Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bräker, Ulrich: Lebensgeschichte und natürliche Ebentheuer des Armen Mannes im Tockenburg. Herausgegeben von H. H. Füßli. Zürich, 1789.

Bild:
<< vorherige Seite

haftigkeit weit. Ich hingegen stuhnd, theils meiner
leiblichen Schmerzen, theils meiner schrecklichen Vor-
stellungen wegen, noch ein paar Tage Höllenangst
aus, bis es mir endlich in einer glücklichen Stunde ge-
lang: Mich und meine Sachen gar und ganz dem lieben
Gott auf Gnad und Ungnad zu übergeben. Bis-
her war ich ein ziemlich mürrischer Patient. Nun
ließ ich mit mir machen, was jeder gern wollte.
Meine Frau, ihre Schwester, und Herr Doktor
Wirth, gaben sich alle ersinnliche Sorge um mich.
Der Höchste segnete ihre Mühe, so daß ich innert acht
Tagen wieder aufkam, und auch meine drey Kleinen sich
allmählig erholten. Als ich noch darniederlag, kam
eines Abends meine Schwägerin, und eröffnete mir:
Meine zwey Geissen seyen auf und davon. "Ey so
"fahre denn alles hin"! sagt' ich, "wenn's so seyn
"muß". Allein des folgenden Morgens raft' ich
mich so schwach und blöd ich noch war, auf, meine
Thiere zu suchen, und fand sie wieder zu mein und
meiner Kinder grosser Freude.

Sonst war der Jammer, Hunger und Kummer,
damals im Land allgemein. Alle Tag' trug man
Leichen zu Grabe, oft 3. 4. bis 11. miteinander.
Nun dankt' ich dem L. Gott, daß er mir wieder so ge-
holfen; und eben so sehr, daß Er meine zwey Lie-
ben versorgt hatte, denen ich nicht helfen konnte.
Aber sehr lange schwebten mir die anmuthigen Din-
ger, ihr gutartiges kindliches Wesen immer wie leib-
haftig vor Augen. "O ihr geliebten Kinder"!
stöhnt' ich dann des Tages wohl hundertmal: "Wenn

haftigkeit weit. Ich hingegen ſtuhnd, theils meiner
leiblichen Schmerzen, theils meiner ſchrecklichen Vor-
ſtellungen wegen, noch ein paar Tage Hoͤllenangſt
aus, bis es mir endlich in einer gluͤcklichen Stunde ge-
lang: Mich und meine Sachen gar und ganz dem lieben
Gott auf Gnad und Ungnad zu uͤbergeben. Bis-
her war ich ein ziemlich muͤrriſcher Patient. Nun
ließ ich mit mir machen, was jeder gern wollte.
Meine Frau, ihre Schweſter, und Herr Doktor
Wirth, gaben ſich alle erſinnliche Sorge um mich.
Der Hoͤchſte ſegnete ihre Muͤhe, ſo daß ich innert acht
Tagen wieder aufkam, und auch meine drey Kleinen ſich
allmaͤhlig erholten. Als ich noch darniederlag, kam
eines Abends meine Schwaͤgerin, und eroͤffnete mir:
Meine zwey Geiſſen ſeyen auf und davon. „Ey ſo
„fahre denn alles hin„! ſagt’ ich, „wenn’s ſo ſeyn
„muß„. Allein des folgenden Morgens raft’ ich
mich ſo ſchwach und bloͤd ich noch war, auf, meine
Thiere zu ſuchen, und fand ſie wieder zu mein und
meiner Kinder groſſer Freude.

Sonſt war der Jammer, Hunger und Kummer,
damals im Land allgemein. Alle Tag’ trug man
Leichen zu Grabe, oft 3. 4. bis 11. miteinander.
Nun dankt’ ich dem L. Gott, daß er mir wieder ſo ge-
holfen; und eben ſo ſehr, daß Er meine zwey Lie-
ben verſorgt hatte, denen ich nicht helfen konnte.
Aber ſehr lange ſchwebten mir die anmuthigen Din-
ger, ihr gutartiges kindliches Weſen immer wie leib-
haftig vor Augen. „O ihr geliebten Kinder„!
ſtoͤhnt’ ich dann des Tages wohl hundertmal: „Wenn

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0219" n="203"/>
haftigkeit weit. Ich hingegen &#x017F;tuhnd, theils meiner<lb/>
leiblichen Schmerzen, theils meiner &#x017F;chrecklichen Vor-<lb/>
&#x017F;tellungen wegen, noch ein paar Tage Ho&#x0364;llenang&#x017F;t<lb/>
aus, bis es mir endlich in einer glu&#x0364;cklichen Stunde ge-<lb/>
lang: Mich und meine Sachen gar und ganz dem lieben<lb/>
Gott auf Gnad und Ungnad zu u&#x0364;bergeben. Bis-<lb/>
her war ich ein ziemlich mu&#x0364;rri&#x017F;cher Patient. Nun<lb/>
ließ ich mit mir machen, was jeder gern wollte.<lb/>
Meine Frau, ihre Schwe&#x017F;ter, und Herr Doktor<lb/><hi rendition="#fr">Wirth</hi>, gaben &#x017F;ich alle er&#x017F;innliche Sorge um mich.<lb/>
Der Ho&#x0364;ch&#x017F;te &#x017F;egnete ihre Mu&#x0364;he, &#x017F;o daß ich innert acht<lb/>
Tagen wieder aufkam, und auch meine drey Kleinen &#x017F;ich<lb/>
allma&#x0364;hlig erholten. Als ich noch darniederlag, kam<lb/>
eines Abends meine Schwa&#x0364;gerin, und ero&#x0364;ffnete mir:<lb/>
Meine zwey Gei&#x017F;&#x017F;en &#x017F;eyen auf und davon. &#x201E;Ey &#x017F;o<lb/>
&#x201E;fahre denn alles hin&#x201E;! &#x017F;agt&#x2019; ich, &#x201E;wenn&#x2019;s &#x017F;o &#x017F;eyn<lb/>
&#x201E;muß&#x201E;. Allein des folgenden Morgens raft&#x2019; ich<lb/>
mich &#x017F;o &#x017F;chwach und blo&#x0364;d ich noch war, auf, meine<lb/>
Thiere zu &#x017F;uchen, und fand &#x017F;ie wieder zu mein und<lb/>
meiner Kinder gro&#x017F;&#x017F;er Freude.</p><lb/>
        <p>Son&#x017F;t war der Jammer, Hunger und Kummer,<lb/>
damals im Land allgemein. Alle Tag&#x2019; trug man<lb/>
Leichen zu Grabe, oft 3. 4. bis 11. miteinander.<lb/>
Nun dankt&#x2019; ich dem L. Gott, daß er mir wieder &#x017F;o ge-<lb/>
holfen; und eben &#x017F;o &#x017F;ehr, daß Er meine zwey Lie-<lb/>
ben ver&#x017F;orgt hatte, denen ich nicht helfen konnte.<lb/>
Aber &#x017F;ehr lange &#x017F;chwebten mir die anmuthigen Din-<lb/>
ger, ihr gutartiges kindliches We&#x017F;en immer wie leib-<lb/>
haftig vor Augen. &#x201E;O ihr geliebten Kinder&#x201E;!<lb/>
&#x017F;to&#x0364;hnt&#x2019; ich dann des Tages wohl hundertmal: &#x201E;Wenn<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[203/0219] haftigkeit weit. Ich hingegen ſtuhnd, theils meiner leiblichen Schmerzen, theils meiner ſchrecklichen Vor- ſtellungen wegen, noch ein paar Tage Hoͤllenangſt aus, bis es mir endlich in einer gluͤcklichen Stunde ge- lang: Mich und meine Sachen gar und ganz dem lieben Gott auf Gnad und Ungnad zu uͤbergeben. Bis- her war ich ein ziemlich muͤrriſcher Patient. Nun ließ ich mit mir machen, was jeder gern wollte. Meine Frau, ihre Schweſter, und Herr Doktor Wirth, gaben ſich alle erſinnliche Sorge um mich. Der Hoͤchſte ſegnete ihre Muͤhe, ſo daß ich innert acht Tagen wieder aufkam, und auch meine drey Kleinen ſich allmaͤhlig erholten. Als ich noch darniederlag, kam eines Abends meine Schwaͤgerin, und eroͤffnete mir: Meine zwey Geiſſen ſeyen auf und davon. „Ey ſo „fahre denn alles hin„! ſagt’ ich, „wenn’s ſo ſeyn „muß„. Allein des folgenden Morgens raft’ ich mich ſo ſchwach und bloͤd ich noch war, auf, meine Thiere zu ſuchen, und fand ſie wieder zu mein und meiner Kinder groſſer Freude. Sonſt war der Jammer, Hunger und Kummer, damals im Land allgemein. Alle Tag’ trug man Leichen zu Grabe, oft 3. 4. bis 11. miteinander. Nun dankt’ ich dem L. Gott, daß er mir wieder ſo ge- holfen; und eben ſo ſehr, daß Er meine zwey Lie- ben verſorgt hatte, denen ich nicht helfen konnte. Aber ſehr lange ſchwebten mir die anmuthigen Din- ger, ihr gutartiges kindliches Weſen immer wie leib- haftig vor Augen. „O ihr geliebten Kinder„! ſtoͤhnt’ ich dann des Tages wohl hundertmal: „Wenn

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/braeker_lebensgeschichte_1789
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/braeker_lebensgeschichte_1789/219
Zitationshilfe: Bräker, Ulrich: Lebensgeschichte und natürliche Ebentheuer des Armen Mannes im Tockenburg. Herausgegeben von H. H. Füßli. Zürich, 1789, S. 203. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/braeker_lebensgeschichte_1789/219>, abgerufen am 21.11.2024.