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Braun, Karl: Die Vagabundenfrage. Berlin, 1883.

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bestehen, dem oben aufgestellten strengen Grundsatze ent-
sprechen, und ob die betreffenden Gesetzgebungen, soweit sie
demselben wirklich entsprechen, auch in einer diesem Ideal an-
gemessenen Weise gehandhabt werden.

Wenn ich bisher die Mittel gegen die Vagabondage erörtert
habe, die theils innerhalb des jetzigen Zustandes unserer Gesetz-
gebung angewendet werden können, theils auf dem Wege der
Gesetzgebung zu realisiren sind, so will ich nun zuletzt, aber
nicht am Geringsten, gedenken einer Anstalt, die viel besprochen
worden ist und die, ohne irgend wie den Beistand der öffentlichen
Gewalt, des Staats oder der Gesetzgebung anzurufen, hervor-
gegangen aus der Einsicht, der Willenskraft und der Menschen-
liebe eines einzelnen hochbegabten Mannes, uns den Weg gezeigt
hat, wie ohne jede staatssocialistische Beimischung und unter
Verschmähung eines jeglichen Zwanges die Vagabundenfrage zu
lösen. Ich spreche von der Privatanstalt des Pastor Bodel-
schwingh
in Westphalen, die bei allen Parteien, ohne Unter-
schied der politischen und religiösen Gesinnung, allgemeine An-
erkennung findet, und dem Uebel in einer Weise entgegen-
getreten ist, daß dessen Beseitigung wenigstens innerhalb einer
gewissen Möglichkeit liegt. Ich halte es für überflüssig, Ihnen
die Einrichtung dieser Anstalt zu beschreiben. Sie kennen die-
selbe ohne Zweifel. Sie hat in vielen Theilen unseres Vater-
landes nicht nur Anerkennung, sondern auch Nachahmung ge-
funden. Ich fürchte nur, es wird nicht lange dauern, so wird
man den Versuch machen, auch sie zu "verstaatlichen"; denn
heutzutage wird ja alles verstaatlicht. Ich für meine Person
glaube, daß man die Ausübung der Mildthätigkeit, der Menschen-
freundlichkeit, der Humanität, der Moral, des wahren Christen-
thums, oder wie man heute zu sagen liebt, des "praktischen
Christenthums" nicht verstaatlichen kann, weil sie sonst aufhört
zu existiren. Insofern bekenne ich mich auch hier zu dem laissez
faire, wobei ich aber den Ton lege auf das "faire"; das heißt,
ich sage, man soll niemand hindern etwas Gutes zu thun.
Unsere großen academischen staatssocialistischen Propheten und
Weltverbesserer freilich, die so sehr gegen den Grundsatz des
laisssez faire declamiren, scheinen dabei das "faire" gar nicht
im Auge zu haben, d. h. das handeln. Sie reden viel und thun
garnichts. Sie machen Projecte und haben keine Mittel sie zu

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bestehen, dem oben aufgestellten strengen Grundsatze ent-
sprechen, und ob die betreffenden Gesetzgebungen, soweit sie
demselben wirklich entsprechen, auch in einer diesem Ideal an-
gemessenen Weise gehandhabt werden.

Wenn ich bisher die Mittel gegen die Vagabondage erörtert
habe, die theils innerhalb des jetzigen Zustandes unserer Gesetz-
gebung angewendet werden können, theils auf dem Wege der
Gesetzgebung zu realisiren sind, so will ich nun zuletzt, aber
nicht am Geringsten, gedenken einer Anstalt, die viel besprochen
worden ist und die, ohne irgend wie den Beistand der öffentlichen
Gewalt, des Staats oder der Gesetzgebung anzurufen, hervor-
gegangen aus der Einsicht, der Willenskraft und der Menschen-
liebe eines einzelnen hochbegabten Mannes, uns den Weg gezeigt
hat, wie ohne jede staatssocialistische Beimischung und unter
Verschmähung eines jeglichen Zwanges die Vagabundenfrage zu
lösen. Ich spreche von der Privatanstalt des Pastor Bodel-
schwingh
in Westphalen, die bei allen Parteien, ohne Unter-
schied der politischen und religiösen Gesinnung, allgemeine An-
erkennung findet, und dem Uebel in einer Weise entgegen-
getreten ist, daß dessen Beseitigung wenigstens innerhalb einer
gewissen Möglichkeit liegt. Ich halte es für überflüssig, Ihnen
die Einrichtung dieser Anstalt zu beschreiben. Sie kennen die-
selbe ohne Zweifel. Sie hat in vielen Theilen unseres Vater-
landes nicht nur Anerkennung, sondern auch Nachahmung ge-
funden. Ich fürchte nur, es wird nicht lange dauern, so wird
man den Versuch machen, auch sie zu «verstaatlichen»; denn
heutzutage wird ja alles verstaatlicht. Ich für meine Person
glaube, daß man die Ausübung der Mildthätigkeit, der Menschen-
freundlichkeit, der Humanität, der Moral, des wahren Christen-
thums, oder wie man heute zu sagen liebt, des «praktischen
Christenthums» nicht verstaatlichen kann, weil sie sonst aufhört
zu existiren. Insofern bekenne ich mich auch hier zu dem laissez
faire, wobei ich aber den Ton lege auf das «faire»; das heißt,
ich sage, man soll niemand hindern etwas Gutes zu thun.
Unsere großen academischen staatssocialistischen Propheten und
Weltverbesserer freilich, die so sehr gegen den Grundsatz des
laisssez faire declamiren, scheinen dabei das «faire» gar nicht
im Auge zu haben, d. h. das handeln. Sie reden viel und thun
garnichts. Sie machen Projecte und haben keine Mittel sie zu

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[17/0019] bestehen, dem oben aufgestellten strengen Grundsatze ent- sprechen, und ob die betreffenden Gesetzgebungen, soweit sie demselben wirklich entsprechen, auch in einer diesem Ideal an- gemessenen Weise gehandhabt werden. Wenn ich bisher die Mittel gegen die Vagabondage erörtert habe, die theils innerhalb des jetzigen Zustandes unserer Gesetz- gebung angewendet werden können, theils auf dem Wege der Gesetzgebung zu realisiren sind, so will ich nun zuletzt, aber nicht am Geringsten, gedenken einer Anstalt, die viel besprochen worden ist und die, ohne irgend wie den Beistand der öffentlichen Gewalt, des Staats oder der Gesetzgebung anzurufen, hervor- gegangen aus der Einsicht, der Willenskraft und der Menschen- liebe eines einzelnen hochbegabten Mannes, uns den Weg gezeigt hat, wie ohne jede staatssocialistische Beimischung und unter Verschmähung eines jeglichen Zwanges die Vagabundenfrage zu lösen. Ich spreche von der Privatanstalt des Pastor Bodel- schwingh in Westphalen, die bei allen Parteien, ohne Unter- schied der politischen und religiösen Gesinnung, allgemeine An- erkennung findet, und dem Uebel in einer Weise entgegen- getreten ist, daß dessen Beseitigung wenigstens innerhalb einer gewissen Möglichkeit liegt. Ich halte es für überflüssig, Ihnen die Einrichtung dieser Anstalt zu beschreiben. Sie kennen die- selbe ohne Zweifel. Sie hat in vielen Theilen unseres Vater- landes nicht nur Anerkennung, sondern auch Nachahmung ge- funden. Ich fürchte nur, es wird nicht lange dauern, so wird man den Versuch machen, auch sie zu «verstaatlichen»; denn heutzutage wird ja alles verstaatlicht. Ich für meine Person glaube, daß man die Ausübung der Mildthätigkeit, der Menschen- freundlichkeit, der Humanität, der Moral, des wahren Christen- thums, oder wie man heute zu sagen liebt, des «praktischen Christenthums» nicht verstaatlichen kann, weil sie sonst aufhört zu existiren. Insofern bekenne ich mich auch hier zu dem laissez faire, wobei ich aber den Ton lege auf das «faire»; das heißt, ich sage, man soll niemand hindern etwas Gutes zu thun. Unsere großen academischen staatssocialistischen Propheten und Weltverbesserer freilich, die so sehr gegen den Grundsatz des laisssez faire declamiren, scheinen dabei das «faire» gar nicht im Auge zu haben, d. h. das handeln. Sie reden viel und thun garnichts. Sie machen Projecte und haben keine Mittel sie zu 2

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Zitationshilfe: Braun, Karl: Die Vagabundenfrage. Berlin, 1883, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/braun_vagabundenfrage_1883/19>, abgerufen am 22.11.2024.