Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895.pbo_013.001 pbo_013.017 pbo_013.001 pbo_013.017 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <pb facs="#f0017" n="13"/> <p><lb n="pbo_013.001"/> Rein in geistigem Grunde wurzeln dagegen jene Unterschiede <lb n="pbo_013.002"/> der gesamten Weltauffassung, gleichsam im Habitus <lb n="pbo_013.003"/> der geistigen Erscheinung, der Persönlichkeit, die Schiller mit <lb n="pbo_013.004"/> den Bezeichnungen <hi rendition="#g">naiv</hi> und <hi rendition="#g">sentimentalisch</hi> erschöpft zu <lb n="pbo_013.005"/> haben glaubte. Sie betreffen das unmittelbare Verhältnis <lb n="pbo_013.006"/> des Geistes zum Stoffe seiner Anschauung, der <hi rendition="#g">Natur.</hi> Jm <lb n="pbo_013.007"/> Naiven fühlt sich der Geist eines mit der Natur. Jm Sentimentalischen <lb n="pbo_013.008"/> fühlt er sich mit ihr im Widerstreit. Dort folgt <lb n="pbo_013.009"/> er unbefangen („naiv“) und unangefochten ihren Spuren, um <lb n="pbo_013.010"/> ihre unendliche Mannigfaltigkeit in der Einheit seines gegenständlichen <lb n="pbo_013.011"/> Bewußtseins zum geistigen Bilde (Jdee) zu sammeln. <lb n="pbo_013.012"/> Hier schwingt er sich, von der Natur bedrängt und zurückgeworfen, <lb n="pbo_013.013"/> über sie hinaus; begreift sie nur vermittelst der <lb n="pbo_013.014"/> subjektiven Empfindung („sentiment“), die sie ihm erregt; <lb n="pbo_013.015"/> bringt das geistige Bild (die Jdee) fertig in sie hinein, als <lb n="pbo_013.016"/> unerfüllbares <hi rendition="#g">Jdeal.</hi></p> <p><lb n="pbo_013.017"/> Die Dichtung der alten Völker, namentlich in ihrer kunstmäßigen <lb n="pbo_013.018"/> Vollendung (Klassizität) bei Griechen und Römern <lb n="pbo_013.019"/> zeigt den Typus des Naiven. Die Dichtung der Neueren, <lb n="pbo_013.020"/> die der Natur entfremdet unter verwickelteren, mehr geistigen <lb n="pbo_013.021"/> Verhältnissen stehen, zeigt den Typus des Sentimentalischen. <lb n="pbo_013.022"/> Doch kann der Einzelne selbst unter diesen Umständen den <lb n="pbo_013.023"/> naiven Charakter bewähren und eigentümlich zum Ausdrucke <lb n="pbo_013.024"/> bringen (Goethe), wie wir wiederum auch in der klassischen <lb n="pbo_013.025"/> Dichtung der Alten sentimentalische Persönlichkeiten und Momente <lb n="pbo_013.026"/> nachzuweisen vermögen. Die Bezeichnungen <hi rendition="#g">antik</hi> und <lb n="pbo_013.027"/> <hi rendition="#g">modern, realistisch</hi> und <hi rendition="#g">idealistisch</hi> sind zunächst diesen <lb n="pbo_013.028"/> gegensätzlichen Beziehungen entnommen. Wir werden jedoch <lb n="pbo_013.029"/> bald sehen, wie bei der historischen und systematischen Beurteilung <lb n="pbo_013.030"/> der Dichtung als Kunst diese natürlichen Gegensätze <lb n="pbo_013.031"/> sich zu verschieben, ihre Bezeichnungen unter beliebigen Schlagwörtern <lb n="pbo_013.032"/> einander zu verwischen und auszuschließen suchen.</p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [13/0017]
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Rein in geistigem Grunde wurzeln dagegen jene Unterschiede pbo_013.002
der gesamten Weltauffassung, gleichsam im Habitus pbo_013.003
der geistigen Erscheinung, der Persönlichkeit, die Schiller mit pbo_013.004
den Bezeichnungen naiv und sentimentalisch erschöpft zu pbo_013.005
haben glaubte. Sie betreffen das unmittelbare Verhältnis pbo_013.006
des Geistes zum Stoffe seiner Anschauung, der Natur. Jm pbo_013.007
Naiven fühlt sich der Geist eines mit der Natur. Jm Sentimentalischen pbo_013.008
fühlt er sich mit ihr im Widerstreit. Dort folgt pbo_013.009
er unbefangen („naiv“) und unangefochten ihren Spuren, um pbo_013.010
ihre unendliche Mannigfaltigkeit in der Einheit seines gegenständlichen pbo_013.011
Bewußtseins zum geistigen Bilde (Jdee) zu sammeln. pbo_013.012
Hier schwingt er sich, von der Natur bedrängt und zurückgeworfen, pbo_013.013
über sie hinaus; begreift sie nur vermittelst der pbo_013.014
subjektiven Empfindung („sentiment“), die sie ihm erregt; pbo_013.015
bringt das geistige Bild (die Jdee) fertig in sie hinein, als pbo_013.016
unerfüllbares Jdeal.
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Die Dichtung der alten Völker, namentlich in ihrer kunstmäßigen pbo_013.018
Vollendung (Klassizität) bei Griechen und Römern pbo_013.019
zeigt den Typus des Naiven. Die Dichtung der Neueren, pbo_013.020
die der Natur entfremdet unter verwickelteren, mehr geistigen pbo_013.021
Verhältnissen stehen, zeigt den Typus des Sentimentalischen. pbo_013.022
Doch kann der Einzelne selbst unter diesen Umständen den pbo_013.023
naiven Charakter bewähren und eigentümlich zum Ausdrucke pbo_013.024
bringen (Goethe), wie wir wiederum auch in der klassischen pbo_013.025
Dichtung der Alten sentimentalische Persönlichkeiten und Momente pbo_013.026
nachzuweisen vermögen. Die Bezeichnungen antik und pbo_013.027
modern, realistisch und idealistisch sind zunächst diesen pbo_013.028
gegensätzlichen Beziehungen entnommen. Wir werden jedoch pbo_013.029
bald sehen, wie bei der historischen und systematischen Beurteilung pbo_013.030
der Dichtung als Kunst diese natürlichen Gegensätze pbo_013.031
sich zu verschieben, ihre Bezeichnungen unter beliebigen Schlagwörtern pbo_013.032
einander zu verwischen und auszuschließen suchen.
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