Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brandes, Heinrich Wilhelm: Vorlesungen über die Naturlehre. Bd. 1. Leipzig, 1830.

Bild:
<< vorherige Seite

pern beobachtet werden. Die Naturlehre im engern Sinne
dagegen hat den Zweck, die Veränderungen in der Körperwelt
aufzufassen, und die Naturgesetze, nach welchen sie erfolgen, auf-
zusuchen. Sie umfaßt daher eigentlich ebensowohl die Erschei-
nungen der belebten, als der leblosen Schöpfung; aber um das
immer noch sehr große Gebiet der Naturlehre etwas enger zu
begrenzen, sondern wir die Physiologie, die von den Gesetzen
handelt, nach welchen die Erscheinungen der lebendigen Körper
sich richten, von ihr ab. Diese Gesetze des Lebens und der Le-
bensthätigkeit bieten so viel Schwieriges und so viel Eigenthüm-
liches dar, daß sie mit großem Rechte als eine eigne Wissenschaft
bildend angesehen werden; indeß stützt sich auch wieder die Phy-
siologie sehr oft auf die allgemeinen Gesetze, die in der leblosen
Körperwelt gelten, und manche Erscheinung kömmt genau so
oder allenfalls nur wenig modificirt, bei den belebten, wie bei den
leblosen Körpern vor, so daß manche Phänomene der belebten
Welt, als größtentheils in das Gebiet der Physik fallend, anzu-
sehen sind. -- Ich sollte hier nun freilich die Frage beantworten,
wo denn das Reich der Lebensthätigkeit anfange, und wo dem-
nach die Forschungen der Physik in dieser Hinsicht ihre Grenze
finden; aber diese Untersuchung, deren Schwierigkeit selbst da,
wo sie sich bei den einzelnen Erscheinungen darbietet, schon
sehr groß ist, würde unüberwindliche Schwierigkeiten darbieten,
wenn man sie im Allgemeinen durchzuführen unternehmen wollte,
und ich will daher lieber hier eine offen eingestandene Lücke
lassen, als bei dem verfehlten Unternehmen, sie auszufüllen, ver-
weilen.

Alle Veränderungen also, die wir in der leblosen Natur
wahrnehmen, gehören der Betrachtung der Naturkunde oder der
im engern Sinne so genannten Physik an. Wie sie sich an-
einander reihen, soll uns eine wohlgeordnete Beobachtung lehren,
und unser bei jeder Erscheinung nach der Ursache derselben fragen-
der Verstand, soll aus der Verbindung der Erscheinungen auf ihre
Ursachen, auf ihre nächsten und auf ihre höher hinauf liegenden
Grund-Ursachen schließen; auf diesem Wege soll, wenn es möglich
ist, ein System der Physik dargestellt werden, welches uns die An-
ordnung der ganzen Natur überschauen läßt, welches alle Erschei-

A 2

pern beobachtet werden. Die Naturlehre im engern Sinne
dagegen hat den Zweck, die Veraͤnderungen in der Koͤrperwelt
aufzufaſſen, und die Naturgeſetze, nach welchen ſie erfolgen, auf-
zuſuchen. Sie umfaßt daher eigentlich ebenſowohl die Erſchei-
nungen der belebten, als der lebloſen Schoͤpfung; aber um das
immer noch ſehr große Gebiet der Naturlehre etwas enger zu
begrenzen, ſondern wir die Phyſiologie, die von den Geſetzen
handelt, nach welchen die Erſcheinungen der lebendigen Koͤrper
ſich richten, von ihr ab. Dieſe Geſetze des Lebens und der Le-
bensthaͤtigkeit bieten ſo viel Schwieriges und ſo viel Eigenthuͤm-
liches dar, daß ſie mit großem Rechte als eine eigne Wiſſenſchaft
bildend angeſehen werden; indeß ſtuͤtzt ſich auch wieder die Phy-
ſiologie ſehr oft auf die allgemeinen Geſetze, die in der lebloſen
Koͤrperwelt gelten, und manche Erſcheinung koͤmmt genau ſo
oder allenfalls nur wenig modificirt, bei den belebten, wie bei den
lebloſen Koͤrpern vor, ſo daß manche Phaͤnomene der belebten
Welt, als groͤßtentheils in das Gebiet der Phyſik fallend, anzu-
ſehen ſind. — Ich ſollte hier nun freilich die Frage beantworten,
wo denn das Reich der Lebensthaͤtigkeit anfange, und wo dem-
nach die Forſchungen der Phyſik in dieſer Hinſicht ihre Grenze
finden; aber dieſe Unterſuchung, deren Schwierigkeit ſelbſt da,
wo ſie ſich bei den einzelnen Erſcheinungen darbietet, ſchon
ſehr groß iſt, wuͤrde unuͤberwindliche Schwierigkeiten darbieten,
wenn man ſie im Allgemeinen durchzufuͤhren unternehmen wollte,
und ich will daher lieber hier eine offen eingeſtandene Luͤcke
laſſen, als bei dem verfehlten Unternehmen, ſie auszufuͤllen, ver-
weilen.

Alle Veraͤnderungen alſo, die wir in der lebloſen Natur
wahrnehmen, gehoͤren der Betrachtung der Naturkunde oder der
im engern Sinne ſo genannten Phyſik an. Wie ſie ſich an-
einander reihen, ſoll uns eine wohlgeordnete Beobachtung lehren,
und unſer bei jeder Erſcheinung nach der Urſache derſelben fragen-
der Verſtand, ſoll aus der Verbindung der Erſcheinungen auf ihre
Urſachen, auf ihre naͤchſten und auf ihre hoͤher hinauf liegenden
Grund-Urſachen ſchließen; auf dieſem Wege ſoll, wenn es moͤglich
iſt, ein Syſtem der Phyſik dargeſtellt werden, welches uns die An-
ordnung der ganzen Natur uͤberſchauen laͤßt, welches alle Erſchei-

A 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0025" n="03[3]"/>
pern beobachtet werden. <hi rendition="#g">Die Naturlehre</hi> im engern Sinne<lb/>
dagegen hat den Zweck, die Vera&#x0364;nderungen in der Ko&#x0364;rperwelt<lb/>
aufzufa&#x017F;&#x017F;en, und die Naturge&#x017F;etze, nach welchen &#x017F;ie erfolgen, auf-<lb/>
zu&#x017F;uchen. Sie umfaßt daher eigentlich eben&#x017F;owohl die Er&#x017F;chei-<lb/>
nungen der belebten, als der leblo&#x017F;en Scho&#x0364;pfung; aber um das<lb/>
immer noch &#x017F;ehr große Gebiet der Naturlehre etwas enger zu<lb/>
begrenzen, &#x017F;ondern wir die <hi rendition="#g">Phy&#x017F;iologie</hi>, die von den Ge&#x017F;etzen<lb/>
handelt, nach welchen die Er&#x017F;cheinungen der lebendigen Ko&#x0364;rper<lb/>
&#x017F;ich richten, von ihr ab. Die&#x017F;e Ge&#x017F;etze des Lebens und der Le-<lb/>
benstha&#x0364;tigkeit bieten &#x017F;o viel Schwieriges und &#x017F;o viel Eigenthu&#x0364;m-<lb/>
liches dar, daß &#x017F;ie mit großem Rechte als eine eigne Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft<lb/>
bildend ange&#x017F;ehen werden; indeß &#x017F;tu&#x0364;tzt &#x017F;ich auch wieder die Phy-<lb/>
&#x017F;iologie &#x017F;ehr oft auf die allgemeinen Ge&#x017F;etze, die in der leblo&#x017F;en<lb/>
Ko&#x0364;rperwelt gelten, und manche Er&#x017F;cheinung ko&#x0364;mmt genau &#x017F;o<lb/>
oder allenfalls nur wenig modificirt, bei den belebten, wie bei den<lb/>
leblo&#x017F;en Ko&#x0364;rpern vor, &#x017F;o daß manche Pha&#x0364;nomene der belebten<lb/>
Welt, als gro&#x0364;ßtentheils in das Gebiet der Phy&#x017F;ik fallend, anzu-<lb/>
&#x017F;ehen &#x017F;ind. &#x2014; Ich &#x017F;ollte hier nun freilich die Frage beantworten,<lb/>
wo denn das Reich der Lebenstha&#x0364;tigkeit anfange, und wo dem-<lb/>
nach die For&#x017F;chungen der Phy&#x017F;ik in die&#x017F;er Hin&#x017F;icht ihre Grenze<lb/>
finden; aber die&#x017F;e Unter&#x017F;uchung, deren Schwierigkeit &#x017F;elb&#x017F;t da,<lb/>
wo &#x017F;ie &#x017F;ich bei den einzelnen Er&#x017F;cheinungen darbietet, &#x017F;chon<lb/>
&#x017F;ehr groß i&#x017F;t, wu&#x0364;rde unu&#x0364;berwindliche Schwierigkeiten darbieten,<lb/>
wenn man &#x017F;ie im Allgemeinen durchzufu&#x0364;hren unternehmen wollte,<lb/>
und ich will daher lieber hier eine offen einge&#x017F;tandene Lu&#x0364;cke<lb/>
la&#x017F;&#x017F;en, als bei dem verfehlten Unternehmen, &#x017F;ie auszufu&#x0364;llen, ver-<lb/>
weilen.</p><lb/>
            <p>Alle Vera&#x0364;nderungen al&#x017F;o, die wir in der <hi rendition="#g">leblo&#x017F;en</hi> Natur<lb/>
wahrnehmen, geho&#x0364;ren der Betrachtung der <hi rendition="#g">Naturkunde</hi> oder der<lb/>
im engern Sinne &#x017F;o genannten <hi rendition="#g">Phy&#x017F;ik</hi> an. Wie &#x017F;ie &#x017F;ich an-<lb/>
einander reihen, &#x017F;oll uns eine wohlgeordnete Beobachtung lehren,<lb/>
und un&#x017F;er bei jeder Er&#x017F;cheinung nach der Ur&#x017F;ache der&#x017F;elben fragen-<lb/>
der Ver&#x017F;tand, &#x017F;oll aus der Verbindung der Er&#x017F;cheinungen auf ihre<lb/>
Ur&#x017F;achen, auf ihre na&#x0364;ch&#x017F;ten und auf ihre ho&#x0364;her hinauf liegenden<lb/>
Grund-Ur&#x017F;achen &#x017F;chließen; auf die&#x017F;em Wege &#x017F;oll, wenn es mo&#x0364;glich<lb/>
i&#x017F;t, ein Sy&#x017F;tem der Phy&#x017F;ik darge&#x017F;tellt werden, welches uns die An-<lb/>
ordnung der ganzen Natur u&#x0364;ber&#x017F;chauen la&#x0364;ßt, welches alle Er&#x017F;chei-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">A 2</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[03[3]/0025] pern beobachtet werden. Die Naturlehre im engern Sinne dagegen hat den Zweck, die Veraͤnderungen in der Koͤrperwelt aufzufaſſen, und die Naturgeſetze, nach welchen ſie erfolgen, auf- zuſuchen. Sie umfaßt daher eigentlich ebenſowohl die Erſchei- nungen der belebten, als der lebloſen Schoͤpfung; aber um das immer noch ſehr große Gebiet der Naturlehre etwas enger zu begrenzen, ſondern wir die Phyſiologie, die von den Geſetzen handelt, nach welchen die Erſcheinungen der lebendigen Koͤrper ſich richten, von ihr ab. Dieſe Geſetze des Lebens und der Le- bensthaͤtigkeit bieten ſo viel Schwieriges und ſo viel Eigenthuͤm- liches dar, daß ſie mit großem Rechte als eine eigne Wiſſenſchaft bildend angeſehen werden; indeß ſtuͤtzt ſich auch wieder die Phy- ſiologie ſehr oft auf die allgemeinen Geſetze, die in der lebloſen Koͤrperwelt gelten, und manche Erſcheinung koͤmmt genau ſo oder allenfalls nur wenig modificirt, bei den belebten, wie bei den lebloſen Koͤrpern vor, ſo daß manche Phaͤnomene der belebten Welt, als groͤßtentheils in das Gebiet der Phyſik fallend, anzu- ſehen ſind. — Ich ſollte hier nun freilich die Frage beantworten, wo denn das Reich der Lebensthaͤtigkeit anfange, und wo dem- nach die Forſchungen der Phyſik in dieſer Hinſicht ihre Grenze finden; aber dieſe Unterſuchung, deren Schwierigkeit ſelbſt da, wo ſie ſich bei den einzelnen Erſcheinungen darbietet, ſchon ſehr groß iſt, wuͤrde unuͤberwindliche Schwierigkeiten darbieten, wenn man ſie im Allgemeinen durchzufuͤhren unternehmen wollte, und ich will daher lieber hier eine offen eingeſtandene Luͤcke laſſen, als bei dem verfehlten Unternehmen, ſie auszufuͤllen, ver- weilen. Alle Veraͤnderungen alſo, die wir in der lebloſen Natur wahrnehmen, gehoͤren der Betrachtung der Naturkunde oder der im engern Sinne ſo genannten Phyſik an. Wie ſie ſich an- einander reihen, ſoll uns eine wohlgeordnete Beobachtung lehren, und unſer bei jeder Erſcheinung nach der Urſache derſelben fragen- der Verſtand, ſoll aus der Verbindung der Erſcheinungen auf ihre Urſachen, auf ihre naͤchſten und auf ihre hoͤher hinauf liegenden Grund-Urſachen ſchließen; auf dieſem Wege ſoll, wenn es moͤglich iſt, ein Syſtem der Phyſik dargeſtellt werden, welches uns die An- ordnung der ganzen Natur uͤberſchauen laͤßt, welches alle Erſchei- A 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brandes_naturlehre01_1830
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brandes_naturlehre01_1830/25
Zitationshilfe: Brandes, Heinrich Wilhelm: Vorlesungen über die Naturlehre. Bd. 1. Leipzig, 1830, S. 03[3]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brandes_naturlehre01_1830/25>, abgerufen am 29.04.2024.