Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895.

Bild:
<< vorherige Seite

pbo_068.001
katalektische Viertakter, als ein früher, namentlich im Anfang pbo_068.002
des vorigen Jahrhunderts in Deutschland grassirender Vers pbo_068.003
auf. Es ist der Anakreontische Vers der auf ihn eingeschworenen pbo_068.004
zahllosen platonischen Verehrer des alten wein- pbo_068.005
und liebefrohen griechischen Sängers. Nach Kästners Parodie:

pbo_068.006
Gedankenleere Prosa pbo_068.007
Jn ungereimten Zeilen pbo_068.008
Jn Dreiquerfingerzeilen pbo_068.009
Von Mädchen und von Weine pbo_068.010
Von Weine und von Mädchen ...

pbo_068.011
Der vollständige jambische Viertakter erinnert uns an jenen pbo_068.012
Achtsilbenvers, der vor Opitz Auftreten Jahrhunderte pbo_068.013
lang der anerkannte Normalvers der deutschen Dichtung war, pbo_068.014
der herabgekommene, oft jämmerlich mißbetonte einförmige pbo_068.015
Erbe des alten wechselreichen, epischen Verses mit vier Hebungen*). pbo_068.016
Es ist der Vers des Seb. Brandt, Hans Sachs, pbo_068.017
Fischart**), der volkstümliche Vers der deutschen Reformation, pbo_068.018
später verächtlich Pritschmeistervers genannt. Der fünffüßige pbo_068.019
Jambus
ist der bekannte Jdealvers des deutschen pbo_068.020
Dramas. Als solchen haben ihn die englischen Dramatiker des pbo_068.021
16. Jh. eingeführt (blancvers d. i. ungereimter Vers), und durch pbo_068.022
Shakespeare kam er in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts pbo_068.023
schließlich auch auf die dem Verse überhaupt wenig entgegenkommende, pbo_068.024
deutsche Bühne. Jn der Lyrik hat diese zwischen pbo_068.025
Knappheit und Ueberweite gerade die rechte Mitte haltende pbo_068.026
Form der Verszeile nach romanischem Muster schon mit und pbo_068.027
vor Opitz festen Fuß gefaßt (vers communs gemeine Verse).

*) pbo_068.028
Vergl. Sammlung Göschen Nr. 22. Auswahl aus dem höfischen pbo_068.029
Epos.
**) pbo_068.030
Vergl. Sammlung Göschen Nr. 24.

pbo_068.001
katalektische Viertakter, als ein früher, namentlich im Anfang pbo_068.002
des vorigen Jahrhunderts in Deutschland grassirender Vers pbo_068.003
auf. Es ist der Anakreontische Vers der auf ihn eingeschworenen pbo_068.004
zahllosen platonischen Verehrer des alten wein- pbo_068.005
und liebefrohen griechischen Sängers. Nach Kästners Parodie:

pbo_068.006
Gedankenleere Prosa pbo_068.007
Jn ungereimten Zeilen pbo_068.008
Jn Dreiquerfingerzeilen pbo_068.009
Von Mädchen und von Weine pbo_068.010
Von Weine und von Mädchen ...

pbo_068.011
Der vollständige jambische Viertakter erinnert uns an jenen pbo_068.012
Achtsilbenvers, der vor Opitz Auftreten Jahrhunderte pbo_068.013
lang der anerkannte Normalvers der deutschen Dichtung war, pbo_068.014
der herabgekommene, oft jämmerlich mißbetonte einförmige pbo_068.015
Erbe des alten wechselreichen, epischen Verses mit vier Hebungen*). pbo_068.016
Es ist der Vers des Seb. Brandt, Hans Sachs, pbo_068.017
Fischart**), der volkstümliche Vers der deutschen Reformation, pbo_068.018
später verächtlich Pritschmeistervers genannt. Der fünffüßige pbo_068.019
Jambus
ist der bekannte Jdealvers des deutschen pbo_068.020
Dramas. Als solchen haben ihn die englischen Dramatiker des pbo_068.021
16. Jh. eingeführt (blancvers d. i. ungereimter Vers), und durch pbo_068.022
Shakespeare kam er in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts pbo_068.023
schließlich auch auf die dem Verse überhaupt wenig entgegenkommende, pbo_068.024
deutsche Bühne. Jn der Lyrik hat diese zwischen pbo_068.025
Knappheit und Ueberweite gerade die rechte Mitte haltende pbo_068.026
Form der Verszeile nach romanischem Muster schon mit und pbo_068.027
vor Opitz festen Fuß gefaßt (vers communs gemeine Verse).

*) pbo_068.028
Vergl. Sammlung Göschen Nr. 22. Auswahl aus dem höfischen pbo_068.029
Epos.
**) pbo_068.030
Vergl. Sammlung Göschen Nr. 24.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0072" n="68"/><lb n="pbo_068.001"/>
katalektische Viertakter, als ein früher, namentlich im Anfang <lb n="pbo_068.002"/>
des vorigen Jahrhunderts in Deutschland grassirender Vers <lb n="pbo_068.003"/>
auf. Es ist der <hi rendition="#g">Anakreontische</hi> Vers der auf ihn eingeschworenen <lb n="pbo_068.004"/>
zahllosen platonischen Verehrer des alten wein- <lb n="pbo_068.005"/>
und liebefrohen griechischen Sängers. Nach Kästners Parodie:</p>
              <lb n="pbo_068.006"/>
              <lg>
                <l>Gedankenleere Prosa </l>
                <lb n="pbo_068.007"/>
                <l>Jn ungereimten Zeilen</l>
                <lb n="pbo_068.008"/>
                <l>Jn Dreiquerfingerzeilen</l>
                <lb n="pbo_068.009"/>
                <l>Von Mädchen und von Weine </l>
                <lb n="pbo_068.010"/>
                <l>Von Weine und von Mädchen ...</l>
              </lg>
              <p><lb n="pbo_068.011"/>
Der vollständige jambische Viertakter erinnert uns an jenen <lb n="pbo_068.012"/> <hi rendition="#g">Achtsilbenvers,</hi> der vor Opitz Auftreten Jahrhunderte <lb n="pbo_068.013"/>
lang der anerkannte Normalvers der deutschen Dichtung war, <lb n="pbo_068.014"/>
der herabgekommene, oft jämmerlich mißbetonte einförmige <lb n="pbo_068.015"/>
Erbe des alten wechselreichen, epischen Verses mit vier Hebungen<note corresp="PBO_068_*" place="foot" n="*)"><lb n="pbo_068.028"/>
Vergl. <hi rendition="#g">Sammlung Göschen</hi> Nr. 22. Auswahl aus dem höfischen <lb n="pbo_068.029"/>
Epos.</note>. <lb n="pbo_068.016"/>
Es ist der Vers des Seb. Brandt, Hans Sachs, <lb n="pbo_068.017"/>
Fischart<note corresp="PBO_068_**" place="foot" n="**)"><lb n="pbo_068.030"/>
Vergl. <hi rendition="#g">Sammlung Göschen</hi> Nr. 24.</note>, der volkstümliche Vers der deutschen Reformation, <lb n="pbo_068.018"/>
später verächtlich Pritschmeistervers genannt. Der <hi rendition="#g">fünffüßige <lb n="pbo_068.019"/>
Jambus</hi> ist der bekannte Jdealvers des deutschen <lb n="pbo_068.020"/>
Dramas. Als solchen haben ihn die englischen Dramatiker des <lb n="pbo_068.021"/>
16. Jh. eingeführt (blancvers d. i. ungereimter Vers), und durch <lb n="pbo_068.022"/>
Shakespeare kam er in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts <lb n="pbo_068.023"/>
schließlich auch auf die dem Verse überhaupt wenig entgegenkommende, <lb n="pbo_068.024"/>
deutsche Bühne. Jn der Lyrik hat diese zwischen <lb n="pbo_068.025"/>
Knappheit und Ueberweite gerade die rechte Mitte haltende <lb n="pbo_068.026"/>
Form der Verszeile nach romanischem Muster schon mit und <lb n="pbo_068.027"/>
vor Opitz festen Fuß gefaßt (vers communs gemeine Verse).
</p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[68/0072] pbo_068.001 katalektische Viertakter, als ein früher, namentlich im Anfang pbo_068.002 des vorigen Jahrhunderts in Deutschland grassirender Vers pbo_068.003 auf. Es ist der Anakreontische Vers der auf ihn eingeschworenen pbo_068.004 zahllosen platonischen Verehrer des alten wein- pbo_068.005 und liebefrohen griechischen Sängers. Nach Kästners Parodie: pbo_068.006 Gedankenleere Prosa pbo_068.007 Jn ungereimten Zeilen pbo_068.008 Jn Dreiquerfingerzeilen pbo_068.009 Von Mädchen und von Weine pbo_068.010 Von Weine und von Mädchen ... pbo_068.011 Der vollständige jambische Viertakter erinnert uns an jenen pbo_068.012 Achtsilbenvers, der vor Opitz Auftreten Jahrhunderte pbo_068.013 lang der anerkannte Normalvers der deutschen Dichtung war, pbo_068.014 der herabgekommene, oft jämmerlich mißbetonte einförmige pbo_068.015 Erbe des alten wechselreichen, epischen Verses mit vier Hebungen *). pbo_068.016 Es ist der Vers des Seb. Brandt, Hans Sachs, pbo_068.017 Fischart **), der volkstümliche Vers der deutschen Reformation, pbo_068.018 später verächtlich Pritschmeistervers genannt. Der fünffüßige pbo_068.019 Jambus ist der bekannte Jdealvers des deutschen pbo_068.020 Dramas. Als solchen haben ihn die englischen Dramatiker des pbo_068.021 16. Jh. eingeführt (blancvers d. i. ungereimter Vers), und durch pbo_068.022 Shakespeare kam er in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts pbo_068.023 schließlich auch auf die dem Verse überhaupt wenig entgegenkommende, pbo_068.024 deutsche Bühne. Jn der Lyrik hat diese zwischen pbo_068.025 Knappheit und Ueberweite gerade die rechte Mitte haltende pbo_068.026 Form der Verszeile nach romanischem Muster schon mit und pbo_068.027 vor Opitz festen Fuß gefaßt (vers communs gemeine Verse). *) pbo_068.028 Vergl. Sammlung Göschen Nr. 22. Auswahl aus dem höfischen pbo_068.029 Epos. **) pbo_068.030 Vergl. Sammlung Göschen Nr. 24.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: manuell (doppelt erfasst).

Bogensignaturen: nicht übernommen; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): gekennzeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: DTABf-getreu; Zeilenumbrüche markiert: ja;

Hervorhebungen durch Wechsel von Fraktur zu Antiqua: nicht gekennzeichnet




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/borinski_poetik_1895
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/borinski_poetik_1895/72
Zitationshilfe: Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/borinski_poetik_1895/72>, abgerufen am 22.11.2024.