Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895.

Bild:
<< vorherige Seite

pbo_136.001
zögernd ihr Anliegen vor, und Federigo ist nun vernichtet. pbo_136.002
Thränen entstürzen seinen Augen. Er hat sich des Letzten pbo_136.003
beraubt, was er der Geliebten hätte zuliebe thun können. pbo_136.004
Giovanna, die zuerst glaubt, daß der Schmerz, sich von dem pbo_136.005
Falken trennen zu sollen, ihm die Thränen entlockt, ist von pbo_136.006
dem Sachverhalt aufs tiefste gerührt. Als das Söhnchen pbo_136.007
wirklich stirbt und die Brüder in die reiche Witwe dringen, pbo_136.008
sich wieder zu verheiraten, reicht sie nur dem Manne, der pbo_136.009
sein Letztes für sie hingegeben hat, ihre Hand. Denn wie sie pbo_136.010
den Einwürfen der Brüder über seine Bettelarmut entgegenhält: pbo_136.011
"Jch will lieber einen Mann, der den Reichtum nötig pbo_136.012
hat, als Reichtum, der einen Mann nötig hat."

pbo_136.013
§ 96. Poetisch herabziehende Tendenz des Romans.

pbo_136.014
Ja, der Roman rivalisiert hierbei schon mit den ganz pbo_136.015
auf prosaischem Boden stehenden Wissenschaften, zumal denen pbo_136.016
der Menschenkunde im weitesten Sinne, der Geschichte, der pbo_136.017
Psychologie, der Aesthetik und Kunstwissenschaft, um hier den pbo_136.018
philosophischeren Standpunkt der Poesie, das philosophoteron pbo_136.019
und kath' olou des Aristoteles (Poet. cap. 9), das in die pbo_136.020
inneren Tiefen und wahren Verhältnisse der Stoffe einführt, pbo_136.021
zur Geltung zu bringen. Wie kläglich er hierbei als historischer pbo_136.022
Roman, Künstlerroman
und namentlich in allerneuester pbo_136.023
Zeit als Seelen-(krankheits)-gemälde oft den bezüglichen pbo_136.024
Wissenschaften ins Handwerk pfuscht, kann freilich nicht pbo_136.025
unbemerkt bleiben.

pbo_136.026
Es liegt im Roman, das kann nicht verschwiegen werden pbo_136.027
und erhellt aus seiner ganzen Stellung innerhalb der Poetik, eine pbo_136.028
herabziehende Tendenz, die, sobald ihr der überlegene Standpunkt pbo_136.029
des Poeten mangelt, das so eigentümlich auf den pbo_136.030
prosaischen Grund gebaute Werk noch unter die Prosa hinabzieht.

pbo_136.001
zögernd ihr Anliegen vor, und Federigo ist nun vernichtet. pbo_136.002
Thränen entstürzen seinen Augen. Er hat sich des Letzten pbo_136.003
beraubt, was er der Geliebten hätte zuliebe thun können. pbo_136.004
Giovanna, die zuerst glaubt, daß der Schmerz, sich von dem pbo_136.005
Falken trennen zu sollen, ihm die Thränen entlockt, ist von pbo_136.006
dem Sachverhalt aufs tiefste gerührt. Als das Söhnchen pbo_136.007
wirklich stirbt und die Brüder in die reiche Witwe dringen, pbo_136.008
sich wieder zu verheiraten, reicht sie nur dem Manne, der pbo_136.009
sein Letztes für sie hingegeben hat, ihre Hand. Denn wie sie pbo_136.010
den Einwürfen der Brüder über seine Bettelarmut entgegenhält: pbo_136.011
„Jch will lieber einen Mann, der den Reichtum nötig pbo_136.012
hat, als Reichtum, der einen Mann nötig hat.“

pbo_136.013
§ 96. Poetisch herabziehende Tendenz des Romans.

pbo_136.014
Ja, der Roman rivalisiert hierbei schon mit den ganz pbo_136.015
auf prosaischem Boden stehenden Wissenschaften, zumal denen pbo_136.016
der Menschenkunde im weitesten Sinne, der Geschichte, der pbo_136.017
Psychologie, der Aesthetik und Kunstwissenschaft, um hier den pbo_136.018
philosophischeren Standpunkt der Poesie, das φιλοσοφώτερον pbo_136.019
und καθ' ὅλου des Aristoteles (Poet. cap. 9), das in die pbo_136.020
inneren Tiefen und wahren Verhältnisse der Stoffe einführt, pbo_136.021
zur Geltung zu bringen. Wie kläglich er hierbei als historischer pbo_136.022
Roman, Künstlerroman
und namentlich in allerneuester pbo_136.023
Zeit als Seelen-(krankheits)-gemälde oft den bezüglichen pbo_136.024
Wissenschaften ins Handwerk pfuscht, kann freilich nicht pbo_136.025
unbemerkt bleiben.

pbo_136.026
Es liegt im Roman, das kann nicht verschwiegen werden pbo_136.027
und erhellt aus seiner ganzen Stellung innerhalb der Poetik, eine pbo_136.028
herabziehende Tendenz, die, sobald ihr der überlegene Standpunkt pbo_136.029
des Poeten mangelt, das so eigentümlich auf den pbo_136.030
prosaischen Grund gebaute Werk noch unter die Prosa hinabzieht.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0140" n="136"/><lb n="pbo_136.001"/>
zögernd ihr Anliegen vor, und Federigo ist nun vernichtet. <lb n="pbo_136.002"/>
Thränen entstürzen seinen Augen. Er hat sich des Letzten <lb n="pbo_136.003"/>
beraubt, was er der Geliebten hätte zuliebe thun können. <lb n="pbo_136.004"/>
Giovanna, die zuerst glaubt, daß der Schmerz, sich von dem <lb n="pbo_136.005"/>
Falken trennen zu sollen, ihm die Thränen entlockt, ist von <lb n="pbo_136.006"/>
dem Sachverhalt aufs tiefste gerührt. Als das Söhnchen <lb n="pbo_136.007"/>
wirklich stirbt und die Brüder in die reiche Witwe dringen, <lb n="pbo_136.008"/>
sich wieder zu verheiraten, reicht sie nur dem Manne, der <lb n="pbo_136.009"/>
sein Letztes für sie hingegeben hat, ihre Hand. Denn wie sie <lb n="pbo_136.010"/>
den Einwürfen der Brüder über seine Bettelarmut entgegenhält: <lb n="pbo_136.011"/>
&#x201E;Jch will lieber einen Mann, der den Reichtum nötig <lb n="pbo_136.012"/>
hat, als Reichtum, der einen Mann nötig hat.&#x201C;</p>
              <lb n="pbo_136.013"/>
            </div>
            <div n="4">
              <head> <hi rendition="#c">§ 96. Poetisch herabziehende Tendenz des Romans.</hi> </head>
              <p><lb n="pbo_136.014"/>
Ja, der Roman rivalisiert hierbei schon mit den ganz <lb n="pbo_136.015"/>
auf prosaischem Boden stehenden Wissenschaften, zumal denen <lb n="pbo_136.016"/>
der Menschenkunde im weitesten Sinne, der Geschichte, der <lb n="pbo_136.017"/>
Psychologie, der Aesthetik und Kunstwissenschaft, um hier den <lb n="pbo_136.018"/>
philosophischeren Standpunkt der Poesie, das <foreign xml:lang="grc">&#x03C6;&#x03B9;&#x03BB;&#x03BF;&#x03C3;&#x03BF;&#x03C6;&#x03CE;&#x03C4;&#x03B5;&#x03C1;&#x03BF;&#x03BD;</foreign> <lb n="pbo_136.019"/>
und <foreign xml:lang="grc">&#x03BA;&#x03B1;&#x03B8;' &#x1F45;&#x03BB;&#x03BF;&#x03C5;</foreign> des Aristoteles (Poet. cap. 9), das in die <lb n="pbo_136.020"/>
inneren Tiefen und wahren Verhältnisse der Stoffe einführt, <lb n="pbo_136.021"/>
zur Geltung zu bringen. Wie kläglich er hierbei als <hi rendition="#g">historischer <lb n="pbo_136.022"/>
Roman, Künstlerroman</hi> und namentlich in allerneuester <lb n="pbo_136.023"/>
Zeit als Seelen-(krankheits)-gemälde oft den bezüglichen <lb n="pbo_136.024"/>
Wissenschaften ins Handwerk pfuscht, kann freilich nicht <lb n="pbo_136.025"/>
unbemerkt bleiben.</p>
              <p><lb n="pbo_136.026"/>
Es liegt im Roman, das kann nicht verschwiegen werden <lb n="pbo_136.027"/>
und erhellt aus seiner ganzen Stellung innerhalb der Poetik, eine <lb n="pbo_136.028"/>
herabziehende Tendenz, die, sobald ihr der überlegene Standpunkt <lb n="pbo_136.029"/>
des Poeten mangelt, das so eigentümlich auf den <lb n="pbo_136.030"/>
prosaischen Grund gebaute Werk noch <hi rendition="#g">unter</hi> die Prosa hinabzieht.
</p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[136/0140] pbo_136.001 zögernd ihr Anliegen vor, und Federigo ist nun vernichtet. pbo_136.002 Thränen entstürzen seinen Augen. Er hat sich des Letzten pbo_136.003 beraubt, was er der Geliebten hätte zuliebe thun können. pbo_136.004 Giovanna, die zuerst glaubt, daß der Schmerz, sich von dem pbo_136.005 Falken trennen zu sollen, ihm die Thränen entlockt, ist von pbo_136.006 dem Sachverhalt aufs tiefste gerührt. Als das Söhnchen pbo_136.007 wirklich stirbt und die Brüder in die reiche Witwe dringen, pbo_136.008 sich wieder zu verheiraten, reicht sie nur dem Manne, der pbo_136.009 sein Letztes für sie hingegeben hat, ihre Hand. Denn wie sie pbo_136.010 den Einwürfen der Brüder über seine Bettelarmut entgegenhält: pbo_136.011 „Jch will lieber einen Mann, der den Reichtum nötig pbo_136.012 hat, als Reichtum, der einen Mann nötig hat.“ pbo_136.013 § 96. Poetisch herabziehende Tendenz des Romans. pbo_136.014 Ja, der Roman rivalisiert hierbei schon mit den ganz pbo_136.015 auf prosaischem Boden stehenden Wissenschaften, zumal denen pbo_136.016 der Menschenkunde im weitesten Sinne, der Geschichte, der pbo_136.017 Psychologie, der Aesthetik und Kunstwissenschaft, um hier den pbo_136.018 philosophischeren Standpunkt der Poesie, das φιλοσοφώτερον pbo_136.019 und καθ' ὅλου des Aristoteles (Poet. cap. 9), das in die pbo_136.020 inneren Tiefen und wahren Verhältnisse der Stoffe einführt, pbo_136.021 zur Geltung zu bringen. Wie kläglich er hierbei als historischer pbo_136.022 Roman, Künstlerroman und namentlich in allerneuester pbo_136.023 Zeit als Seelen-(krankheits)-gemälde oft den bezüglichen pbo_136.024 Wissenschaften ins Handwerk pfuscht, kann freilich nicht pbo_136.025 unbemerkt bleiben. pbo_136.026 Es liegt im Roman, das kann nicht verschwiegen werden pbo_136.027 und erhellt aus seiner ganzen Stellung innerhalb der Poetik, eine pbo_136.028 herabziehende Tendenz, die, sobald ihr der überlegene Standpunkt pbo_136.029 des Poeten mangelt, das so eigentümlich auf den pbo_136.030 prosaischen Grund gebaute Werk noch unter die Prosa hinabzieht.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: manuell (doppelt erfasst).

Bogensignaturen: nicht übernommen; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): gekennzeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: DTABf-getreu; Zeilenumbrüche markiert: ja;

Hervorhebungen durch Wechsel von Fraktur zu Antiqua: nicht gekennzeichnet




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/borinski_poetik_1895
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/borinski_poetik_1895/140
Zitationshilfe: Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895, S. 136. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/borinski_poetik_1895/140>, abgerufen am 23.11.2024.