Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895.pbo_137.001 pbo_137.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0141" n="137"/><lb n="pbo_137.001"/> Das rein stoffliche Unterhaltungsbedürfnis der Menge, <lb n="pbo_137.002"/> das sich früher lediglich am Leben genugthat, hat in unseren <lb n="pbo_137.003"/> abstrakten Lebensverhältnissen durch die gütige Vermittlung <lb n="pbo_137.004"/> der Buchdruckerkunst hier seine Rechnung gefunden, die nun <lb n="pbo_137.005"/> schon seit drei Jahrhunderten Myriaden von Fabrikanten ganz <lb n="pbo_137.006"/> geschäftsmäßig ausnutzen. So wenig dagegen im gesellschaftlichen <lb n="pbo_137.007"/> Sinne zu sagen ist (wenn nicht eben öffentliches Aergernis <lb n="pbo_137.008"/> dabei in irgendwelchem Sinne die Polizei einzuschreiten <lb n="pbo_137.009"/> zwingt, was unter eine ganz andere Rubrik der Betrachtung <lb n="pbo_137.010"/> fällt), so sehr ist es vom poetischen Standpunkt aus zu beklagen, <lb n="pbo_137.011"/> daß dadurch der in dieser Welt allzeit hart bedrängten Poesie <lb n="pbo_137.012"/> in unserer Zeit das Dasein noch mehr verkümmert wird, als <lb n="pbo_137.013"/> gewöhnlich. Die Aufnahmefähigkeit des Publikums leidet <lb n="pbo_137.014"/> unter der übermäßigen Quantität des absolut Unpoetischen <lb n="pbo_137.015"/> und Widerpoetischen, das der Roman in Vertrieb bringt, nicht <lb n="pbo_137.016"/> bloß im rein ökonomischen Bezuge. Auch der <hi rendition="#g">Sinn</hi> für das <lb n="pbo_137.017"/> Poetische muß geradezu abgestumpft werden, dadurch, daß <lb n="pbo_137.018"/> jahraus, jahrein diese Köder der Phantasie hinuntergeschlungen <lb n="pbo_137.019"/> werden, welche die gemeinen Voraussetzungen und Erfahrungen <lb n="pbo_137.020"/> der Menge, ihre stumpfen Anschauungen von Pflicht und Verdienst, <lb n="pbo_137.021"/> ihre alberne Gier nach äußeren Glücksumständen, ihre <lb n="pbo_137.022"/> grausame Freude am Schrecklichen und Verbrecherischen in der <lb n="pbo_137.023"/> Form bunter Jllusionen und spannender Situationen dem <lb n="pbo_137.024"/> Publikum auftischen. Dieses unterscheidet sich hier bald nicht <lb n="pbo_137.025"/> mehr nach Rang, Stand und Bildung. Der Roman ist ein <lb n="pbo_137.026"/> nivellierender Faktor in unserer demokratischen Zeit, zumal <lb n="pbo_137.027"/> seitdem die Zeitung den Roman unter ihre ständigen Hilfstruppen <lb n="pbo_137.028"/> zur Vertreibung der Langeweile („unter dem Strich“) <lb n="pbo_137.029"/> eingestellt hat. Wie derselbe Ton der Unterhaltung hier dem <lb n="pbo_137.030"/> Salon und der Gesindestube genügt (bald der letzteren noch <lb n="pbo_137.031"/> der gewähltere), so kann es nicht fehlen, daß auch der höherstehende </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [137/0141]
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Das rein stoffliche Unterhaltungsbedürfnis der Menge, pbo_137.002
das sich früher lediglich am Leben genugthat, hat in unseren pbo_137.003
abstrakten Lebensverhältnissen durch die gütige Vermittlung pbo_137.004
der Buchdruckerkunst hier seine Rechnung gefunden, die nun pbo_137.005
schon seit drei Jahrhunderten Myriaden von Fabrikanten ganz pbo_137.006
geschäftsmäßig ausnutzen. So wenig dagegen im gesellschaftlichen pbo_137.007
Sinne zu sagen ist (wenn nicht eben öffentliches Aergernis pbo_137.008
dabei in irgendwelchem Sinne die Polizei einzuschreiten pbo_137.009
zwingt, was unter eine ganz andere Rubrik der Betrachtung pbo_137.010
fällt), so sehr ist es vom poetischen Standpunkt aus zu beklagen, pbo_137.011
daß dadurch der in dieser Welt allzeit hart bedrängten Poesie pbo_137.012
in unserer Zeit das Dasein noch mehr verkümmert wird, als pbo_137.013
gewöhnlich. Die Aufnahmefähigkeit des Publikums leidet pbo_137.014
unter der übermäßigen Quantität des absolut Unpoetischen pbo_137.015
und Widerpoetischen, das der Roman in Vertrieb bringt, nicht pbo_137.016
bloß im rein ökonomischen Bezuge. Auch der Sinn für das pbo_137.017
Poetische muß geradezu abgestumpft werden, dadurch, daß pbo_137.018
jahraus, jahrein diese Köder der Phantasie hinuntergeschlungen pbo_137.019
werden, welche die gemeinen Voraussetzungen und Erfahrungen pbo_137.020
der Menge, ihre stumpfen Anschauungen von Pflicht und Verdienst, pbo_137.021
ihre alberne Gier nach äußeren Glücksumständen, ihre pbo_137.022
grausame Freude am Schrecklichen und Verbrecherischen in der pbo_137.023
Form bunter Jllusionen und spannender Situationen dem pbo_137.024
Publikum auftischen. Dieses unterscheidet sich hier bald nicht pbo_137.025
mehr nach Rang, Stand und Bildung. Der Roman ist ein pbo_137.026
nivellierender Faktor in unserer demokratischen Zeit, zumal pbo_137.027
seitdem die Zeitung den Roman unter ihre ständigen Hilfstruppen pbo_137.028
zur Vertreibung der Langeweile („unter dem Strich“) pbo_137.029
eingestellt hat. Wie derselbe Ton der Unterhaltung hier dem pbo_137.030
Salon und der Gesindestube genügt (bald der letzteren noch pbo_137.031
der gewähltere), so kann es nicht fehlen, daß auch der höherstehende
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