020
müssen als im Drama. Wo der Dramatiker unter allen Umständen, pbo_123.021
selbst wenn er seine Bühne noch so fern von aller pbo_123.022
Rücksicht auf das wirkliche Theater in die Luft hineinbaut, pbo_123.023
immer das feste, scenisch abgegrenzte Bühnenbild vor die pbo_123.024
Augen führt, hat der epische Dichter den freien, alles verknüpfenden pbo_123.025
Raum unserer selbstthätigen Phantasie zur Verfügung. pbo_123.026
Er wird daher ganz anders mit ihm schalten können pbo_123.027
ohne Rücksicht auf Scenen, die er mit einander zu verbinden pbo_123.028
hat, ohne Bedenken, woher er die Personen einzuführen und pbo_123.029
wohin er sie abtreten zu lassen habe, ohne stete Beziehung pbo_123.030
seines Vorwurfs auf das abgesteckte Teilchen Raum und Zeit,
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