Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brandes, Heinrich Wilhelm: Vorlesungen über die Naturlehre. Bd. 1. Leipzig, 1830.

Bild:
<< vorherige Seite

welche zeigen, wie eine Reihe von Erscheinungen neu entdeckt
wurde, indem man die ersten Versuche, welche die Anleitung dazu
gaben, geschickt verändert fortführte.

Wenn ein Stückchen Kreide in ein Gefäß mit hinreichend
starker Säure fällt, so verschwindet in Kurzem die Kreide, wir
sagen, sie wird aufgelöst, dies ist eine Beobachtung; wenn
wir aber nun absichtlich ein Stück Kreide in eben solche Säure
legen, um zu sehen, ob es immer so erfolgt, wenn wir eben die
Kreide etwa in sehr verdünnte Säure legen, um die Grenzen dieser
Auflösungskraft zu bestimmen, wenn wir andre Körper statt der
Kreide in eben die Säure legen oder andre Arten von Säuren
nehmen, so stellen wir schon eine ganze Reihe von Versuchen
an. Bemühen wir uns nun sogar die Natur der Luftblasen,
die sich uns bei dem Aufschäumen der Auflösung zeigen, zu be-
stimmen, finden wir Mittel die so entwickelte Luft aufzufangen,
gelangen wir zu der Kenntniß, daß diese Luftart ganz andre Ei-
genschaften als die uns umgebende atmosphärische Luft besitzt, so
haben wir an jene unbedeutende Erfahrung eine Reihe wichtiger
Erscheinungen angeknüpft, und die Grundlagen eines höchst be-
deutenden Zweiges der Physik sind in diesen wenigen Experimen-
ten enthalten.

Eine solche Anordnung von Beobachtungen und Versuchen
kann in vielen Fällen schon dienen, um zu einer sehr genügen-
den Einsicht in die Gesetze der Erscheinungen zu gelangen; aber
sehr oft ist es uns auch gestattet, noch tiefer einzudringen. Viele
Wirkungen, welche wir wahrnehmen, sind einer Abmessung fä-
hig, und in den Fällen, wo dies statt findet, kann man mit
Hülfe der Mathematik dahin gelangen, aus dem Maaße der wir-
kenden Kräfte den Erfolg in genauen Zahlen zu berechnen, es
sei nun, daß man jenes Maaß der wirkenden Kräfte schon als
sicher bekannt annehmen oder nur als hypothetisch gegeben anse-
hen kann; und wir halten unsre Erklärung der Natur-Erscheinun-
gen erst da für recht vollendet, wo sie uns dahin führt, nach
Zahl und Maaß genau den Erfolg jedes Mal bestimmen zu
können. Gewöhnlich gehen wir, grade bei dieser Art von Be-
stimmung, von Hypothesen aus, und es ist daher hier der
Ort, die Wichtigkeit, ja die Nothwendigkeit der Einführung von

welche zeigen, wie eine Reihe von Erſcheinungen neu entdeckt
wurde, indem man die erſten Verſuche, welche die Anleitung dazu
gaben, geſchickt veraͤndert fortfuͤhrte.

Wenn ein Stuͤckchen Kreide in ein Gefaͤß mit hinreichend
ſtarker Saͤure faͤllt, ſo verſchwindet in Kurzem die Kreide, wir
ſagen, ſie wird aufgeloͤſt, dies iſt eine Beobachtung; wenn
wir aber nun abſichtlich ein Stuͤck Kreide in eben ſolche Saͤure
legen, um zu ſehen, ob es immer ſo erfolgt, wenn wir eben die
Kreide etwa in ſehr verduͤnnte Saͤure legen, um die Grenzen dieſer
Aufloͤſungskraft zu beſtimmen, wenn wir andre Koͤrper ſtatt der
Kreide in eben die Saͤure legen oder andre Arten von Saͤuren
nehmen, ſo ſtellen wir ſchon eine ganze Reihe von Verſuchen
an. Bemuͤhen wir uns nun ſogar die Natur der Luftblaſen,
die ſich uns bei dem Aufſchaͤumen der Aufloͤſung zeigen, zu be-
ſtimmen, finden wir Mittel die ſo entwickelte Luft aufzufangen,
gelangen wir zu der Kenntniß, daß dieſe Luftart ganz andre Ei-
genſchaften als die uns umgebende atmoſphaͤriſche Luft beſitzt, ſo
haben wir an jene unbedeutende Erfahrung eine Reihe wichtiger
Erſcheinungen angeknuͤpft, und die Grundlagen eines hoͤchſt be-
deutenden Zweiges der Phyſik ſind in dieſen wenigen Experimen-
ten enthalten.

Eine ſolche Anordnung von Beobachtungen und Verſuchen
kann in vielen Faͤllen ſchon dienen, um zu einer ſehr genuͤgen-
den Einſicht in die Geſetze der Erſcheinungen zu gelangen; aber
ſehr oft iſt es uns auch geſtattet, noch tiefer einzudringen. Viele
Wirkungen, welche wir wahrnehmen, ſind einer Abmeſſung faͤ-
hig, und in den Faͤllen, wo dies ſtatt findet, kann man mit
Huͤlfe der Mathematik dahin gelangen, aus dem Maaße der wir-
kenden Kraͤfte den Erfolg in genauen Zahlen zu berechnen, es
ſei nun, daß man jenes Maaß der wirkenden Kraͤfte ſchon als
ſicher bekannt annehmen oder nur als hypothetiſch gegeben anſe-
hen kann; und wir halten unſre Erklaͤrung der Natur-Erſcheinun-
gen erſt da fuͤr recht vollendet, wo ſie uns dahin fuͤhrt, nach
Zahl und Maaß genau den Erfolg jedes Mal beſtimmen zu
koͤnnen. Gewoͤhnlich gehen wir, grade bei dieſer Art von Be-
ſtimmung, von Hypotheſen aus, und es iſt daher hier der
Ort, die Wichtigkeit, ja die Nothwendigkeit der Einfuͤhrung von

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0028" n="6"/>
welche zeigen, wie eine Reihe von Er&#x017F;cheinungen neu entdeckt<lb/>
wurde, indem man die er&#x017F;ten Ver&#x017F;uche, welche die Anleitung dazu<lb/>
gaben, ge&#x017F;chickt vera&#x0364;ndert fortfu&#x0364;hrte.</p><lb/>
            <p>Wenn ein Stu&#x0364;ckchen Kreide in ein Gefa&#x0364;ß mit hinreichend<lb/>
&#x017F;tarker Sa&#x0364;ure fa&#x0364;llt, &#x017F;o ver&#x017F;chwindet in Kurzem die Kreide, wir<lb/>
&#x017F;agen, &#x017F;ie wird aufgelo&#x0364;&#x017F;t, dies i&#x017F;t eine <hi rendition="#g">Beobachtung</hi>; wenn<lb/>
wir aber nun ab&#x017F;ichtlich ein Stu&#x0364;ck Kreide in eben &#x017F;olche Sa&#x0364;ure<lb/>
legen, um zu &#x017F;ehen, ob es immer &#x017F;o erfolgt, wenn wir eben die<lb/>
Kreide etwa in &#x017F;ehr verdu&#x0364;nnte Sa&#x0364;ure legen, um die Grenzen die&#x017F;er<lb/>
Auflo&#x0364;&#x017F;ungskraft zu be&#x017F;timmen, wenn wir andre Ko&#x0364;rper &#x017F;tatt der<lb/>
Kreide in eben die Sa&#x0364;ure legen oder andre Arten von Sa&#x0364;uren<lb/>
nehmen, &#x017F;o &#x017F;tellen wir &#x017F;chon eine ganze Reihe von Ver&#x017F;uchen<lb/>
an. Bemu&#x0364;hen wir uns nun &#x017F;ogar die Natur der Luftbla&#x017F;en,<lb/>
die &#x017F;ich uns bei dem Auf&#x017F;cha&#x0364;umen der Auflo&#x0364;&#x017F;ung zeigen, zu be-<lb/>
&#x017F;timmen, finden wir Mittel die &#x017F;o entwickelte Luft aufzufangen,<lb/>
gelangen wir zu der Kenntniß, daß die&#x017F;e Luftart ganz andre Ei-<lb/>
gen&#x017F;chaften als die uns umgebende atmo&#x017F;pha&#x0364;ri&#x017F;che Luft be&#x017F;itzt, &#x017F;o<lb/>
haben wir an jene unbedeutende Erfahrung eine Reihe wichtiger<lb/>
Er&#x017F;cheinungen angeknu&#x0364;pft, und die Grundlagen eines ho&#x0364;ch&#x017F;t be-<lb/>
deutenden Zweiges der Phy&#x017F;ik &#x017F;ind in die&#x017F;en wenigen Experimen-<lb/>
ten enthalten.</p><lb/>
            <p>Eine &#x017F;olche Anordnung von Beobachtungen und Ver&#x017F;uchen<lb/>
kann in vielen Fa&#x0364;llen &#x017F;chon dienen, um zu einer &#x017F;ehr genu&#x0364;gen-<lb/>
den Ein&#x017F;icht in die Ge&#x017F;etze der Er&#x017F;cheinungen zu gelangen; aber<lb/>
&#x017F;ehr oft i&#x017F;t es uns auch ge&#x017F;tattet, noch tiefer einzudringen. Viele<lb/>
Wirkungen, welche wir wahrnehmen, &#x017F;ind einer Abme&#x017F;&#x017F;ung fa&#x0364;-<lb/>
hig, und in den Fa&#x0364;llen, wo dies &#x017F;tatt findet, kann man mit<lb/>
Hu&#x0364;lfe der Mathematik dahin gelangen, aus dem Maaße der wir-<lb/>
kenden Kra&#x0364;fte den Erfolg in genauen Zahlen zu berechnen, es<lb/>
&#x017F;ei nun, daß man jenes Maaß der wirkenden Kra&#x0364;fte &#x017F;chon als<lb/>
&#x017F;icher bekannt annehmen oder nur als hypotheti&#x017F;ch gegeben an&#x017F;e-<lb/>
hen kann; und wir halten un&#x017F;re Erkla&#x0364;rung der Natur-Er&#x017F;cheinun-<lb/>
gen er&#x017F;t da fu&#x0364;r recht vollendet, wo &#x017F;ie uns dahin fu&#x0364;hrt, nach<lb/>
Zahl und Maaß genau den Erfolg jedes Mal be&#x017F;timmen zu<lb/>
ko&#x0364;nnen. Gewo&#x0364;hnlich gehen wir, grade bei die&#x017F;er Art von Be-<lb/>
&#x017F;timmung, von <hi rendition="#g">Hypothe&#x017F;en</hi> aus, und es i&#x017F;t daher hier der<lb/>
Ort, die Wichtigkeit, ja die Nothwendigkeit der Einfu&#x0364;hrung von<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[6/0028] welche zeigen, wie eine Reihe von Erſcheinungen neu entdeckt wurde, indem man die erſten Verſuche, welche die Anleitung dazu gaben, geſchickt veraͤndert fortfuͤhrte. Wenn ein Stuͤckchen Kreide in ein Gefaͤß mit hinreichend ſtarker Saͤure faͤllt, ſo verſchwindet in Kurzem die Kreide, wir ſagen, ſie wird aufgeloͤſt, dies iſt eine Beobachtung; wenn wir aber nun abſichtlich ein Stuͤck Kreide in eben ſolche Saͤure legen, um zu ſehen, ob es immer ſo erfolgt, wenn wir eben die Kreide etwa in ſehr verduͤnnte Saͤure legen, um die Grenzen dieſer Aufloͤſungskraft zu beſtimmen, wenn wir andre Koͤrper ſtatt der Kreide in eben die Saͤure legen oder andre Arten von Saͤuren nehmen, ſo ſtellen wir ſchon eine ganze Reihe von Verſuchen an. Bemuͤhen wir uns nun ſogar die Natur der Luftblaſen, die ſich uns bei dem Aufſchaͤumen der Aufloͤſung zeigen, zu be- ſtimmen, finden wir Mittel die ſo entwickelte Luft aufzufangen, gelangen wir zu der Kenntniß, daß dieſe Luftart ganz andre Ei- genſchaften als die uns umgebende atmoſphaͤriſche Luft beſitzt, ſo haben wir an jene unbedeutende Erfahrung eine Reihe wichtiger Erſcheinungen angeknuͤpft, und die Grundlagen eines hoͤchſt be- deutenden Zweiges der Phyſik ſind in dieſen wenigen Experimen- ten enthalten. Eine ſolche Anordnung von Beobachtungen und Verſuchen kann in vielen Faͤllen ſchon dienen, um zu einer ſehr genuͤgen- den Einſicht in die Geſetze der Erſcheinungen zu gelangen; aber ſehr oft iſt es uns auch geſtattet, noch tiefer einzudringen. Viele Wirkungen, welche wir wahrnehmen, ſind einer Abmeſſung faͤ- hig, und in den Faͤllen, wo dies ſtatt findet, kann man mit Huͤlfe der Mathematik dahin gelangen, aus dem Maaße der wir- kenden Kraͤfte den Erfolg in genauen Zahlen zu berechnen, es ſei nun, daß man jenes Maaß der wirkenden Kraͤfte ſchon als ſicher bekannt annehmen oder nur als hypothetiſch gegeben anſe- hen kann; und wir halten unſre Erklaͤrung der Natur-Erſcheinun- gen erſt da fuͤr recht vollendet, wo ſie uns dahin fuͤhrt, nach Zahl und Maaß genau den Erfolg jedes Mal beſtimmen zu koͤnnen. Gewoͤhnlich gehen wir, grade bei dieſer Art von Be- ſtimmung, von Hypotheſen aus, und es iſt daher hier der Ort, die Wichtigkeit, ja die Nothwendigkeit der Einfuͤhrung von

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brandes_naturlehre01_1830
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brandes_naturlehre01_1830/28
Zitationshilfe: Brandes, Heinrich Wilhelm: Vorlesungen über die Naturlehre. Bd. 1. Leipzig, 1830, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brandes_naturlehre01_1830/28>, abgerufen am 29.04.2024.