Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895.pbo_019.001 pbo_019.004 pbo_019.020 pbo_019.026 pbo_019.001 pbo_019.004 pbo_019.020 pbo_019.026 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0023" n="19"/><lb n="pbo_019.001"/> unter der sich die Natur dem gewöhnlichen Blicke verbirgt, <lb n="pbo_019.002"/> und zeigt sie in ihrer strahlenden Reinheit und unausdenklichen <lb n="pbo_019.003"/> Tiefe.</p> <p><lb n="pbo_019.004"/> Wir sprechen hier von Kunst in ihrem wahren Begriff <lb n="pbo_019.005"/> und nicht von Künstelei und pedantischem Schulkönnen. Den <lb n="pbo_019.006"/> Widerspruch gegen diese „akademische Kunst“ hatte man im <lb n="pbo_019.007"/> Auge, als man die freien Aeußerungen scheinbar des dichtenden <lb n="pbo_019.008"/> Volksgeistes selber, wie sie aus dem Jugendalter der <lb n="pbo_019.009"/> Völker herüberklingen, als Naturdichtung empfahl. Allein <lb n="pbo_019.010"/> weder die Bibel noch Homer noch gar die nordische Edda <lb n="pbo_019.011"/> oder die deutschen Nibelungen wird man sich, wie die seit <lb n="pbo_019.012"/> einem Jahrhundert darauf gerichtete Forschung immer schärfer <lb n="pbo_019.013"/> erkennt, als bloßes Zufallsprodukt der Laune dichtender Massen <lb n="pbo_019.014"/> („poetischer Zeitalter“) denken können. Es „dichtet sich“ nichts <lb n="pbo_019.015"/> „selber“. Das einfachste Volslied, das unscheinbarste Märchen, <lb n="pbo_019.016"/> die geringfügigste Lokalsage setzt in Entstehung und Ausbildung <lb n="pbo_019.017"/> schon das voraus, was wir Kunst nennen, nämlich <lb n="pbo_019.018"/> den Niederschlag des vorübergehenden einzelnen Geschehens <lb n="pbo_019.019"/> in einer einheitlichen Anschauung.</p> <p><lb n="pbo_019.020"/> Das Einfache, Trockene und dann in bedeutenden Zügen <lb n="pbo_019.021"/> wieder Gewaltsame im Charakter dieser Urkunst rührt und <lb n="pbo_019.022"/> erschüttert uns besonders. Denn wir sehen hier den poetischen <lb n="pbo_019.023"/> Geist im ersten Ansturm voraussetzungslos mit seinem Stoffe <lb n="pbo_019.024"/> ringen und erhalten ein Gefühl von der gewaltigen Erregung <lb n="pbo_019.025"/> und Erhebung des Gemütes, die dazu gehörte.</p> <p><lb n="pbo_019.026"/> Den Blick hierbei kritiklos der Vergleichung halber auf <lb n="pbo_019.027"/> die gegenwärtigen sogenannten „Naturvölker“, die Wilden der <lb n="pbo_019.028"/> barbarischen Weltteile, zu richten, verwirrt und täuscht in den <lb n="pbo_019.029"/> meisten Fällen. Der vorgebliche „Naturzustand“ dieser Völker <lb n="pbo_019.030"/> ist meist ein herabgekommener, an sich niedriger Kulturstand <lb n="pbo_019.031"/> und hat mit der schönen, primitiven Selbstbildung des Kindheitsalters </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [19/0023]
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unter der sich die Natur dem gewöhnlichen Blicke verbirgt, pbo_019.002
und zeigt sie in ihrer strahlenden Reinheit und unausdenklichen pbo_019.003
Tiefe.
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Wir sprechen hier von Kunst in ihrem wahren Begriff pbo_019.005
und nicht von Künstelei und pedantischem Schulkönnen. Den pbo_019.006
Widerspruch gegen diese „akademische Kunst“ hatte man im pbo_019.007
Auge, als man die freien Aeußerungen scheinbar des dichtenden pbo_019.008
Volksgeistes selber, wie sie aus dem Jugendalter der pbo_019.009
Völker herüberklingen, als Naturdichtung empfahl. Allein pbo_019.010
weder die Bibel noch Homer noch gar die nordische Edda pbo_019.011
oder die deutschen Nibelungen wird man sich, wie die seit pbo_019.012
einem Jahrhundert darauf gerichtete Forschung immer schärfer pbo_019.013
erkennt, als bloßes Zufallsprodukt der Laune dichtender Massen pbo_019.014
(„poetischer Zeitalter“) denken können. Es „dichtet sich“ nichts pbo_019.015
„selber“. Das einfachste Volslied, das unscheinbarste Märchen, pbo_019.016
die geringfügigste Lokalsage setzt in Entstehung und Ausbildung pbo_019.017
schon das voraus, was wir Kunst nennen, nämlich pbo_019.018
den Niederschlag des vorübergehenden einzelnen Geschehens pbo_019.019
in einer einheitlichen Anschauung.
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Das Einfache, Trockene und dann in bedeutenden Zügen pbo_019.021
wieder Gewaltsame im Charakter dieser Urkunst rührt und pbo_019.022
erschüttert uns besonders. Denn wir sehen hier den poetischen pbo_019.023
Geist im ersten Ansturm voraussetzungslos mit seinem Stoffe pbo_019.024
ringen und erhalten ein Gefühl von der gewaltigen Erregung pbo_019.025
und Erhebung des Gemütes, die dazu gehörte.
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Den Blick hierbei kritiklos der Vergleichung halber auf pbo_019.027
die gegenwärtigen sogenannten „Naturvölker“, die Wilden der pbo_019.028
barbarischen Weltteile, zu richten, verwirrt und täuscht in den pbo_019.029
meisten Fällen. Der vorgebliche „Naturzustand“ dieser Völker pbo_019.030
ist meist ein herabgekommener, an sich niedriger Kulturstand pbo_019.031
und hat mit der schönen, primitiven Selbstbildung des Kindheitsalters
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(2015-09-30T09:54:39Z)
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