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Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895.

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das ihm die Bühne dafür zur Verfügung stellt. Es ist daher pbo_124.002
auch meist ein epischer Zug (wie in Shakespeares historischen pbo_124.003
Stücken, Goethes Goetz und Faust), der den Dichter dazu pbo_124.004
antreibt, im Drama die bühnengerechte Form zu sprengen; pbo_124.005
wobei wir freilich bei Shakespeares kaleidoskopischem Scenenwechsel pbo_124.006
die völlig kahle, dekorationslose Bühne seiner Zeit zu pbo_124.007
berücksichtigen haben. Aristoteles fordert zwar vom Drama, pbo_124.008
daß es auch gelesen oder episch (von Einzelnen) vorgetragen pbo_124.009
seinen Eindruck mache. Aber mit dieser Forderung, die das pbo_124.010
dekorative und schauspielerische Effektstück ("Spektakelstück") pbo_124.011
ablehnt, hat er nicht hilflose Dramenschmiede ermuntert, die ohne pbo_124.012
Gefühl oder Fähigkeit für die Gesetze des Dramas lediglich pbo_124.013
unaufführbare poetische Zwitter in dramatischer Form (Buch- pbo_124.014
oder Lesedrama) liefern.

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Der epische Dichter darf also weit unbesorgter sich dem pbo_124.016
poetischen Formungstriebe an sich hingeben, weit freier vom pbo_124.017
geraden Wege der Handlung abschweifen, weit leichter die pbo_124.018
Folge seiner Bilder, die nun nicht mehr feste Scenen sind, pbo_124.019
sondern in einander übergehen, durcheinander schieben. Keine pbo_124.020
äußere Fessel bindet ihn. Die Probe auf diese epische Freiheit pbo_124.021
giebt das Auftreten der Romanze, gleichsam eines pbo_124.022
herausgesprengten Teilchens aus einem epischen Ganzen (wie pbo_124.023
der spanische Romanzencyklus vom Cid, den Herder verdeutscht pbo_124.024
hat*). Wie wir in der Ballade den lyrischen Ansatz zum pbo_124.025
Drama fanden, so sehen wir hier in der Romanze das Zurückgehen pbo_124.026
des Epos in den Kreis des lyrischen Sängers. pbo_124.027
(Schillers Romanze vom Grafen von Habsburg**). Und pbo_124.028
beides, Ansatz zum Drama, wie Bestand des Epos, enthält

*) pbo_124.029
Vergl. Sammlung Göschen Nr. 36. Herders Cid.
**) pbo_124.030
Obwohl ursprünglich als "Ballade" bezeichnet. Nur "Der Kampf pbo_124.031
mit dem Drachen" trägt von Schiller selbst die Bezeichnung "Romanze".

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das ihm die Bühne dafür zur Verfügung stellt. Es ist daher pbo_124.002
auch meist ein epischer Zug (wie in Shakespeares historischen pbo_124.003
Stücken, Goethes Goetz und Faust), der den Dichter dazu pbo_124.004
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die völlig kahle, dekorationslose Bühne seiner Zeit zu pbo_124.007
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seinen Eindruck mache. Aber mit dieser Forderung, die das pbo_124.010
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ablehnt, hat er nicht hilflose Dramenschmiede ermuntert, die ohne pbo_124.012
Gefühl oder Fähigkeit für die Gesetze des Dramas lediglich pbo_124.013
unaufführbare poetische Zwitter in dramatischer Form (Buch- pbo_124.014
oder Lesedrama) liefern.

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Der epische Dichter darf also weit unbesorgter sich dem pbo_124.016
poetischen Formungstriebe an sich hingeben, weit freier vom pbo_124.017
geraden Wege der Handlung abschweifen, weit leichter die pbo_124.018
Folge seiner Bilder, die nun nicht mehr feste Scenen sind, pbo_124.019
sondern in einander übergehen, durcheinander schieben. Keine pbo_124.020
äußere Fessel bindet ihn. Die Probe auf diese epische Freiheit pbo_124.021
giebt das Auftreten der Romanze, gleichsam eines pbo_124.022
herausgesprengten Teilchens aus einem epischen Ganzen (wie pbo_124.023
der spanische Romanzencyklus vom Cid, den Herder verdeutscht pbo_124.024
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Drama fanden, so sehen wir hier in der Romanze das Zurückgehen pbo_124.026
des Epos in den Kreis des lyrischen Sängers. pbo_124.027
(Schillers Romanze vom Grafen von Habsburg**). Und pbo_124.028
beides, Ansatz zum Drama, wie Bestand des Epos, enthält

*) pbo_124.029
Vergl. Sammlung Göschen Nr. 36. Herders Cid.
**) pbo_124.030
Obwohl ursprünglich als „Ballade“ bezeichnet. Nur „Der Kampf pbo_124.031
mit dem Drachen“ trägt von Schiller selbst die Bezeichnung „Romanze“.
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[124/0128] pbo_124.001 das ihm die Bühne dafür zur Verfügung stellt. Es ist daher pbo_124.002 auch meist ein epischer Zug (wie in Shakespeares historischen pbo_124.003 Stücken, Goethes Goetz und Faust), der den Dichter dazu pbo_124.004 antreibt, im Drama die bühnengerechte Form zu sprengen; pbo_124.005 wobei wir freilich bei Shakespeares kaleidoskopischem Scenenwechsel pbo_124.006 die völlig kahle, dekorationslose Bühne seiner Zeit zu pbo_124.007 berücksichtigen haben. Aristoteles fordert zwar vom Drama, pbo_124.008 daß es auch gelesen oder episch (von Einzelnen) vorgetragen pbo_124.009 seinen Eindruck mache. Aber mit dieser Forderung, die das pbo_124.010 dekorative und schauspielerische Effektstück („Spektakelstück“) pbo_124.011 ablehnt, hat er nicht hilflose Dramenschmiede ermuntert, die ohne pbo_124.012 Gefühl oder Fähigkeit für die Gesetze des Dramas lediglich pbo_124.013 unaufführbare poetische Zwitter in dramatischer Form (Buch- pbo_124.014 oder Lesedrama) liefern. pbo_124.015 Der epische Dichter darf also weit unbesorgter sich dem pbo_124.016 poetischen Formungstriebe an sich hingeben, weit freier vom pbo_124.017 geraden Wege der Handlung abschweifen, weit leichter die pbo_124.018 Folge seiner Bilder, die nun nicht mehr feste Scenen sind, pbo_124.019 sondern in einander übergehen, durcheinander schieben. Keine pbo_124.020 äußere Fessel bindet ihn. Die Probe auf diese epische Freiheit pbo_124.021 giebt das Auftreten der Romanze, gleichsam eines pbo_124.022 herausgesprengten Teilchens aus einem epischen Ganzen (wie pbo_124.023 der spanische Romanzencyklus vom Cid, den Herder verdeutscht pbo_124.024 hat *). Wie wir in der Ballade den lyrischen Ansatz zum pbo_124.025 Drama fanden, so sehen wir hier in der Romanze das Zurückgehen pbo_124.026 des Epos in den Kreis des lyrischen Sängers. pbo_124.027 (Schillers Romanze vom Grafen von Habsburg **). Und pbo_124.028 beides, Ansatz zum Drama, wie Bestand des Epos, enthält *) pbo_124.029 Vergl. Sammlung Göschen Nr. 36. Herders Cid. **) pbo_124.030 Obwohl ursprünglich als „Ballade“ bezeichnet. Nur „Der Kampf pbo_124.031 mit dem Drachen“ trägt von Schiller selbst die Bezeichnung „Romanze“.

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Zitationshilfe: Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895, S. 124. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/borinski_poetik_1895/128>, abgerufen am 12.11.2024.