Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bräker, Ulrich: Lebensgeschichte und natürliche Ebentheuer des Armen Mannes im Tockenburg. Herausgegeben von H. H. Füßli. Zürich, 1789.

Bild:
<< vorherige Seite

Herbst, wo die Fahrt frey war, hütete ich meist
allein; trug ein Büchlein, das mir bloß darum jetzt
noch lieb ist, bey mir, und las oft darinn. Noch
weiß ich verschiedene sonderbare Stellen auswendig,
die mich damals bis zu Thränen rührten. Jetzt
kamen mir die bösen Neigungen in meinem Busen
abscheulich vor, und machten mir angst und bang.
Ich betete, rang die Hände, sah zum Himmel, bis
mir die hellen Thränen über die Backen rollten; faßte
einen Vorsatz über den andern, und machte mir so
strenge Pläne für ein künftiges frommes Leben, daß
ich darüber allen Frohmuth verlor. Ich versagte mir
alle Arten von Freude, und hatte z. E. lang einen
ernstlichen Kampf mit mir selber wegen einem Distel-
fink der mir sehr lieb war, ob ich ihn weggeben oder
behalten sollte? Ueber diesen einzigen Vogel dacht' ich
oft weit und breit herum. Bald kam mir die Fromm-
keit, wie ich mir solche damals vorstellte, als ein
unersteiglicher Berg, bald wieder federleicht vor.
Meine Geschwister mocht' ich herzlich lieben; aber je
mehr ich's wollte, je mehr sah ich Widriges an ih-
nen. In Kurzem wußt' ich weder Anfang noch End
mehr; und niemand war der mir heraushelfen konnte,
da ich meine Lage keiner Menschenseele entdeckte. Ich
machte mir alles zur Sünde: Lachen, Jauchzen und Pfei-
fen per se. Meine Gaißen sollten mich nicht mehr
erzörnen dürfen -- und ich ward eher böser auf sie.
Eines Tags bracht' ich einen todten Vogel nach Haus,
den ein Mann geschossen, und auf einem Stecken
in die Wiese aufgesteckt hatte: Ich nahm ihn, wie

Herbſt, wo die Fahrt frey war, huͤtete ich meiſt
allein; trug ein Buͤchlein, das mir bloß darum jetzt
noch lieb iſt, bey mir, und laſ oft darinn. Noch
weiß ich verſchiedene ſonderbare Stellen auswendig,
die mich damals bis zu Thraͤnen ruͤhrten. Jetzt
kamen mir die boͤſen Neigungen in meinem Buſen
abſcheulich vor, und machten mir angſt und bang.
Ich betete, rang die Haͤnde, ſah zum Himmel, bis
mir die hellen Thraͤnen uͤber die Backen rollten; faßte
einen Vorſatz uͤber den andern, und machte mir ſo
ſtrenge Plaͤne fuͤr ein kuͤnftiges frommes Leben, daß
ich daruͤber allen Frohmuth verlor. Ich verſagte mir
alle Arten von Freude, und hatte z. E. lang einen
ernſtlichen Kampf mit mir ſelber wegen einem Diſtel-
fink der mir ſehr lieb war, ob ich ihn weggeben oder
behalten ſollte? Ueber dieſen einzigen Vogel dacht’ ich
oft weit und breit herum. Bald kam mir die Fromm-
keit, wie ich mir ſolche damals vorſtellte, als ein
unerſteiglicher Berg, bald wieder federleicht vor.
Meine Geſchwiſter mocht’ ich herzlich lieben; aber je
mehr ich’s wollte, je mehr ſah ich Widriges an ih-
nen. In Kurzem wußt’ ich weder Anfang noch End
mehr; und niemand war der mir heraushelfen konnte,
da ich meine Lage keiner Menſchenſeele entdeckte. Ich
machte mir alles zur Suͤnde: Lachen, Jauchzen und Pfei-
fen per ſe. Meine Gaißen ſollten mich nicht mehr
erzoͤrnen duͤrfen — und ich ward eher boͤſer auf ſie.
Eines Tags bracht’ ich einen todten Vogel nach Haus,
den ein Mann geſchoſſen, und auf einem Stecken
in die Wieſe aufgeſteckt hatte: Ich nahm ihn, wie

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0054" n="38"/>
Herb&#x017F;t, wo die Fahrt frey war, hu&#x0364;tete ich mei&#x017F;t<lb/>
allein; trug ein Bu&#x0364;chlein, das mir bloß darum jetzt<lb/>
noch lieb i&#x017F;t, bey mir, und la&#x017F; oft darinn. Noch<lb/>
weiß ich ver&#x017F;chiedene &#x017F;onderbare Stellen auswendig,<lb/>
die mich damals bis zu Thra&#x0364;nen ru&#x0364;hrten. Jetzt<lb/>
kamen mir die bo&#x0364;&#x017F;en Neigungen in meinem Bu&#x017F;en<lb/>
ab&#x017F;cheulich vor, und machten mir ang&#x017F;t und bang.<lb/>
Ich betete, rang die Ha&#x0364;nde, &#x017F;ah zum Himmel, bis<lb/>
mir die hellen Thra&#x0364;nen u&#x0364;ber die Backen rollten; faßte<lb/>
einen Vor&#x017F;atz u&#x0364;ber den andern, und machte mir &#x017F;o<lb/>
&#x017F;trenge Pla&#x0364;ne fu&#x0364;r ein ku&#x0364;nftiges frommes Leben, daß<lb/>
ich daru&#x0364;ber allen Frohmuth verlor. Ich ver&#x017F;agte mir<lb/>
alle Arten von Freude, und hatte z. E. lang einen<lb/>
ern&#x017F;tlichen Kampf mit mir &#x017F;elber wegen einem Di&#x017F;tel-<lb/>
fink der mir &#x017F;ehr lieb war, ob ich ihn weggeben oder<lb/>
behalten &#x017F;ollte? Ueber die&#x017F;en einzigen Vogel dacht&#x2019; ich<lb/>
oft weit und breit herum. Bald kam mir die Fromm-<lb/>
keit, wie ich mir &#x017F;olche damals vor&#x017F;tellte, als ein<lb/>
uner&#x017F;teiglicher Berg, bald wieder federleicht vor.<lb/>
Meine Ge&#x017F;chwi&#x017F;ter mocht&#x2019; ich herzlich lieben; aber je<lb/>
mehr ich&#x2019;s wollte, je mehr &#x017F;ah ich Widriges an ih-<lb/>
nen. In Kurzem wußt&#x2019; ich weder Anfang noch End<lb/>
mehr; und niemand war der mir heraushelfen konnte,<lb/>
da ich meine Lage keiner Men&#x017F;chen&#x017F;eele entdeckte. Ich<lb/>
machte mir alles zur Su&#x0364;nde: Lachen, Jauchzen und Pfei-<lb/>
fen per &#x017F;e. Meine Gaißen &#x017F;ollten mich nicht mehr<lb/>
erzo&#x0364;rnen du&#x0364;rfen &#x2014; und ich ward eher bo&#x0364;&#x017F;er auf &#x017F;ie.<lb/>
Eines Tags bracht&#x2019; ich einen todten Vogel nach Haus,<lb/>
den ein Mann ge&#x017F;cho&#x017F;&#x017F;en, und auf einem Stecken<lb/>
in die Wie&#x017F;e aufge&#x017F;teckt hatte: Ich nahm ihn, wie<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[38/0054] Herbſt, wo die Fahrt frey war, huͤtete ich meiſt allein; trug ein Buͤchlein, das mir bloß darum jetzt noch lieb iſt, bey mir, und laſ oft darinn. Noch weiß ich verſchiedene ſonderbare Stellen auswendig, die mich damals bis zu Thraͤnen ruͤhrten. Jetzt kamen mir die boͤſen Neigungen in meinem Buſen abſcheulich vor, und machten mir angſt und bang. Ich betete, rang die Haͤnde, ſah zum Himmel, bis mir die hellen Thraͤnen uͤber die Backen rollten; faßte einen Vorſatz uͤber den andern, und machte mir ſo ſtrenge Plaͤne fuͤr ein kuͤnftiges frommes Leben, daß ich daruͤber allen Frohmuth verlor. Ich verſagte mir alle Arten von Freude, und hatte z. E. lang einen ernſtlichen Kampf mit mir ſelber wegen einem Diſtel- fink der mir ſehr lieb war, ob ich ihn weggeben oder behalten ſollte? Ueber dieſen einzigen Vogel dacht’ ich oft weit und breit herum. Bald kam mir die Fromm- keit, wie ich mir ſolche damals vorſtellte, als ein unerſteiglicher Berg, bald wieder federleicht vor. Meine Geſchwiſter mocht’ ich herzlich lieben; aber je mehr ich’s wollte, je mehr ſah ich Widriges an ih- nen. In Kurzem wußt’ ich weder Anfang noch End mehr; und niemand war der mir heraushelfen konnte, da ich meine Lage keiner Menſchenſeele entdeckte. Ich machte mir alles zur Suͤnde: Lachen, Jauchzen und Pfei- fen per ſe. Meine Gaißen ſollten mich nicht mehr erzoͤrnen duͤrfen — und ich ward eher boͤſer auf ſie. Eines Tags bracht’ ich einen todten Vogel nach Haus, den ein Mann geſchoſſen, und auf einem Stecken in die Wieſe aufgeſteckt hatte: Ich nahm ihn, wie

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/braeker_lebensgeschichte_1789
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/braeker_lebensgeschichte_1789/54
Zitationshilfe: Bräker, Ulrich: Lebensgeschichte und natürliche Ebentheuer des Armen Mannes im Tockenburg. Herausgegeben von H. H. Füßli. Zürich, 1789, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/braeker_lebensgeschichte_1789/54>, abgerufen am 21.11.2024.