Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895.

Bild:
<< vorherige Seite

pbo_085.001
Hexameter. Durch diesen Abbruch je eines Halbfußes pbo_085.002
an den beiden Stellen erhält er vor und nach der pbo_085.003
Caesur einen Choriambus und gleicht so bei der deutschen pbo_085.004
Trochäenfreiheit im Hexameter durchaus einem kleineren pbo_085.005
Asclepiadeus. Als Vers für sich, in längerer Folge, wäre pbo_085.006
der Pentameter wegen seiner unablässigen Aufhalte in der pbo_085.007
Mitte und am Ende gar nicht zu brauchen. Aber im Wechsel pbo_085.008
mit dem Hexameter, dessen beschwingten Gang er nachdenklich pbo_085.009
unterbricht, im sogenannten Distichon (Doppelreihe) stellt pbo_085.010
er eines der ältesten (vgl. Horaz in der "ars poetica" über pbo_085.011
den Erfinder: "et adhuc sub judice lis est") und häufigsten pbo_085.012
Versgebilde namentlich für elegische und epigrammatische pbo_085.013
Vorwürfe dar. Dann bedeutet der Hexameter die Vorbereitung, pbo_085.014
die Erwartung der Empfindung, des Gedankens, der pbo_085.015
Pentameter die Entladung und Lösung:

pbo_085.016
Jm Hexameter steigt des Springquells flüssige Säule, pbo_085.017
Jm Pentameter drauf    fällt sie melodisch herab.

pbo_085.018
Der Pentameter steht vermöge des starken Einschnittes pbo_085.019
zwischen seinen Hälften auf der Grenze jener Versbildungen, pbo_085.020
welche die Griechen wegen ihres lockeren oder ganz fehlenden pbo_085.021
metrischen Zusammenhanges asynartetisch nannten. Bei pbo_085.022
der schon erörterten leichteren Anschmiegungsfähigkeit des pbo_085.023
metrischen Systems konnte den Alten die logische Sinnreihe pbo_085.024
in diesen Fällen das Maß für den Vers abgeben, pbo_085.025
eine Freiheit, die vielleicht auch dem Begriffe des Logaödischen pbo_085.026
(logos aoidos) zu Grunde liegt. Bei der selbstherrlichen pbo_085.027
Natur des rhythmischen Systems ist das für uns nicht mehr pbo_085.028
möglich. Auch der Pentameter schon wird für uns mehr pbo_085.029
durch den Parallelismus mit dem voraufgehenden Hexameter pbo_085.030
zusammengehalten und würde selbständig, außerhalb des

pbo_085.001
Hexameter. Durch diesen Abbruch je eines Halbfußes pbo_085.002
an den beiden Stellen erhält er vor und nach der pbo_085.003
Caesur einen Choriambus und gleicht so bei der deutschen pbo_085.004
Trochäenfreiheit im Hexameter durchaus einem kleineren pbo_085.005
Asclepiadeus. Als Vers für sich, in längerer Folge, wäre pbo_085.006
der Pentameter wegen seiner unablässigen Aufhalte in der pbo_085.007
Mitte und am Ende gar nicht zu brauchen. Aber im Wechsel pbo_085.008
mit dem Hexameter, dessen beschwingten Gang er nachdenklich pbo_085.009
unterbricht, im sogenannten Distichon (Doppelreihe) stellt pbo_085.010
er eines der ältesten (vgl. Horaz in der „ars poetica“ über pbo_085.011
den Erfinder: „et adhuc sub judice lis est“) und häufigsten pbo_085.012
Versgebilde namentlich für elegische und epigrammatische pbo_085.013
Vorwürfe dar. Dann bedeutet der Hexameter die Vorbereitung, pbo_085.014
die Erwartung der Empfindung, des Gedankens, der pbo_085.015
Pentameter die Entladung und Lösung:

pbo_085.016
Jm Hexameter steigt des Springquells flüssige Säule, pbo_085.017
Jm Pentameter drauf    fällt sie melodisch herab.

pbo_085.018
Der Pentameter steht vermöge des starken Einschnittes pbo_085.019
zwischen seinen Hälften auf der Grenze jener Versbildungen, pbo_085.020
welche die Griechen wegen ihres lockeren oder ganz fehlenden pbo_085.021
metrischen Zusammenhanges asynartetisch nannten. Bei pbo_085.022
der schon erörterten leichteren Anschmiegungsfähigkeit des pbo_085.023
metrischen Systems konnte den Alten die logische Sinnreihe pbo_085.024
in diesen Fällen das Maß für den Vers abgeben, pbo_085.025
eine Freiheit, die vielleicht auch dem Begriffe des Logaödischen pbo_085.026
(λόγος ἀοιδός) zu Grunde liegt. Bei der selbstherrlichen pbo_085.027
Natur des rhythmischen Systems ist das für uns nicht mehr pbo_085.028
möglich. Auch der Pentameter schon wird für uns mehr pbo_085.029
durch den Parallelismus mit dem voraufgehenden Hexameter pbo_085.030
zusammengehalten und würde selbständig, außerhalb des

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0089" n="85"/><lb n="pbo_085.001"/>
Hexameter. Durch diesen Abbruch je eines Halbfußes <lb n="pbo_085.002"/>
an den beiden Stellen erhält er vor und nach der <lb n="pbo_085.003"/>
Caesur einen Choriambus und gleicht so bei der deutschen <lb n="pbo_085.004"/>
Trochäenfreiheit im Hexameter durchaus einem kleineren <lb n="pbo_085.005"/>
Asclepiadeus. Als Vers für sich, in längerer Folge, wäre <lb n="pbo_085.006"/>
der Pentameter wegen seiner unablässigen Aufhalte in der <lb n="pbo_085.007"/>
Mitte und am Ende gar nicht zu brauchen. Aber im Wechsel <lb n="pbo_085.008"/>
mit dem Hexameter, dessen beschwingten Gang er nachdenklich <lb n="pbo_085.009"/>
unterbricht, im sogenannten <hi rendition="#g">Distichon</hi> (Doppelreihe) stellt <lb n="pbo_085.010"/>
er eines der ältesten (vgl. Horaz in der &#x201E;ars poetica&#x201C; über <lb n="pbo_085.011"/>
den Erfinder: &#x201E;et adhuc sub judice lis est&#x201C;) und häufigsten <lb n="pbo_085.012"/>
Versgebilde namentlich für <hi rendition="#g">elegische</hi> und <hi rendition="#g">epigrammatische</hi> <lb n="pbo_085.013"/>
Vorwürfe dar. Dann bedeutet der Hexameter die Vorbereitung, <lb n="pbo_085.014"/>
die Erwartung der Empfindung, des Gedankens, der <lb n="pbo_085.015"/>
Pentameter die Entladung und Lösung:</p>
              <lb n="pbo_085.016"/>
              <lg>
                <l>Jm Hexameter steigt des Springquells flüssige Säule, </l>
                <lb n="pbo_085.017"/>
                <l>Jm Pentameter drauf<space dim="horizontal"/> fällt sie melodisch herab.</l>
              </lg>
              <p><lb n="pbo_085.018"/>
Der Pentameter steht vermöge des starken Einschnittes <lb n="pbo_085.019"/>
zwischen seinen Hälften auf der Grenze jener Versbildungen, <lb n="pbo_085.020"/>
welche die Griechen wegen ihres lockeren oder ganz fehlenden <lb n="pbo_085.021"/>
metrischen Zusammenhanges <hi rendition="#g">asynartetisch</hi> nannten. Bei <lb n="pbo_085.022"/>
der schon erörterten leichteren Anschmiegungsfähigkeit des <lb n="pbo_085.023"/>
metrischen Systems konnte den Alten die <hi rendition="#g">logische Sinnreihe</hi> <lb n="pbo_085.024"/>
in diesen Fällen das Maß für den Vers abgeben, <lb n="pbo_085.025"/>
eine Freiheit, die vielleicht auch dem Begriffe des <hi rendition="#g">Logaödischen</hi> <lb n="pbo_085.026"/>
(<foreign xml:lang="grc">&#x03BB;&#x03CC;&#x03B3;&#x03BF;&#x03C2; &#x1F00;&#x03BF;&#x03B9;&#x03B4;&#x03CC;&#x03C2;</foreign>) zu Grunde liegt. Bei der selbstherrlichen <lb n="pbo_085.027"/>
Natur des rhythmischen Systems ist das für uns nicht mehr <lb n="pbo_085.028"/>
möglich. Auch der Pentameter schon wird für uns mehr <lb n="pbo_085.029"/>
durch den Parallelismus mit dem voraufgehenden Hexameter <lb n="pbo_085.030"/>
zusammengehalten und würde selbständig, außerhalb des
</p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[85/0089] pbo_085.001 Hexameter. Durch diesen Abbruch je eines Halbfußes pbo_085.002 an den beiden Stellen erhält er vor und nach der pbo_085.003 Caesur einen Choriambus und gleicht so bei der deutschen pbo_085.004 Trochäenfreiheit im Hexameter durchaus einem kleineren pbo_085.005 Asclepiadeus. Als Vers für sich, in längerer Folge, wäre pbo_085.006 der Pentameter wegen seiner unablässigen Aufhalte in der pbo_085.007 Mitte und am Ende gar nicht zu brauchen. Aber im Wechsel pbo_085.008 mit dem Hexameter, dessen beschwingten Gang er nachdenklich pbo_085.009 unterbricht, im sogenannten Distichon (Doppelreihe) stellt pbo_085.010 er eines der ältesten (vgl. Horaz in der „ars poetica“ über pbo_085.011 den Erfinder: „et adhuc sub judice lis est“) und häufigsten pbo_085.012 Versgebilde namentlich für elegische und epigrammatische pbo_085.013 Vorwürfe dar. Dann bedeutet der Hexameter die Vorbereitung, pbo_085.014 die Erwartung der Empfindung, des Gedankens, der pbo_085.015 Pentameter die Entladung und Lösung: pbo_085.016 Jm Hexameter steigt des Springquells flüssige Säule, pbo_085.017 Jm Pentameter drauf fällt sie melodisch herab. pbo_085.018 Der Pentameter steht vermöge des starken Einschnittes pbo_085.019 zwischen seinen Hälften auf der Grenze jener Versbildungen, pbo_085.020 welche die Griechen wegen ihres lockeren oder ganz fehlenden pbo_085.021 metrischen Zusammenhanges asynartetisch nannten. Bei pbo_085.022 der schon erörterten leichteren Anschmiegungsfähigkeit des pbo_085.023 metrischen Systems konnte den Alten die logische Sinnreihe pbo_085.024 in diesen Fällen das Maß für den Vers abgeben, pbo_085.025 eine Freiheit, die vielleicht auch dem Begriffe des Logaödischen pbo_085.026 (λόγος ἀοιδός) zu Grunde liegt. Bei der selbstherrlichen pbo_085.027 Natur des rhythmischen Systems ist das für uns nicht mehr pbo_085.028 möglich. Auch der Pentameter schon wird für uns mehr pbo_085.029 durch den Parallelismus mit dem voraufgehenden Hexameter pbo_085.030 zusammengehalten und würde selbständig, außerhalb des

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: manuell (doppelt erfasst).

Bogensignaturen: nicht übernommen; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): gekennzeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: DTABf-getreu; Zeilenumbrüche markiert: ja;

Hervorhebungen durch Wechsel von Fraktur zu Antiqua: nicht gekennzeichnet




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/borinski_poetik_1895
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/borinski_poetik_1895/89
Zitationshilfe: Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/borinski_poetik_1895/89>, abgerufen am 22.11.2024.