Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895.pbo_043.001 pbo_043.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0047" n="43"/><lb n="pbo_043.001"/> im Gegensatz dazu nicht alles sagen, was eigentlich gesagt <lb n="pbo_043.002"/> werden müßte. Sie sagt lieber „nicht gut“, wo eigentlich <lb n="pbo_043.003"/> „schlecht“ zu sagen wäre, sie sagt lieber „ich bin nicht dieser <lb n="pbo_043.004"/> Ansicht“ statt „ich bestreite das“. Wenn man also eine Figur <lb n="pbo_043.005"/> der <hi rendition="#g">Negation</hi> (Verneinung) einführen will, so ist sie nur <lb n="pbo_043.006"/> die Grundlage, die eigentliche Voraussetzung der Litotes, die <lb n="pbo_043.007"/> als solche eine spät, erst im Zustande der Ueberfeinerung in <lb n="pbo_043.008"/> die Sprache eintretende Redefigur sein wird. Den höchsten <lb n="pbo_043.009"/> Grad von Feinheit erreicht die Litotes, wenn sie in der Abschwächung <lb n="pbo_043.010"/> der Meinungsäußerung bis zum graden Gegenteil <lb n="pbo_043.011"/> dessen fortschreitet, was eigentlich gesagt werden müßte. <lb n="pbo_043.012"/> Dann wird sie <hi rendition="#g">Jronie</hi> (griech. wohl zum Stamme EP gehörig <lb n="pbo_043.013"/> vgl. unser „etwas so sagen“) und liegt, das was eigentlich <lb n="pbo_043.014"/> zu sagen wäre, recht offenbar, wie man wohl sagt: <lb n="pbo_043.015"/> schreiend zu Tage, so nennt man die Jronie <hi rendition="#g">Sarkasmus</hi> <lb n="pbo_043.016"/> (vom griech. <foreign xml:lang="grc">σάρξ</foreign> Fleisch, „ätzender“ Hohn). Die Jronie <lb n="pbo_043.017"/> scheint ganz Kulturprodukt, sie kennzeichnet bekanntlich eine so <lb n="pbo_043.018"/> überfeinerte Litteraturrichtung wie die Romantik, erschien aber <lb n="pbo_043.019"/> auch bedeutsam im Munde des Sokrates an der großen Wende <lb n="pbo_043.020"/> des Altertums, da die alte Naturreligion in der Oeffentlichkeit <lb n="pbo_043.021"/> ihren ersten Stoß erhielt. Nichtsdestoweniger ist die <lb n="pbo_043.022"/> Jronie keiner Menschen- und Gesellschaftsschicht völlig fremd. <lb n="pbo_043.023"/> Die Sprache ist ein so durchsichtiger Schleier, daß Jronie <lb n="pbo_043.024"/> unter gegebenen Voraussetzungen sofort und genau verstanden <lb n="pbo_043.025"/> wird. Grade der Natur nahe Völker (Bergbewohner, Alpenvölker) <lb n="pbo_043.026"/> üben sie mit Vorliebe (utzen, schrauben, frotzeln u. s. w.). <lb n="pbo_043.027"/> Bezeichnet man Jndividuen und Völker dadurch gerade als <lb n="pbo_043.028"/> natürlich, daß man sagt, sie verstehen die Jronie nicht (wie <lb n="pbo_043.029"/> die Pommern), so ist es meist wieder Jronie.</p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [43/0047]
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im Gegensatz dazu nicht alles sagen, was eigentlich gesagt pbo_043.002
werden müßte. Sie sagt lieber „nicht gut“, wo eigentlich pbo_043.003
„schlecht“ zu sagen wäre, sie sagt lieber „ich bin nicht dieser pbo_043.004
Ansicht“ statt „ich bestreite das“. Wenn man also eine Figur pbo_043.005
der Negation (Verneinung) einführen will, so ist sie nur pbo_043.006
die Grundlage, die eigentliche Voraussetzung der Litotes, die pbo_043.007
als solche eine spät, erst im Zustande der Ueberfeinerung in pbo_043.008
die Sprache eintretende Redefigur sein wird. Den höchsten pbo_043.009
Grad von Feinheit erreicht die Litotes, wenn sie in der Abschwächung pbo_043.010
der Meinungsäußerung bis zum graden Gegenteil pbo_043.011
dessen fortschreitet, was eigentlich gesagt werden müßte. pbo_043.012
Dann wird sie Jronie (griech. wohl zum Stamme EP gehörig pbo_043.013
vgl. unser „etwas so sagen“) und liegt, das was eigentlich pbo_043.014
zu sagen wäre, recht offenbar, wie man wohl sagt: pbo_043.015
schreiend zu Tage, so nennt man die Jronie Sarkasmus pbo_043.016
(vom griech. σάρξ Fleisch, „ätzender“ Hohn). Die Jronie pbo_043.017
scheint ganz Kulturprodukt, sie kennzeichnet bekanntlich eine so pbo_043.018
überfeinerte Litteraturrichtung wie die Romantik, erschien aber pbo_043.019
auch bedeutsam im Munde des Sokrates an der großen Wende pbo_043.020
des Altertums, da die alte Naturreligion in der Oeffentlichkeit pbo_043.021
ihren ersten Stoß erhielt. Nichtsdestoweniger ist die pbo_043.022
Jronie keiner Menschen- und Gesellschaftsschicht völlig fremd. pbo_043.023
Die Sprache ist ein so durchsichtiger Schleier, daß Jronie pbo_043.024
unter gegebenen Voraussetzungen sofort und genau verstanden pbo_043.025
wird. Grade der Natur nahe Völker (Bergbewohner, Alpenvölker) pbo_043.026
üben sie mit Vorliebe (utzen, schrauben, frotzeln u. s. w.). pbo_043.027
Bezeichnet man Jndividuen und Völker dadurch gerade als pbo_043.028
natürlich, daß man sagt, sie verstehen die Jronie nicht (wie pbo_043.029
die Pommern), so ist es meist wieder Jronie.
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