Braun, Lily: Die Frauen und die Politik. Berlin, 1903.Vereinzelung herausgerissen, haben sie mit Leidensgefährten zu- Noch immer haben Sitte und Recht mit der sozialen und wirth- Vereinzelung herausgerissen, haben sie mit Leidensgefährten zu- Noch immer haben Sitte und Recht mit der sozialen und wirth- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0011" n="12"/> Vereinzelung herausgerissen, haben sie mit Leidensgefährten zu-<lb/> sammengeführt und zu Kampfgenossen gemacht. Erst im neun-<lb/> zehnten Jahrhundert konnte darum eine organisierte Frauen-<lb/> bewegung entstehen. Jhre Trägerinnen waren zunächst nur die<lb/> Frauen bürgerlicher Kreise, die besser gestellten Kopfarbeiterinnen.<lb/> Denn das tiefste Elend macht stumpf, kraft- und muthlos, es läßt<lb/> den Gedanken an Kampf und Widerstand nicht aufkommen. Von<lb/> einer Arbeiterinnenbewegung konnte daher nicht eher die Rede sein,<lb/> als bis das voranschreitende männliche Proletariat die Arbeiterinnen<lb/> herausgerissen hatte aus den dunkelsten Höhlen modernen Sklaven-<lb/> thums. Jn allen Jndustriestaaten fingen die Arbeiterinnen nun-<lb/> mehr an, sich aufzuklären, sich gewerkschaftlich zu organisiren, zu<lb/> ringen wie die Männer um bessere Arbeitsbedingungen. Und heute<lb/> können wir mit Stolz hinweisen auf Schaaren von Frauen, die nicht<lb/> nur der kämpfenden Arbeiterschaft treue Gefolgschaft leisten, die ihr<lb/> sogar vielfach vorangehen. Von vielen armen Arbeiterinnen weiß<lb/> die Geschichte des Proletariats zu erzählen, die im Streik die schon<lb/> schwankenden Arbeiter anfeuerten und sich ihnen an Ausdauer und<lb/> Aufopferungsfähigkeit überlegen zeigten. Daß sie durch die Arbeit<lb/> reif geworden waren, nicht nur zur Erkenntniß der ihnen zunächst<lb/> liegenden Verhältnisse, – sondern auch zum wachsenden Verständniß<lb/> der politischen Vorgänge, dafür spricht die Thatsache, daß es in<lb/> Deutschland zuerst Vertreterinnen des Proletariats gewesen sind,<lb/> die den Muth hatten, politisch Stellung zu nehmen und durch Wort<lb/> und Schrift für ihre politischen Ansichten Zeugniß abzulegen. Denn<lb/> Muth, viel mehr Muth als für den Mann, gehört heute noch für die<lb/> Frau, vor allem für die deutsche Frau, dazu, eine eigene politische<lb/> Meinung zu haben und sie öffentlich zum Ausdruck zu bringen.</p><lb/> <p>Noch immer haben Sitte und Recht mit der sozialen und wirth-<lb/> schaftlichen Entwickelung nicht gleichen Schritt gehalten, sind ihr<lb/> vielmehr in langen Abständen erst nachgehinkt. Ein klassisches<lb/> Beispiel dafür ist die heutige soziale und rechtliche Stellung der<lb/> Frau. Für unsittlich gilt es noch immer, wenn beide Geschlechter<lb/> zusammen arbeiten, obwohl Tausende und Abertausende von Männern<lb/> und Frauen tagaus, tagein sich in Werkstätten und Fabriken ver-<lb/> einigen. Für unweiblich gilt es, sogenannte männliche Berufe zu<lb/> erwählen, obwohl, wie wir gesehen haben, ihr überwiegend größerer<lb/> Theil schon längst von den Frauen erobert ist. Aller guten Sitte<lb/> und aller Weiblichkeit spricht es Hohn, so heißt es, wenn Frauen<lb/> in die Oeffentlichkeit treten, am politischen Leben theilnehmen,<lb/> während sie doch als Arbeiterinnen und Beamte aller Art seit bald<lb/> einem Jahrhundert schon dem öffentlichen Leben angehören. Noch<lb/> schlimmer stehts in Bezug auf das private und öffentliche Recht<lb/> der Frauen. Dem Manne steht, nach dem neuen Bürgerlichen<lb/> Gesetzbuch, die Entscheidung in allen gemeinschaftlichen ehelichen An-<lb/> gelegenheiten zu, obgleich nur zu oft die Frau diejenige ist und sein<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [12/0011]
Vereinzelung herausgerissen, haben sie mit Leidensgefährten zu-
sammengeführt und zu Kampfgenossen gemacht. Erst im neun-
zehnten Jahrhundert konnte darum eine organisierte Frauen-
bewegung entstehen. Jhre Trägerinnen waren zunächst nur die
Frauen bürgerlicher Kreise, die besser gestellten Kopfarbeiterinnen.
Denn das tiefste Elend macht stumpf, kraft- und muthlos, es läßt
den Gedanken an Kampf und Widerstand nicht aufkommen. Von
einer Arbeiterinnenbewegung konnte daher nicht eher die Rede sein,
als bis das voranschreitende männliche Proletariat die Arbeiterinnen
herausgerissen hatte aus den dunkelsten Höhlen modernen Sklaven-
thums. Jn allen Jndustriestaaten fingen die Arbeiterinnen nun-
mehr an, sich aufzuklären, sich gewerkschaftlich zu organisiren, zu
ringen wie die Männer um bessere Arbeitsbedingungen. Und heute
können wir mit Stolz hinweisen auf Schaaren von Frauen, die nicht
nur der kämpfenden Arbeiterschaft treue Gefolgschaft leisten, die ihr
sogar vielfach vorangehen. Von vielen armen Arbeiterinnen weiß
die Geschichte des Proletariats zu erzählen, die im Streik die schon
schwankenden Arbeiter anfeuerten und sich ihnen an Ausdauer und
Aufopferungsfähigkeit überlegen zeigten. Daß sie durch die Arbeit
reif geworden waren, nicht nur zur Erkenntniß der ihnen zunächst
liegenden Verhältnisse, – sondern auch zum wachsenden Verständniß
der politischen Vorgänge, dafür spricht die Thatsache, daß es in
Deutschland zuerst Vertreterinnen des Proletariats gewesen sind,
die den Muth hatten, politisch Stellung zu nehmen und durch Wort
und Schrift für ihre politischen Ansichten Zeugniß abzulegen. Denn
Muth, viel mehr Muth als für den Mann, gehört heute noch für die
Frau, vor allem für die deutsche Frau, dazu, eine eigene politische
Meinung zu haben und sie öffentlich zum Ausdruck zu bringen.
Noch immer haben Sitte und Recht mit der sozialen und wirth-
schaftlichen Entwickelung nicht gleichen Schritt gehalten, sind ihr
vielmehr in langen Abständen erst nachgehinkt. Ein klassisches
Beispiel dafür ist die heutige soziale und rechtliche Stellung der
Frau. Für unsittlich gilt es noch immer, wenn beide Geschlechter
zusammen arbeiten, obwohl Tausende und Abertausende von Männern
und Frauen tagaus, tagein sich in Werkstätten und Fabriken ver-
einigen. Für unweiblich gilt es, sogenannte männliche Berufe zu
erwählen, obwohl, wie wir gesehen haben, ihr überwiegend größerer
Theil schon längst von den Frauen erobert ist. Aller guten Sitte
und aller Weiblichkeit spricht es Hohn, so heißt es, wenn Frauen
in die Oeffentlichkeit treten, am politischen Leben theilnehmen,
während sie doch als Arbeiterinnen und Beamte aller Art seit bald
einem Jahrhundert schon dem öffentlichen Leben angehören. Noch
schlimmer stehts in Bezug auf das private und öffentliche Recht
der Frauen. Dem Manne steht, nach dem neuen Bürgerlichen
Gesetzbuch, die Entscheidung in allen gemeinschaftlichen ehelichen An-
gelegenheiten zu, obgleich nur zu oft die Frau diejenige ist und sein
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