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Braun, Lily: Die Frauen und die Politik. Berlin, 1903.

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Die Frauen und die Politik.



1. Es war einmal ...

An einem trüben Oktobertage des Jahres 1789 war es. Dunkel
und schwer hingen die Wolken über Paris, als wollten sie mitleidig
all das Elend zudecken, das sich unter ihnen ausbreitete. Denn
Paris hungerte. Und aus allen Straßen und allen Häuserwinkeln
strömten die Frauen zusammen; sie suchten nach Brot für ihre
Kinder. Jn ihrem eng umfriedeten Heim hatten sie bisher wenig
gespürt von den Stürmen der Revolution, die anfing, ganz Frankreich
zu erschüttern. Jetzt erst, da die Noth vernehmlich an ihre Thüre
pochte und aus den schmalen, blassen Gesichtern ihrer Kleinen zu
ihnen sprach, erwachten sie wie aus dumpfen Träumen. Mütter,
denen das Jammern der Jhren das Herz zerriß, Töchter, denen die
stumme Qual in den Augen ihrer alten Eltern in die Seele schnitt,
Frauen, die plötzlich sehend geworden waren angesichts des darbenden
Volkes - sie trafen sich Alle vor den geschlossenen Bäckerläden und
auf den verödeten Märkten. Sie waren Eins in der Verzweiflung,
Eins in der Entschlossenheit, Eins aber auch im Haß gegen die
Kornwucherer, die nicht nur das Brot vertheuert, sondern auch
verdorbenes Mehl gewissenlos verkauft hatten, so daß die armen
Kinder des Volkes dahin starben wie die Feldblumen. Jn Versailles
aber tagte inzwischen die Nationalversammlung und kämpfte mit
dem starrsinnigen König um die Anerkennung der papiernen
Menschenrechte, während in Paris das lebendige Menschenrecht, das
auf des Leibes Nahrung und Nothdurft, mit Füßen getreten wurde.
"Nach Versailles!" klang es plötzlich aus den Reihen der Frauen;
der Ruf pflanzte sich fort wie vom Winde getragen, hunderte von
Frauen folgten ihm, und in jeder Straße, die sie durchzogen, wuchs

1*
Die Frauen und die Politik.



1. Es war einmal

An einem trüben Oktobertage des Jahres 1789 war es. Dunkel
und schwer hingen die Wolken über Paris, als wollten sie mitleidig
all das Elend zudecken, das sich unter ihnen ausbreitete. Denn
Paris hungerte. Und aus allen Straßen und allen Häuserwinkeln
strömten die Frauen zusammen; sie suchten nach Brot für ihre
Kinder. Jn ihrem eng umfriedeten Heim hatten sie bisher wenig
gespürt von den Stürmen der Revolution, die anfing, ganz Frankreich
zu erschüttern. Jetzt erst, da die Noth vernehmlich an ihre Thüre
pochte und aus den schmalen, blassen Gesichtern ihrer Kleinen zu
ihnen sprach, erwachten sie wie aus dumpfen Träumen. Mütter,
denen das Jammern der Jhren das Herz zerriß, Töchter, denen die
stumme Qual in den Augen ihrer alten Eltern in die Seele schnitt,
Frauen, die plötzlich sehend geworden waren angesichts des darbenden
Volkes – sie trafen sich Alle vor den geschlossenen Bäckerläden und
auf den verödeten Märkten. Sie waren Eins in der Verzweiflung,
Eins in der Entschlossenheit, Eins aber auch im Haß gegen die
Kornwucherer, die nicht nur das Brot vertheuert, sondern auch
verdorbenes Mehl gewissenlos verkauft hatten, so daß die armen
Kinder des Volkes dahin starben wie die Feldblumen. Jn Versailles
aber tagte inzwischen die Nationalversammlung und kämpfte mit
dem starrsinnigen König um die Anerkennung der papiernen
Menschenrechte, während in Paris das lebendige Menschenrecht, das
auf des Leibes Nahrung und Nothdurft, mit Füßen getreten wurde.
„Nach Versailles!“ klang es plötzlich aus den Reihen der Frauen;
der Ruf pflanzte sich fort wie vom Winde getragen, hunderte von
Frauen folgten ihm, und in jeder Straße, die sie durchzogen, wuchs

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[[3]/0002] Die Frauen und die Politik. Von Lily Braun. 1. Es war einmal … An einem trüben Oktobertage des Jahres 1789 war es. Dunkel und schwer hingen die Wolken über Paris, als wollten sie mitleidig all das Elend zudecken, das sich unter ihnen ausbreitete. Denn Paris hungerte. Und aus allen Straßen und allen Häuserwinkeln strömten die Frauen zusammen; sie suchten nach Brot für ihre Kinder. Jn ihrem eng umfriedeten Heim hatten sie bisher wenig gespürt von den Stürmen der Revolution, die anfing, ganz Frankreich zu erschüttern. Jetzt erst, da die Noth vernehmlich an ihre Thüre pochte und aus den schmalen, blassen Gesichtern ihrer Kleinen zu ihnen sprach, erwachten sie wie aus dumpfen Träumen. Mütter, denen das Jammern der Jhren das Herz zerriß, Töchter, denen die stumme Qual in den Augen ihrer alten Eltern in die Seele schnitt, Frauen, die plötzlich sehend geworden waren angesichts des darbenden Volkes – sie trafen sich Alle vor den geschlossenen Bäckerläden und auf den verödeten Märkten. Sie waren Eins in der Verzweiflung, Eins in der Entschlossenheit, Eins aber auch im Haß gegen die Kornwucherer, die nicht nur das Brot vertheuert, sondern auch verdorbenes Mehl gewissenlos verkauft hatten, so daß die armen Kinder des Volkes dahin starben wie die Feldblumen. Jn Versailles aber tagte inzwischen die Nationalversammlung und kämpfte mit dem starrsinnigen König um die Anerkennung der papiernen Menschenrechte, während in Paris das lebendige Menschenrecht, das auf des Leibes Nahrung und Nothdurft, mit Füßen getreten wurde. „Nach Versailles!“ klang es plötzlich aus den Reihen der Frauen; der Ruf pflanzte sich fort wie vom Winde getragen, hunderte von Frauen folgten ihm, und in jeder Straße, die sie durchzogen, wuchs 1*

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Texte der ersten Frauenbewegung, betreut von Anna Pfundt und Thomas Gloning, JLU Gießen: Bereitstellung der Texttranskription. (2022-08-30T16:52:29Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
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Zitationshilfe: Braun, Lily: Die Frauen und die Politik. Berlin, 1903, S. [3]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/braun_frauen_1903/2>, abgerufen am 29.03.2024.