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Brandes, Heinrich Wilhelm: Vorlesungen über die Naturlehre. Bd. 2. Leipzig, 1831.

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Augen hält, nun das rechte Auge schließt, und das linke auf den
rechts liegenden Punct richtet, so bemerkt man, indem man das
Papier allmählig bis auf etwa 6 Zoll nähert, daß der links liegende
Fleck gar nicht gesehen wird, obgleich man ihn bei größerer und auch
bei erheblich kleinerer Entfernung wahrnimmt. Der Versuch ist
leicht anzustellen und gelingt leicht, sobald man sich nur gewöhnen
kann, das Auge wirklich auf jenen andern Punct unverwandt zu
heften. Bei genauer Ausmessung der Lage, die der Gegenstand
und die folglich das Bild im Auge haben muß, um auf diese
Weise unsichtbar zu werden, hat man gefunden, daß die Stelle,
wo der Sehenerve ins Auge tritt, oder wo sich die Central-Arterie
desselben befindet, diejenige ist, die nach diesem Versuche unem-
pfindlich für das Licht ist. Beim gewöhnlichen Sehen bemerken
wir dieses nicht, weil, wenn wir einen einzelnen Punct genau
wahrnehmen wollen, unser Auge sich grade gegen ihn wendet, statt
daß er bei jenem Versuche ziemlich entfernt von der Axe des Auges
liegen muß.

Eine zweite Frage, die man oft aufgeworfen hat, ist, warum
wir die Gegenstände aufrecht sehen, da doch ihr Bild im Auge, so
wie das durch ein Linsenglas hervorgebrachte Bild, umgekehrt ist.
Diese Frage scheint mir auf einem bloßen Mißverstehen der Art
und Weise, wie jenes Bild im Auge unsre Geistesthätigkeit erregt,
das Bewußtsein des Sehens hervorbringt, zu beruhen. Es ist
wahr, wenn ein fremdes Auge auf den Hintergrund unsers Auges
sähe, so würden diesem alle Gegenstände dort in einem umgekehrten
Bilde dargestellt erscheinen; aber offenbar ist die Seele nicht ein
solcher Beobachter, der die Lage der äußern Gegenstände zugleich
auch sieht, der das Oben und Unten noch durch andre Mittel als
grade durch jenes Bild kennen lernt. Vielmehr hängt ja der ge-
sammte Eindruck des Sehens einzig und allein von diesem Bilde
ab, und nichts in der Empfindung des Sehens belehrt uns dar-
über, welcher Theil des Bildes dem obern oder dem untern Theile
des Kopfes näher liegt. Diese Lage des Bildes ist daher in Be-
ziehung auf die Vergleichung mit dem Sinne des Gefühls ganz
gleichgültig; aber von den ersten Eindrücken des Sehens an hat
sich die Erfahrung über das, was oben und unten ist, so fest an

Augen haͤlt, nun das rechte Auge ſchließt, und das linke auf den
rechts liegenden Punct richtet, ſo bemerkt man, indem man das
Papier allmaͤhlig bis auf etwa 6 Zoll naͤhert, daß der links liegende
Fleck gar nicht geſehen wird, obgleich man ihn bei groͤßerer und auch
bei erheblich kleinerer Entfernung wahrnimmt. Der Verſuch iſt
leicht anzuſtellen und gelingt leicht, ſobald man ſich nur gewoͤhnen
kann, das Auge wirklich auf jenen andern Punct unverwandt zu
heften. Bei genauer Ausmeſſung der Lage, die der Gegenſtand
und die folglich das Bild im Auge haben muß, um auf dieſe
Weiſe unſichtbar zu werden, hat man gefunden, daß die Stelle,
wo der Sehenerve ins Auge tritt, oder wo ſich die Central-Arterie
deſſelben befindet, diejenige iſt, die nach dieſem Verſuche unem-
pfindlich fuͤr das Licht iſt. Beim gewoͤhnlichen Sehen bemerken
wir dieſes nicht, weil, wenn wir einen einzelnen Punct genau
wahrnehmen wollen, unſer Auge ſich grade gegen ihn wendet, ſtatt
daß er bei jenem Verſuche ziemlich entfernt von der Axe des Auges
liegen muß.

Eine zweite Frage, die man oft aufgeworfen hat, iſt, warum
wir die Gegenſtaͤnde aufrecht ſehen, da doch ihr Bild im Auge, ſo
wie das durch ein Linſenglas hervorgebrachte Bild, umgekehrt iſt.
Dieſe Frage ſcheint mir auf einem bloßen Mißverſtehen der Art
und Weiſe, wie jenes Bild im Auge unſre Geiſtesthaͤtigkeit erregt,
das Bewußtſein des Sehens hervorbringt, zu beruhen. Es iſt
wahr, wenn ein fremdes Auge auf den Hintergrund unſers Auges
ſaͤhe, ſo wuͤrden dieſem alle Gegenſtaͤnde dort in einem umgekehrten
Bilde dargeſtellt erſcheinen; aber offenbar iſt die Seele nicht ein
ſolcher Beobachter, der die Lage der aͤußern Gegenſtaͤnde zugleich
auch ſieht, der das Oben und Unten noch durch andre Mittel als
grade durch jenes Bild kennen lernt. Vielmehr haͤngt ja der ge-
ſammte Eindruck des Sehens einzig und allein von dieſem Bilde
ab, und nichts in der Empfindung des Sehens belehrt uns dar-
uͤber, welcher Theil des Bildes dem obern oder dem untern Theile
des Kopfes naͤher liegt. Dieſe Lage des Bildes iſt daher in Be-
ziehung auf die Vergleichung mit dem Sinne des Gefuͤhls ganz
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[130/0144] Augen haͤlt, nun das rechte Auge ſchließt, und das linke auf den rechts liegenden Punct richtet, ſo bemerkt man, indem man das Papier allmaͤhlig bis auf etwa 6 Zoll naͤhert, daß der links liegende Fleck gar nicht geſehen wird, obgleich man ihn bei groͤßerer und auch bei erheblich kleinerer Entfernung wahrnimmt. Der Verſuch iſt leicht anzuſtellen und gelingt leicht, ſobald man ſich nur gewoͤhnen kann, das Auge wirklich auf jenen andern Punct unverwandt zu heften. Bei genauer Ausmeſſung der Lage, die der Gegenſtand und die folglich das Bild im Auge haben muß, um auf dieſe Weiſe unſichtbar zu werden, hat man gefunden, daß die Stelle, wo der Sehenerve ins Auge tritt, oder wo ſich die Central-Arterie deſſelben befindet, diejenige iſt, die nach dieſem Verſuche unem- pfindlich fuͤr das Licht iſt. Beim gewoͤhnlichen Sehen bemerken wir dieſes nicht, weil, wenn wir einen einzelnen Punct genau wahrnehmen wollen, unſer Auge ſich grade gegen ihn wendet, ſtatt daß er bei jenem Verſuche ziemlich entfernt von der Axe des Auges liegen muß. Eine zweite Frage, die man oft aufgeworfen hat, iſt, warum wir die Gegenſtaͤnde aufrecht ſehen, da doch ihr Bild im Auge, ſo wie das durch ein Linſenglas hervorgebrachte Bild, umgekehrt iſt. Dieſe Frage ſcheint mir auf einem bloßen Mißverſtehen der Art und Weiſe, wie jenes Bild im Auge unſre Geiſtesthaͤtigkeit erregt, das Bewußtſein des Sehens hervorbringt, zu beruhen. Es iſt wahr, wenn ein fremdes Auge auf den Hintergrund unſers Auges ſaͤhe, ſo wuͤrden dieſem alle Gegenſtaͤnde dort in einem umgekehrten Bilde dargeſtellt erſcheinen; aber offenbar iſt die Seele nicht ein ſolcher Beobachter, der die Lage der aͤußern Gegenſtaͤnde zugleich auch ſieht, der das Oben und Unten noch durch andre Mittel als grade durch jenes Bild kennen lernt. Vielmehr haͤngt ja der ge- ſammte Eindruck des Sehens einzig und allein von dieſem Bilde ab, und nichts in der Empfindung des Sehens belehrt uns dar- uͤber, welcher Theil des Bildes dem obern oder dem untern Theile des Kopfes naͤher liegt. Dieſe Lage des Bildes iſt daher in Be- ziehung auf die Vergleichung mit dem Sinne des Gefuͤhls ganz gleichguͤltig; aber von den erſten Eindruͤcken des Sehens an hat ſich die Erfahrung uͤber das, was oben und unten iſt, ſo feſt an

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Zitationshilfe: Brandes, Heinrich Wilhelm: Vorlesungen über die Naturlehre. Bd. 2. Leipzig, 1831, S. 130. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brandes_naturlehre02_1831/144>, abgerufen am 21.11.2024.