nungen auf ihre wahren Ursachen zurückführt, und alle Räthsel lö- set, welche sich uns in der uns umgebenden Wunder vollen Welt darbieten. -- Ich habe wohl nicht nöthig hinzuzusetzen, daß dies zwar das Ziel, aber auch das unerreichbare Ziel unsrer Bestrebun- gen ist; daß wir zwar Gelegenheit genug finden, uns des glückli- chen Erfolges der Untersuchungen zu erfreuen, die wir beendiget vor uns sehen, ja daß wir Grund genug finden, zu erstaunen über den schon erlangten Reichthum tief eindringender Aufschlüsse über die Gesetze der Natur-Erscheinungen, aber daß dennoch die unermeß- lich reiche Natur uns immer noch zu dem Bekenntnisse zwingt, und gewiß unsre spätesten Nachkommen zu dem Bekenntnisse zwin- gen wird, daß wir nur das Wenigste erkennen, und viel Größeres uns noch verborgen bleibt.
Richtige Anordnung der Naturforschung.
Auf welchem Wege gelangen wir denn zur Kenntniß der Na- turgesetze? -- das ist wohl die Frage, welche sich uns nun zuerst darbietet. Man hat oft die Hoffnung ausgesprochen, daß eine Naturphilosophie, gegründet auf eine Reihe wohl geordneter Schlüsse, uns tief in das innere Wesen der Dinge hinein führen könne; aber, obgleich es wahr ist, wie ich bald zeigen werde, daß wir einige Eigenschaften der Materie als nothwendig anerkennen, und, daß sich so einige Grundzüge naturwissenschaftlicher Kenntnisse a priori entwickeln lassen, so ist es doch ohne allen Zweifel auch wahr, daß der Umfang dieser nützlichen Naturphilosophie in sehr enge Grenzen eingeschlossen ist, und daß sie uns gänzlich verläßt, wo es auf einzelne Erscheinungen und ihre Erklärung an- kömmt. Die Erfahrung kann allein hier unsre Leiterin sein, und die Kunst, Erfahrungen zu sammeln und an einander zu rei- hen, ist die eigentliche Kunst des Physikers. Auf diese Kunst deu- ten wir schon hin, wenn wir vom Beobachten reden. Das Heer der Erscheinungen bietet sich jedem Auge dar, und wer nicht allzu stumpfsinnig die wechselnden Erscheinungen an sich vorüber- gehen lässet, der nimmt auch diese Phänomene wahr; aber wir sagen erst dann, daß er sie beobachte, wenn er auf jedes Einzelne in der Erscheinung merkt, wenn er mit Ueberlegung auf den Gang der Erscheinungen achtet, und aus dem Gewirre mannig-
nungen auf ihre wahren Urſachen zuruͤckfuͤhrt, und alle Raͤthſel loͤ- ſet, welche ſich uns in der uns umgebenden Wunder vollen Welt darbieten. — Ich habe wohl nicht noͤthig hinzuzuſetzen, daß dies zwar das Ziel, aber auch das unerreichbare Ziel unſrer Beſtrebun- gen iſt; daß wir zwar Gelegenheit genug finden, uns des gluͤckli- chen Erfolges der Unterſuchungen zu erfreuen, die wir beendiget vor uns ſehen, ja daß wir Grund genug finden, zu erſtaunen uͤber den ſchon erlangten Reichthum tief eindringender Aufſchluͤſſe uͤber die Geſetze der Natur-Erſcheinungen, aber daß dennoch die unermeß- lich reiche Natur uns immer noch zu dem Bekenntniſſe zwingt, und gewiß unſre ſpaͤteſten Nachkommen zu dem Bekenntniſſe zwin- gen wird, daß wir nur das Wenigſte erkennen, und viel Groͤßeres uns noch verborgen bleibt.
Richtige Anordnung der Naturforſchung.
Auf welchem Wege gelangen wir denn zur Kenntniß der Na- turgeſetze? — das iſt wohl die Frage, welche ſich uns nun zuerſt darbietet. Man hat oft die Hoffnung ausgeſprochen, daß eine Naturphiloſophie, gegruͤndet auf eine Reihe wohl geordneter Schluͤſſe, uns tief in das innere Weſen der Dinge hinein fuͤhren koͤnne; aber, obgleich es wahr iſt, wie ich bald zeigen werde, daß wir einige Eigenſchaften der Materie als nothwendig anerkennen, und, daß ſich ſo einige Grundzuͤge naturwiſſenſchaftlicher Kenntniſſe a priori entwickeln laſſen, ſo iſt es doch ohne allen Zweifel auch wahr, daß der Umfang dieſer nuͤtzlichen Naturphiloſophie in ſehr enge Grenzen eingeſchloſſen iſt, und daß ſie uns gaͤnzlich verlaͤßt, wo es auf einzelne Erſcheinungen und ihre Erklaͤrung an- koͤmmt. Die Erfahrung kann allein hier unſre Leiterin ſein, und die Kunſt, Erfahrungen zu ſammeln und an einander zu rei- hen, iſt die eigentliche Kunſt des Phyſikers. Auf dieſe Kunſt deu- ten wir ſchon hin, wenn wir vom Beobachten reden. Das Heer der Erſcheinungen bietet ſich jedem Auge dar, und wer nicht allzu ſtumpfſinnig die wechſelnden Erſcheinungen an ſich voruͤber- gehen laͤſſet, der nimmt auch dieſe Phaͤnomene wahr; aber wir ſagen erſt dann, daß er ſie beobachte, wenn er auf jedes Einzelne in der Erſcheinung merkt, wenn er mit Ueberlegung auf den Gang der Erſcheinungen achtet, und aus dem Gewirre mannig-
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[04[4]/0026]
nungen auf ihre wahren Urſachen zuruͤckfuͤhrt, und alle Raͤthſel loͤ-
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darbieten. — Ich habe wohl nicht noͤthig hinzuzuſetzen, daß dies
zwar das Ziel, aber auch das unerreichbare Ziel unſrer Beſtrebun-
gen iſt; daß wir zwar Gelegenheit genug finden, uns des gluͤckli-
chen Erfolges der Unterſuchungen zu erfreuen, die wir beendiget vor
uns ſehen, ja daß wir Grund genug finden, zu erſtaunen uͤber den
ſchon erlangten Reichthum tief eindringender Aufſchluͤſſe uͤber die
Geſetze der Natur-Erſcheinungen, aber daß dennoch die unermeß-
lich reiche Natur uns immer noch zu dem Bekenntniſſe zwingt,
und gewiß unſre ſpaͤteſten Nachkommen zu dem Bekenntniſſe zwin-
gen wird, daß wir nur das Wenigſte erkennen, und viel Groͤßeres
uns noch verborgen bleibt.
Richtige Anordnung der Naturforſchung.
Auf welchem Wege gelangen wir denn zur Kenntniß der Na-
turgeſetze? — das iſt wohl die Frage, welche ſich uns nun zuerſt
darbietet. Man hat oft die Hoffnung ausgeſprochen, daß eine
Naturphiloſophie, gegruͤndet auf eine Reihe wohl geordneter
Schluͤſſe, uns tief in das innere Weſen der Dinge hinein fuͤhren
koͤnne; aber, obgleich es wahr iſt, wie ich bald zeigen werde, daß
wir einige Eigenſchaften der Materie als nothwendig anerkennen,
und, daß ſich ſo einige Grundzuͤge naturwiſſenſchaftlicher Kenntniſſe
a priori entwickeln laſſen, ſo iſt es doch ohne allen Zweifel auch
wahr, daß der Umfang dieſer nuͤtzlichen Naturphiloſophie
in ſehr enge Grenzen eingeſchloſſen iſt, und daß ſie uns gaͤnzlich
verlaͤßt, wo es auf einzelne Erſcheinungen und ihre Erklaͤrung an-
koͤmmt. Die Erfahrung kann allein hier unſre Leiterin ſein,
und die Kunſt, Erfahrungen zu ſammeln und an einander zu rei-
hen, iſt die eigentliche Kunſt des Phyſikers. Auf dieſe Kunſt deu-
ten wir ſchon hin, wenn wir vom Beobachten reden. Das
Heer der Erſcheinungen bietet ſich jedem Auge dar, und wer nicht
allzu ſtumpfſinnig die wechſelnden Erſcheinungen an ſich voruͤber-
gehen laͤſſet, der nimmt auch dieſe Phaͤnomene wahr; aber wir
ſagen erſt dann, daß er ſie beobachte, wenn er auf jedes Einzelne
in der Erſcheinung merkt, wenn er mit Ueberlegung auf den
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Brandes, Heinrich Wilhelm: Vorlesungen über die Naturlehre. Bd. 1. Leipzig, 1830, S. 04[4]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brandes_naturlehre01_1830/26>, abgerufen am 21.11.2024.
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