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Brandes, Heinrich Wilhelm: Vorlesungen über die Naturlehre. Bd. 1. Leipzig, 1830.

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Hypothesen in die Physik zu erklären. So bedenklich man
es gewöhnlich zu finden pflegt, wenn man Hypothesen zur Er-
klärung einer Natur-Erscheinung anwendet, und so oft allerdings
durch den Misbrauch der Hypothesen dem Fortschreiten richtiger
Kenntnisse geschadet worden ist, so läßt es sich doch auch von der
andern Seite nicht leugnen, daß wir fast zu keiner Kenntniß gelan-
gen, ohne eine Hypothese aufzuwerfen. Wenn wir bei Nacht eine
Gegend des Horizontes sich erhellen sehen, so fragen wir: kann
denn der Mond dort aufgehen? -- Diese Frage ist eine Hypo-
these, deren Richtigkeit oder Unrichtigkeit sich freilich sehr bald
entscheiden läßt. Aber ebenso fragen wir, wenn der Blitz ein
Haus getroffen hat und ohne zu zünden zur Erde herabgelaufen
ist, ob dies an der Natur grade dieses Blitzes lag, ob es ein kal-
ter Schlag war, oder ob er durch Umstände, die in der Beschaf-
fenheit des Hauses lagen, ohne großen Schaden herabfuhr; und
wenn wir aus Vergleichung mehrerer Erfahrungen finden, daß
der Blitz da, wo er eine Metallleitung findet, ohne das Gebäude
zu beschädigen, zur Erde gelangt, so geben wir die Hypothese von
dem Unterschiede warmer und kalter Schläge auf, und finden
dagegen die andre Hypothese, daß es in der Beschaffenheit der
getroffenen Körper liege, wenn der Blitz ohne zu zünden fort-
geht, deutlich bestätiget. Auf ähnliche Weise sind wir bei jedem
uns neuen Phänomene, auch in dem regelmäßigen Gange der
Naturforschung, veranlaßt, zu fragen, ob dies nicht von dem
oder jenem bestimmten Umstande abhänge, und eben damit haben
wir schon eine Hypothese aufgeworfen. Die Pflicht des Natur-
forschers ist es nun, zunächst zu sehen, ob die Erscheinung sich
immer an die hypothetisch angenommene Ursache anschließe, zu
untersuchen, nach welchen Gesetzen diese Ursache wirkt, und die
hypothetisch angenommenen oder nach Wahrscheinlichkeit vermu-
theten Gesetze mit dem zu vergleichen, was die Erfahrung ergiebt.
Sind die Gesetze dieser Wirkungen einfach, und findet man die
Erfolge der Erfahrung entsprechend, so kann man die aufgestellte
Hypothese als richtig ansehen; muß man dagegen künstlich ver-
wickelte Gesetze ausdenken, um hier der einen, dort der andern
Erfahrung Genüge zu thun, die sich den einfachern Gesetzen nicht
ganz gemäß zeigt, so hat man Grund die Hypothese mit Mis-

Hypotheſen in die Phyſik zu erklaͤren. So bedenklich man
es gewoͤhnlich zu finden pflegt, wenn man Hypotheſen zur Er-
klaͤrung einer Natur-Erſcheinung anwendet, und ſo oft allerdings
durch den Misbrauch der Hypotheſen dem Fortſchreiten richtiger
Kenntniſſe geſchadet worden iſt, ſo laͤßt es ſich doch auch von der
andern Seite nicht leugnen, daß wir faſt zu keiner Kenntniß gelan-
gen, ohne eine Hypotheſe aufzuwerfen. Wenn wir bei Nacht eine
Gegend des Horizontes ſich erhellen ſehen, ſo fragen wir: kann
denn der Mond dort aufgehen? — Dieſe Frage iſt eine Hypo-
theſe, deren Richtigkeit oder Unrichtigkeit ſich freilich ſehr bald
entſcheiden laͤßt. Aber ebenſo fragen wir, wenn der Blitz ein
Haus getroffen hat und ohne zu zuͤnden zur Erde herabgelaufen
iſt, ob dies an der Natur grade dieſes Blitzes lag, ob es ein kal-
ter Schlag war, oder ob er durch Umſtaͤnde, die in der Beſchaf-
fenheit des Hauſes lagen, ohne großen Schaden herabfuhr; und
wenn wir aus Vergleichung mehrerer Erfahrungen finden, daß
der Blitz da, wo er eine Metallleitung findet, ohne das Gebaͤude
zu beſchaͤdigen, zur Erde gelangt, ſo geben wir die Hypotheſe von
dem Unterſchiede warmer und kalter Schlaͤge auf, und finden
dagegen die andre Hypotheſe, daß es in der Beſchaffenheit der
getroffenen Koͤrper liege, wenn der Blitz ohne zu zuͤnden fort-
geht, deutlich beſtaͤtiget. Auf aͤhnliche Weiſe ſind wir bei jedem
uns neuen Phaͤnomene, auch in dem regelmaͤßigen Gange der
Naturforſchung, veranlaßt, zu fragen, ob dies nicht von dem
oder jenem beſtimmten Umſtande abhaͤnge, und eben damit haben
wir ſchon eine Hypotheſe aufgeworfen. Die Pflicht des Natur-
forſchers iſt es nun, zunaͤchſt zu ſehen, ob die Erſcheinung ſich
immer an die hypothetiſch angenommene Urſache anſchließe, zu
unterſuchen, nach welchen Geſetzen dieſe Urſache wirkt, und die
hypothetiſch angenommenen oder nach Wahrſcheinlichkeit vermu-
theten Geſetze mit dem zu vergleichen, was die Erfahrung ergiebt.
Sind die Geſetze dieſer Wirkungen einfach, und findet man die
Erfolge der Erfahrung entſprechend, ſo kann man die aufgeſtellte
Hypotheſe als richtig anſehen; muß man dagegen kuͤnſtlich ver-
wickelte Geſetze ausdenken, um hier der einen, dort der andern
Erfahrung Genuͤge zu thun, die ſich den einfachern Geſetzen nicht
ganz gemaͤß zeigt, ſo hat man Grund die Hypotheſe mit Mis-

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[7/0029] Hypotheſen in die Phyſik zu erklaͤren. So bedenklich man es gewoͤhnlich zu finden pflegt, wenn man Hypotheſen zur Er- klaͤrung einer Natur-Erſcheinung anwendet, und ſo oft allerdings durch den Misbrauch der Hypotheſen dem Fortſchreiten richtiger Kenntniſſe geſchadet worden iſt, ſo laͤßt es ſich doch auch von der andern Seite nicht leugnen, daß wir faſt zu keiner Kenntniß gelan- gen, ohne eine Hypotheſe aufzuwerfen. Wenn wir bei Nacht eine Gegend des Horizontes ſich erhellen ſehen, ſo fragen wir: kann denn der Mond dort aufgehen? — Dieſe Frage iſt eine Hypo- theſe, deren Richtigkeit oder Unrichtigkeit ſich freilich ſehr bald entſcheiden laͤßt. Aber ebenſo fragen wir, wenn der Blitz ein Haus getroffen hat und ohne zu zuͤnden zur Erde herabgelaufen iſt, ob dies an der Natur grade dieſes Blitzes lag, ob es ein kal- ter Schlag war, oder ob er durch Umſtaͤnde, die in der Beſchaf- fenheit des Hauſes lagen, ohne großen Schaden herabfuhr; und wenn wir aus Vergleichung mehrerer Erfahrungen finden, daß der Blitz da, wo er eine Metallleitung findet, ohne das Gebaͤude zu beſchaͤdigen, zur Erde gelangt, ſo geben wir die Hypotheſe von dem Unterſchiede warmer und kalter Schlaͤge auf, und finden dagegen die andre Hypotheſe, daß es in der Beſchaffenheit der getroffenen Koͤrper liege, wenn der Blitz ohne zu zuͤnden fort- geht, deutlich beſtaͤtiget. Auf aͤhnliche Weiſe ſind wir bei jedem uns neuen Phaͤnomene, auch in dem regelmaͤßigen Gange der Naturforſchung, veranlaßt, zu fragen, ob dies nicht von dem oder jenem beſtimmten Umſtande abhaͤnge, und eben damit haben wir ſchon eine Hypotheſe aufgeworfen. Die Pflicht des Natur- forſchers iſt es nun, zunaͤchſt zu ſehen, ob die Erſcheinung ſich immer an die hypothetiſch angenommene Urſache anſchließe, zu unterſuchen, nach welchen Geſetzen dieſe Urſache wirkt, und die hypothetiſch angenommenen oder nach Wahrſcheinlichkeit vermu- theten Geſetze mit dem zu vergleichen, was die Erfahrung ergiebt. Sind die Geſetze dieſer Wirkungen einfach, und findet man die Erfolge der Erfahrung entſprechend, ſo kann man die aufgeſtellte Hypotheſe als richtig anſehen; muß man dagegen kuͤnſtlich ver- wickelte Geſetze ausdenken, um hier der einen, dort der andern Erfahrung Genuͤge zu thun, die ſich den einfachern Geſetzen nicht ganz gemaͤß zeigt, ſo hat man Grund die Hypotheſe mit Mis-

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Zitationshilfe: Brandes, Heinrich Wilhelm: Vorlesungen über die Naturlehre. Bd. 1. Leipzig, 1830, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brandes_naturlehre01_1830/29>, abgerufen am 21.11.2024.