Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895.pbo_064.001 pbo_064.005 pbo_064.001 pbo_064.005 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0068" n="64"/><lb n="pbo_064.001"/> metrisch am liebsten wieder ganz in die Urwälder zurück. Doch <lb n="pbo_064.002"/> ist der wirkliche tiefere Anteil an der Dichtung in ihr so gering, <lb n="pbo_064.003"/> daß die antimetrischen Tendenzen erst gar nicht weiter in <lb n="pbo_064.004"/> Betracht kommen.</p> <p><lb n="pbo_064.005"/> Die Entscheidung der alten metrischen Streitigkeiten wird <lb n="pbo_064.006"/> nach dem bloßen Ueberblick über die Sachlage, wie wir ihn <lb n="pbo_064.007"/> objektiv zu geben versuchten, dem Denkenden leicht fallen. Für <lb n="pbo_064.008"/> einen „reinen urteutschen“ Vers sich zu begeistern, bloß weil <lb n="pbo_064.009"/> er des gesetzmäßigen Baus, zu dem die Verskunst aufstrebt, <lb n="pbo_064.010"/> entbehrt: das heißt, mit der graziösen Ungebundenheit zugleich <lb n="pbo_064.011"/> die plumpe Ungeschicklichkeit theoretisch sanktionieren. Die <lb n="pbo_064.012"/> strengen metrischen Typen bloß deshalb verbannen, weil sie <lb n="pbo_064.013"/> bereits in vordeutscher Zeit zur Entfaltung gelangt sind, <lb n="pbo_064.014"/> heißt der Verskunst den Reichtum und die Vielseitigkeit ihrer <lb n="pbo_064.015"/> Wirkungen verkümmern. Denn in jenen metrischen Typen <lb n="pbo_064.016"/> haben sich eben entgegengesetzte Grundstimmungen des Gemüts <lb n="pbo_064.017"/> auseinandergelegt, soweit sie in reiner Bewegung zum Ausdruck <lb n="pbo_064.018"/> gelangen können: Energie des Vorwärtsstrebens oder <lb n="pbo_064.019"/> Nachdruck des Beharrens je nach Graden und Schattierungen. <lb n="pbo_064.020"/> So grenzt sich der lebendige Jambenschritt von selbst ab gegen <lb n="pbo_064.021"/> die schwere Gehaltenheit der Trochaeen, der feierliche Schwung <lb n="pbo_064.022"/> des daktylischen Hexameters spricht für sich selbst, wie der ungestüme <lb n="pbo_064.023"/> Anprall chorischer Anapäste. Man soll daher in der <lb n="pbo_064.024"/> Vermischung dieser metrischen Gegensätze innerhalb des Verses <lb n="pbo_064.025"/> nie so weit gehen, daß sie in ihrer Grundbedeutung schließlich <lb n="pbo_064.026"/> vollständig aus der Verskunst verschwinden. Heinrich Heines <lb n="pbo_064.027"/> Anmut in der Verswillkür darf nicht darüber hinwegtäuschen, <lb n="pbo_064.028"/> daß unter unseren Verhältnissen sein freier (nicht <lb n="pbo_064.029"/> immer gleichmäßiger) Hebungsvers den Schritt zur Reimprosa <lb n="pbo_064.030"/> macht:</p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [64/0068]
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metrisch am liebsten wieder ganz in die Urwälder zurück. Doch pbo_064.002
ist der wirkliche tiefere Anteil an der Dichtung in ihr so gering, pbo_064.003
daß die antimetrischen Tendenzen erst gar nicht weiter in pbo_064.004
Betracht kommen.
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Die Entscheidung der alten metrischen Streitigkeiten wird pbo_064.006
nach dem bloßen Ueberblick über die Sachlage, wie wir ihn pbo_064.007
objektiv zu geben versuchten, dem Denkenden leicht fallen. Für pbo_064.008
einen „reinen urteutschen“ Vers sich zu begeistern, bloß weil pbo_064.009
er des gesetzmäßigen Baus, zu dem die Verskunst aufstrebt, pbo_064.010
entbehrt: das heißt, mit der graziösen Ungebundenheit zugleich pbo_064.011
die plumpe Ungeschicklichkeit theoretisch sanktionieren. Die pbo_064.012
strengen metrischen Typen bloß deshalb verbannen, weil sie pbo_064.013
bereits in vordeutscher Zeit zur Entfaltung gelangt sind, pbo_064.014
heißt der Verskunst den Reichtum und die Vielseitigkeit ihrer pbo_064.015
Wirkungen verkümmern. Denn in jenen metrischen Typen pbo_064.016
haben sich eben entgegengesetzte Grundstimmungen des Gemüts pbo_064.017
auseinandergelegt, soweit sie in reiner Bewegung zum Ausdruck pbo_064.018
gelangen können: Energie des Vorwärtsstrebens oder pbo_064.019
Nachdruck des Beharrens je nach Graden und Schattierungen. pbo_064.020
So grenzt sich der lebendige Jambenschritt von selbst ab gegen pbo_064.021
die schwere Gehaltenheit der Trochaeen, der feierliche Schwung pbo_064.022
des daktylischen Hexameters spricht für sich selbst, wie der ungestüme pbo_064.023
Anprall chorischer Anapäste. Man soll daher in der pbo_064.024
Vermischung dieser metrischen Gegensätze innerhalb des Verses pbo_064.025
nie so weit gehen, daß sie in ihrer Grundbedeutung schließlich pbo_064.026
vollständig aus der Verskunst verschwinden. Heinrich Heines pbo_064.027
Anmut in der Verswillkür darf nicht darüber hinwegtäuschen, pbo_064.028
daß unter unseren Verhältnissen sein freier (nicht pbo_064.029
immer gleichmäßiger) Hebungsvers den Schritt zur Reimprosa pbo_064.030
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