pbo_029.003 Wir wenden uns, bevor wir zu ihren besonderen Gattungen pbo_029.004 und Vorwürfen übergehen, zunächst zu den Mitteln der pbo_029.005 Dichtung als Kunst. Der allgemeine Träger der dichterischen pbo_029.006 Kunst ist, wie schon in Erwägung gezogen wurde, die pbo_029.007 Sprache. Jn unserem Wort dichten steckt das Jntensiv pbo_029.008 vom lateinischen dicere (sagen) dictare. Als das unentbehrliche pbo_029.009 Werkzeug des allgemeinen Lebensverkehrs scheint pbo_029.010 uns jetzt die Sprache nur zufällig und so nebenher auch der pbo_029.011 Dichtung ihre Dienste zu leihen. Diese Anschauung ändert pbo_029.012 sich von Grund aus, wenn man systematisch der Bildung der pbo_029.013 Sprache durch den Menschengeist und historisch ihren ältesten pbo_029.014 Urkunden nachgeht. Jn beiden Fällen wird man nämlich pbo_029.015 unmittelbar auf das dichterische Vermögen geführt, als dessen pbo_029.016 erster, grundbildender Ausfluß die Sprache auftritt. Die pbo_029.017 Möglichkeit, Gegenstände und Empfindungen systematisch (durch pbo_029.018 artikulirte Klangwerte: die Worte) zu bezeichnen, giebt der pbo_029.019 Erkenntnis ein Problem, das nur auf dem Boden der poetischen pbo_029.020 Fähigkeiten gelöst werden kann.*)
pbo_029.021
§ 21. Historisches und systematisches Verhältnis von pbo_029.022 Poesie und Prosa.
pbo_029.023 Die Bestätigung hierfür geben die Urdenkmäler menschlicher pbo_029.024 Rede, und zwar in so höherem Grade, je älter sie sind. pbo_029.025 Sie sind poetisch, weil die erste Möglichkeit einer sprachlichen pbo_029.026 Ausdrucksweise überhaupt auf poetischen Bedingungen (der pbo_029.027 Vergleichung, Umschreibung, Verknüpfung) beruht. Erst wenn
*)pbo_029.028 Vergl. meine Grundzüge des Systems der artikulirten Phonetik. Stuttgart pbo_029.029 1891.
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Kapitel 1. Dichtung und Sprache.
pbo_029.002
§ 20. Sprachbildung eine poetische Fähigkeit.
pbo_029.003 Wir wenden uns, bevor wir zu ihren besonderen Gattungen pbo_029.004 und Vorwürfen übergehen, zunächst zu den Mitteln der pbo_029.005 Dichtung als Kunst. Der allgemeine Träger der dichterischen pbo_029.006 Kunst ist, wie schon in Erwägung gezogen wurde, die pbo_029.007 Sprache. Jn unserem Wort dichten steckt das Jntensiv pbo_029.008 vom lateinischen dicere (sagen) dictare. Als das unentbehrliche pbo_029.009 Werkzeug des allgemeinen Lebensverkehrs scheint pbo_029.010 uns jetzt die Sprache nur zufällig und so nebenher auch der pbo_029.011 Dichtung ihre Dienste zu leihen. Diese Anschauung ändert pbo_029.012 sich von Grund aus, wenn man systematisch der Bildung der pbo_029.013 Sprache durch den Menschengeist und historisch ihren ältesten pbo_029.014 Urkunden nachgeht. Jn beiden Fällen wird man nämlich pbo_029.015 unmittelbar auf das dichterische Vermögen geführt, als dessen pbo_029.016 erster, grundbildender Ausfluß die Sprache auftritt. Die pbo_029.017 Möglichkeit, Gegenstände und Empfindungen systematisch (durch pbo_029.018 artikulirte Klangwerte: die Worte) zu bezeichnen, giebt der pbo_029.019 Erkenntnis ein Problem, das nur auf dem Boden der poetischen pbo_029.020 Fähigkeiten gelöst werden kann.*)
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§ 21. Historisches und systematisches Verhältnis von pbo_029.022 Poesie und Prosa.
pbo_029.023 Die Bestätigung hierfür geben die Urdenkmäler menschlicher pbo_029.024 Rede, und zwar in so höherem Grade, je älter sie sind. pbo_029.025 Sie sind poetisch, weil die erste Möglichkeit einer sprachlichen pbo_029.026 Ausdrucksweise überhaupt auf poetischen Bedingungen (der pbo_029.027 Vergleichung, Umschreibung, Verknüpfung) beruht. Erst wenn
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erster, grundbildender Ausfluß die Sprache auftritt. Die pbo_029.017
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Erkenntnis ein Problem, das nur auf dem Boden der poetischen pbo_029.020
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§ 21. Historisches und systematisches Verhältnis von pbo_029.022
Poesie und Prosa. pbo_029.023
Die Bestätigung hierfür geben die Urdenkmäler menschlicher pbo_029.024
Rede, und zwar in so höherem Grade, je älter sie sind. pbo_029.025
Sie sind poetisch, weil die erste Möglichkeit einer sprachlichen pbo_029.026
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Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895, S. 29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/borinski_poetik_1895/33>, abgerufen am 16.02.2025.
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