Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895.pbo_025.001 pbo_025.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0029" n="25"/><lb n="pbo_025.001"/> der Weltlitteratur, Shakespeare, ist gerade nach dieser Richtung <lb n="pbo_025.002"/> von einer alle konventionellen Schranken überspringenden <lb n="pbo_025.003"/> Jdealität. Das innerste Geheimnis aller seiner Personen <lb n="pbo_025.004"/> muß bei Shakespeare heraus, „und sollten die Steine reden“ <lb n="pbo_025.005"/> (Goethe). Daher für den prosaischen Sinn das Uebertriebene, <lb n="pbo_025.006"/> Künstliche, Gewagte vieler Vergleichungen, die er seinen Gestalten <lb n="pbo_025.007"/> in den Mund legt, ja mancher seiner Erfindungen <lb n="pbo_025.008"/> überhaupt, wie etwa im „Sturm“. Daher die gänzlich freie, <lb n="pbo_025.009"/> für den oberflächlichen Betrachter unmotivierte Art, mit der <lb n="pbo_025.010"/> er in jedem Moment aus der nüchternsten Schilderung platter, <lb n="pbo_025.011"/> gemeinster Wirklichkeit zu den höchsten Offenbarungen des <lb n="pbo_025.012"/> inneren Sinnes überzugehen bereit ist, wohl erkennend und <lb n="pbo_025.013"/> erwägend, wie die Charakterisierung der Außenseite des Lebens <lb n="pbo_025.014"/> für den Poeten eben nur durchsichtige Schale bleibt, hinter <lb n="pbo_025.015"/> der er jeden Augenblick die tiefe Bedeutung des Seins an <lb n="pbo_025.016"/> sich aufzuhellen vermag. Die Masken des Lebens fallen, der <lb n="pbo_025.017"/> Spaß des bunten Mummenschanzes von Ehre, Hoheit, Macht, <lb n="pbo_025.018"/> Reichtum, Rang und Stand hört auf, und der nackte Mensch <lb n="pbo_025.019"/> in der Blöße seines innersten Strebens, seines Verdienstes <lb n="pbo_025.020"/> oder seiner Schuld, steht vor der ungeheuren Wahrheit des <lb n="pbo_025.021"/> inneren Weltzusammenhangs. Makbeth und Richard III. <lb n="pbo_025.022"/> prägen sich nach dieser Seite vornehmlich ein. Aber auch <lb n="pbo_025.023"/> ohne tragischen Bezug zeigen die Lustspiele (As you like it <lb n="pbo_025.024"/> [Wie es euch gefällt], What you will [was ihr wollt], much <lb n="pbo_025.025"/> ado about nothing [viel Lärm um Nichts], in ganz besonderem <lb n="pbo_025.026"/> Verstande der „Kaufmann von Venedig“) jene <lb n="pbo_025.027"/> kristallene Durchsichtigkeit der Charaktere in ihren inneren <lb n="pbo_025.028"/> Beziehungen, die im „Hamlet“ und „Sturm“ ein visionär <lb n="pbo_025.029"/> erfaßtes Geisterreich wie selbstverständlich in die Wirklichkeit <lb n="pbo_025.030"/> hereinragen läßt. Der naturalistischen Bühnenkunst der Franzosen <lb n="pbo_025.031"/> ist Shakespeare daher immer ein Fremder geblieben, </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [25/0029]
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der Weltlitteratur, Shakespeare, ist gerade nach dieser Richtung pbo_025.002
von einer alle konventionellen Schranken überspringenden pbo_025.003
Jdealität. Das innerste Geheimnis aller seiner Personen pbo_025.004
muß bei Shakespeare heraus, „und sollten die Steine reden“ pbo_025.005
(Goethe). Daher für den prosaischen Sinn das Uebertriebene, pbo_025.006
Künstliche, Gewagte vieler Vergleichungen, die er seinen Gestalten pbo_025.007
in den Mund legt, ja mancher seiner Erfindungen pbo_025.008
überhaupt, wie etwa im „Sturm“. Daher die gänzlich freie, pbo_025.009
für den oberflächlichen Betrachter unmotivierte Art, mit der pbo_025.010
er in jedem Moment aus der nüchternsten Schilderung platter, pbo_025.011
gemeinster Wirklichkeit zu den höchsten Offenbarungen des pbo_025.012
inneren Sinnes überzugehen bereit ist, wohl erkennend und pbo_025.013
erwägend, wie die Charakterisierung der Außenseite des Lebens pbo_025.014
für den Poeten eben nur durchsichtige Schale bleibt, hinter pbo_025.015
der er jeden Augenblick die tiefe Bedeutung des Seins an pbo_025.016
sich aufzuhellen vermag. Die Masken des Lebens fallen, der pbo_025.017
Spaß des bunten Mummenschanzes von Ehre, Hoheit, Macht, pbo_025.018
Reichtum, Rang und Stand hört auf, und der nackte Mensch pbo_025.019
in der Blöße seines innersten Strebens, seines Verdienstes pbo_025.020
oder seiner Schuld, steht vor der ungeheuren Wahrheit des pbo_025.021
inneren Weltzusammenhangs. Makbeth und Richard III. pbo_025.022
prägen sich nach dieser Seite vornehmlich ein. Aber auch pbo_025.023
ohne tragischen Bezug zeigen die Lustspiele (As you like it pbo_025.024
[Wie es euch gefällt], What you will [was ihr wollt], much pbo_025.025
ado about nothing [viel Lärm um Nichts], in ganz besonderem pbo_025.026
Verstande der „Kaufmann von Venedig“) jene pbo_025.027
kristallene Durchsichtigkeit der Charaktere in ihren inneren pbo_025.028
Beziehungen, die im „Hamlet“ und „Sturm“ ein visionär pbo_025.029
erfaßtes Geisterreich wie selbstverständlich in die Wirklichkeit pbo_025.030
hereinragen läßt. Der naturalistischen Bühnenkunst der Franzosen pbo_025.031
ist Shakespeare daher immer ein Fremder geblieben,
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