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Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895.

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diese rein erfindende Stufe der Sprache völlig abgeschlossen, pbo_030.002
ihr freies Blühen abgewelkt ist, tritt der Zustand der Emanzipation pbo_030.003
der Sprache von der Poesie, die bloße Verkehrsprosa, pbo_030.004
ein. Doch selbst diese muß sich eine Kontrolle durch die pbo_030.005
künstlerische Sprache (der Bildung) gefallen lassen, weil sie pbo_030.006
sonst in ihrem Bezeichnungswerthe rasch sinken und für ihre pbo_030.007
eigenen Zwecke unbrauchbar werden würde. An der Dichtung pbo_030.008
verjüngt und richtet sich die Sprache zu allen Zeiten auf.

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Die Merkmale dieses inneren Verhältnisses zwischen pbo_030.010
Dichtung und Sprache liefern zwei in ihrer Eigenart verwandte, pbo_030.011
wenngleich in ihren Beziehungen unter ganz verschiedene pbo_030.012
Kategorien fallende Erscheinungen: die Mythologie pbo_030.013
und die rednerischen Tropen und Figuren.

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Kapitel 2. Mythologie.
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§ 22. Poetische Grundbedeutung der Mythologien.

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Beides, das völkerbeherrschende Reich der Götter pbo_030.017
und der die Meinung lenkende Schmuck der Rede, beides pbo_030.018
ist Erzeugnis der in der Sprache unmittelbar zur Einwirkung pbo_030.019
auf die Menschen gelangenden Dichtung. Die Mythologien pbo_030.020
stellen sich bei den verschiedenen Völkern als abgeschlossene, gegebene pbo_030.021
Glaubenswelten dar, von den sie vertretenden hierarchischen pbo_030.022
Verbindungen, den Priestern, ceremoniös auf das pbo_030.023
Peinlichste vertreten, eine die andere ausschließend und mit pbo_030.024
Feuer und Schwert verfolgend. Vom Standpunkt der Poetik pbo_030.025
sind sie alle gleichermaßen dogmatische Festsetzungen poetischer pbo_030.026
Niederschläge allgemeiner überweltlicher (transcendenter) Anschauungsformen. pbo_030.027
Jn allen lassen sich die gleichen Bezüge pbo_030.028
mehr oder weniger klar, mehr oder minder vernunftgemäß pbo_030.029
nachweisen. Bei vielen Völkern (den indogermanischen) stehen

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diese rein erfindende Stufe der Sprache völlig abgeschlossen, pbo_030.002
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eigenen Zwecke unbrauchbar werden würde. An der Dichtung pbo_030.008
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wenngleich in ihren Beziehungen unter ganz verschiedene pbo_030.012
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und die rednerischen Tropen und Figuren.

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Kapitel 2. Mythologie.
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§ 22. Poetische Grundbedeutung der Mythologien.

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Beides, das völkerbeherrschende Reich der Götter pbo_030.017
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Peinlichste vertreten, eine die andere ausschließend und mit pbo_030.024
Feuer und Schwert verfolgend. Vom Standpunkt der Poetik pbo_030.025
sind sie alle gleichermaßen dogmatische Festsetzungen poetischer pbo_030.026
Niederschläge allgemeiner überweltlicher (transcendenter) Anschauungsformen. pbo_030.027
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Zitationshilfe: Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/borinski_poetik_1895/34>, abgerufen am 24.11.2024.