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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 1. Hildburghausen, 1864.

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Die Raubthiere. Katzen. -- Der Löwe.
Ecke gestellt und konnte es mit der Hand erreichen, denn zum Hereinsteigen ist, wie Sie sehen, die
Oeffnung zu klein, und zu noch größerm Glücke war die Thür des Zimmers offen, so daß ich die
ganze drohende Scene zu übersehen im Stande war. Jetzt machte der Löwe eine Bewegung, es war
vielleicht zum Sprunge; da besann ich mich nicht länger, rief der Mutter leise Trost zu und schoß in
Gottes Namen hart an den Locken meines Knaben vorbei den Löwen über den funkelnden Augen in
die Stirn, daß er sich weiter nicht regte."

Wenn man auch annehmen will, daß dieser Löwe ganz satt gewesen sei, als er an jenes Haus
herankam, darf man doch nicht vergessen, daß andere Katzenarten in ähnlichen Fällen ihrer Mordlust
selten widerstehen können, und Dies würde nur ein Grund mehr sein, um den Adel der Löwen-
seele zu beweisen.

Die ehrfurchteinflößende Gestalt des Löwen, seine gewaltige Kraft, sein kühner, ruhiger Muth
ist von jeher anerkannt und bewundert worden. Und wenn nun auch die Bewunderung oft das rechte
Maß überschritten und dem Löwen Eigenschaften angedichtet hat, welche er wirklich nicht besitzt: im
Grunde ist sie doch gerechtfertigt. Der Löwe erscheint neben den übrigen Katzen und selbst neben den
meisten wilden Hundearten stolz, großmüthig und edel. Er ist blos dann ein Räuber, wenn er es
sein muß, und nur dann ein Wütherich, wenn er selbst zum Kampfe auf Leben und Tod heraus-
gefordert wird. Man hat Unrecht, wenn man behauptet, daß "das Stolze und Edle seines Ausdrucks
nichts Anderes, als ernste und besonnene Ueberlegung sei", und mit diesen Worten der bewunderungs-
vollen Auffassung der Löwenseele, welche Andere ausgesprochen haben, entgegentreten will. Jn den
von den geachtetsten Naturforschern dem Löwen zuerkannten Eigenschaften liegt meiner Ansicht nach
Adel genug. Und wer den Löwen näher kennen lernte, wer, wie ich, jahrelang tagtäglich mit einem
gefangenen verkehrte, dem wird es ergehen, wie mir es erging. Er wird ihn lieben und ehren,
wie nur jemals der Mensch ein Thier lieben und ehren kann. Jch will weiter unten von meinem
Lieblingsthiere, einer gefangenen Löwin, erzählen, welche mir manche Stunde versüßt und erheitert
hat; hier will ich nur hervorheben, daß ich mich fast vollkommen zu der Ansicht von Scheitlin hin-
sichtlich der geistigen Fähigkeiten des Löwen hinneige. Deshalb kann ich diesen geachteten Thierfreund
auch diesmal wieder für mich reden lassen.

"Wer will des Löwen, des Helden, des Königsthieres Seele beschreiben! Welch ein Thier voll
des kräftigsten Selbstbewußtseins! Welche Gestalt! Welche Majestät! Welcher Körper! Welche Brust!
Welcher Leib! Welch ein Anblick der 600 Löwen, die Pompejus aus Afrika zu einem großen
Römerspiele vorführte, und welch ein Ueberfall von einer Herde Löwen in das Heer des Xerxes!"

"Der Löwe wird vollkommen so zahm, wie ein guter Pudel. Sein Gedächtniß ist wie das
eines solchen. Er erkennt nach vielen Jahren ehemalige Wärter augenblicklich, und kennt er ihr
Gesicht und ihren Blick nicht mehr, so erkennt er doch schnell und sogleich ihr Wort, ihren Ton, die
alte, geliebte Stimme, wie auch der Mensch alte Bekannte länger an der Stimme, als an dem Aus-
sehen erkennt. Besonders gut ist sein Gedächtniß für Wohlthaten, wodurch er das alte Sprichwort
der Menschen: "Undank ist der Welt Lohn", zur Unwahrheit macht; denn der Löwe gehört, wie wir,
zur Welt. Die Erzählung des Cälius von dem Löwen und Androklus hat gar nichts Unwahr-
scheinliches an sich, obgleich man sie unwahr machen wollte. Man nennt den Löwen den Groß-
müthigen; doch will man etwa seine Großmuth heruntersetzen: kleine Schwache schonen und ihnen
Fehler verzeihen, ja nach Fehlern wohlthun, heißt großmüthig sein. Solches kann der Löwe, wenn
nicht jeder, so doch der vortrefflichere. Man sagt, wahrer Großmuth sei nur der Mensch fähig. Daß
diese wahre Großmuth, deren manche Menschen fähig sind, höher steht, als die der edelsten Löwen,
versteht sich sowohl von selbst, wie es sich von selbst versteht, daß die des Löwen höher steht, als die
des Marders, falls dieser Etwas von dieser Tugend hätte. Noch wird gesagt, daß dem Löwen doch
nicht zu trauen sei und er unerwartet seine Katzennatur hervorbrechen lasse. Unleugbar hat der Löwe
Launen. Tiefere Thiere haben keine, wohl aber die höheren. Solche haben selbst die Menschen, die
Kinder alle, nur wenig Männer nicht. Nur sind die Launen der Könige und des Starken gefährlich,

Die Raubthiere. Katzen. — Der Löwe.
Ecke geſtellt und konnte es mit der Hand erreichen, denn zum Hereinſteigen iſt, wie Sie ſehen, die
Oeffnung zu klein, und zu noch größerm Glücke war die Thür des Zimmers offen, ſo daß ich die
ganze drohende Scene zu überſehen im Stande war. Jetzt machte der Löwe eine Bewegung, es war
vielleicht zum Sprunge; da beſann ich mich nicht länger, rief der Mutter leiſe Troſt zu und ſchoß in
Gottes Namen hart an den Locken meines Knaben vorbei den Löwen über den funkelnden Augen in
die Stirn, daß er ſich weiter nicht regte.‟

Wenn man auch annehmen will, daß dieſer Löwe ganz ſatt geweſen ſei, als er an jenes Haus
herankam, darf man doch nicht vergeſſen, daß andere Katzenarten in ähnlichen Fällen ihrer Mordluſt
ſelten widerſtehen können, und Dies würde nur ein Grund mehr ſein, um den Adel der Löwen-
ſeele zu beweiſen.

Die ehrfurchteinflößende Geſtalt des Löwen, ſeine gewaltige Kraft, ſein kühner, ruhiger Muth
iſt von jeher anerkannt und bewundert worden. Und wenn nun auch die Bewunderung oft das rechte
Maß überſchritten und dem Löwen Eigenſchaften angedichtet hat, welche er wirklich nicht beſitzt: im
Grunde iſt ſie doch gerechtfertigt. Der Löwe erſcheint neben den übrigen Katzen und ſelbſt neben den
meiſten wilden Hundearten ſtolz, großmüthig und edel. Er iſt blos dann ein Räuber, wenn er es
ſein muß, und nur dann ein Wütherich, wenn er ſelbſt zum Kampfe auf Leben und Tod heraus-
gefordert wird. Man hat Unrecht, wenn man behauptet, daß „das Stolze und Edle ſeines Ausdrucks
nichts Anderes, als ernſte und beſonnene Ueberlegung ſei‟, und mit dieſen Worten der bewunderungs-
vollen Auffaſſung der Löwenſeele, welche Andere ausgeſprochen haben, entgegentreten will. Jn den
von den geachtetſten Naturforſchern dem Löwen zuerkannten Eigenſchaften liegt meiner Anſicht nach
Adel genug. Und wer den Löwen näher kennen lernte, wer, wie ich, jahrelang tagtäglich mit einem
gefangenen verkehrte, dem wird es ergehen, wie mir es erging. Er wird ihn lieben und ehren,
wie nur jemals der Menſch ein Thier lieben und ehren kann. Jch will weiter unten von meinem
Lieblingsthiere, einer gefangenen Löwin, erzählen, welche mir manche Stunde verſüßt und erheitert
hat; hier will ich nur hervorheben, daß ich mich faſt vollkommen zu der Anſicht von Scheitlin hin-
ſichtlich der geiſtigen Fähigkeiten des Löwen hinneige. Deshalb kann ich dieſen geachteten Thierfreund
auch diesmal wieder für mich reden laſſen.

„Wer will des Löwen, des Helden, des Königsthieres Seele beſchreiben! Welch ein Thier voll
des kräftigſten Selbſtbewußtſeins! Welche Geſtalt! Welche Majeſtät! Welcher Körper! Welche Bruſt!
Welcher Leib! Welch ein Anblick der 600 Löwen, die Pompejus aus Afrika zu einem großen
Römerſpiele vorführte, und welch ein Ueberfall von einer Herde Löwen in das Heer des Xerxes!

„Der Löwe wird vollkommen ſo zahm, wie ein guter Pudel. Sein Gedächtniß iſt wie das
eines ſolchen. Er erkennt nach vielen Jahren ehemalige Wärter augenblicklich, und kennt er ihr
Geſicht und ihren Blick nicht mehr, ſo erkennt er doch ſchnell und ſogleich ihr Wort, ihren Ton, die
alte, geliebte Stimme, wie auch der Menſch alte Bekannte länger an der Stimme, als an dem Aus-
ſehen erkennt. Beſonders gut iſt ſein Gedächtniß für Wohlthaten, wodurch er das alte Sprichwort
der Menſchen: „Undank iſt der Welt Lohn‟, zur Unwahrheit macht; denn der Löwe gehört, wie wir,
zur Welt. Die Erzählung des Cälius von dem Löwen und Androklus hat gar nichts Unwahr-
ſcheinliches an ſich, obgleich man ſie unwahr machen wollte. Man nennt den Löwen den Groß-
müthigen; doch will man etwa ſeine Großmuth herunterſetzen: kleine Schwache ſchonen und ihnen
Fehler verzeihen, ja nach Fehlern wohlthun, heißt großmüthig ſein. Solches kann der Löwe, wenn
nicht jeder, ſo doch der vortrefflichere. Man ſagt, wahrer Großmuth ſei nur der Menſch fähig. Daß
dieſe wahre Großmuth, deren manche Menſchen fähig ſind, höher ſteht, als die der edelſten Löwen,
verſteht ſich ſowohl von ſelbſt, wie es ſich von ſelbſt verſteht, daß die des Löwen höher ſteht, als die
des Marders, falls dieſer Etwas von dieſer Tugend hätte. Noch wird geſagt, daß dem Löwen doch
nicht zu trauen ſei und er unerwartet ſeine Katzennatur hervorbrechen laſſe. Unleugbar hat der Löwe
Launen. Tiefere Thiere haben keine, wohl aber die höheren. Solche haben ſelbſt die Menſchen, die
Kinder alle, nur wenig Männer nicht. Nur ſind die Launen der Könige und des Starken gefährlich,

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[202/0262] Die Raubthiere. Katzen. — Der Löwe. Ecke geſtellt und konnte es mit der Hand erreichen, denn zum Hereinſteigen iſt, wie Sie ſehen, die Oeffnung zu klein, und zu noch größerm Glücke war die Thür des Zimmers offen, ſo daß ich die ganze drohende Scene zu überſehen im Stande war. Jetzt machte der Löwe eine Bewegung, es war vielleicht zum Sprunge; da beſann ich mich nicht länger, rief der Mutter leiſe Troſt zu und ſchoß in Gottes Namen hart an den Locken meines Knaben vorbei den Löwen über den funkelnden Augen in die Stirn, daß er ſich weiter nicht regte.‟ Wenn man auch annehmen will, daß dieſer Löwe ganz ſatt geweſen ſei, als er an jenes Haus herankam, darf man doch nicht vergeſſen, daß andere Katzenarten in ähnlichen Fällen ihrer Mordluſt ſelten widerſtehen können, und Dies würde nur ein Grund mehr ſein, um den Adel der Löwen- ſeele zu beweiſen. Die ehrfurchteinflößende Geſtalt des Löwen, ſeine gewaltige Kraft, ſein kühner, ruhiger Muth iſt von jeher anerkannt und bewundert worden. Und wenn nun auch die Bewunderung oft das rechte Maß überſchritten und dem Löwen Eigenſchaften angedichtet hat, welche er wirklich nicht beſitzt: im Grunde iſt ſie doch gerechtfertigt. Der Löwe erſcheint neben den übrigen Katzen und ſelbſt neben den meiſten wilden Hundearten ſtolz, großmüthig und edel. Er iſt blos dann ein Räuber, wenn er es ſein muß, und nur dann ein Wütherich, wenn er ſelbſt zum Kampfe auf Leben und Tod heraus- gefordert wird. Man hat Unrecht, wenn man behauptet, daß „das Stolze und Edle ſeines Ausdrucks nichts Anderes, als ernſte und beſonnene Ueberlegung ſei‟, und mit dieſen Worten der bewunderungs- vollen Auffaſſung der Löwenſeele, welche Andere ausgeſprochen haben, entgegentreten will. Jn den von den geachtetſten Naturforſchern dem Löwen zuerkannten Eigenſchaften liegt meiner Anſicht nach Adel genug. Und wer den Löwen näher kennen lernte, wer, wie ich, jahrelang tagtäglich mit einem gefangenen verkehrte, dem wird es ergehen, wie mir es erging. Er wird ihn lieben und ehren, wie nur jemals der Menſch ein Thier lieben und ehren kann. Jch will weiter unten von meinem Lieblingsthiere, einer gefangenen Löwin, erzählen, welche mir manche Stunde verſüßt und erheitert hat; hier will ich nur hervorheben, daß ich mich faſt vollkommen zu der Anſicht von Scheitlin hin- ſichtlich der geiſtigen Fähigkeiten des Löwen hinneige. Deshalb kann ich dieſen geachteten Thierfreund auch diesmal wieder für mich reden laſſen. „Wer will des Löwen, des Helden, des Königsthieres Seele beſchreiben! Welch ein Thier voll des kräftigſten Selbſtbewußtſeins! Welche Geſtalt! Welche Majeſtät! Welcher Körper! Welche Bruſt! Welcher Leib! Welch ein Anblick der 600 Löwen, die Pompejus aus Afrika zu einem großen Römerſpiele vorführte, und welch ein Ueberfall von einer Herde Löwen in das Heer des Xerxes!‟ „Der Löwe wird vollkommen ſo zahm, wie ein guter Pudel. Sein Gedächtniß iſt wie das eines ſolchen. Er erkennt nach vielen Jahren ehemalige Wärter augenblicklich, und kennt er ihr Geſicht und ihren Blick nicht mehr, ſo erkennt er doch ſchnell und ſogleich ihr Wort, ihren Ton, die alte, geliebte Stimme, wie auch der Menſch alte Bekannte länger an der Stimme, als an dem Aus- ſehen erkennt. Beſonders gut iſt ſein Gedächtniß für Wohlthaten, wodurch er das alte Sprichwort der Menſchen: „Undank iſt der Welt Lohn‟, zur Unwahrheit macht; denn der Löwe gehört, wie wir, zur Welt. Die Erzählung des Cälius von dem Löwen und Androklus hat gar nichts Unwahr- ſcheinliches an ſich, obgleich man ſie unwahr machen wollte. Man nennt den Löwen den Groß- müthigen; doch will man etwa ſeine Großmuth herunterſetzen: kleine Schwache ſchonen und ihnen Fehler verzeihen, ja nach Fehlern wohlthun, heißt großmüthig ſein. Solches kann der Löwe, wenn nicht jeder, ſo doch der vortrefflichere. Man ſagt, wahrer Großmuth ſei nur der Menſch fähig. Daß dieſe wahre Großmuth, deren manche Menſchen fähig ſind, höher ſteht, als die der edelſten Löwen, verſteht ſich ſowohl von ſelbſt, wie es ſich von ſelbſt verſteht, daß die des Löwen höher ſteht, als die des Marders, falls dieſer Etwas von dieſer Tugend hätte. Noch wird geſagt, daß dem Löwen doch nicht zu trauen ſei und er unerwartet ſeine Katzennatur hervorbrechen laſſe. Unleugbar hat der Löwe Launen. Tiefere Thiere haben keine, wohl aber die höheren. Solche haben ſelbſt die Menſchen, die Kinder alle, nur wenig Männer nicht. Nur ſind die Launen der Könige und des Starken gefährlich,

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 1. Hildburghausen, 1864, S. 202. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben01_1864/262>, abgerufen am 22.11.2024.