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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 1. Hildburghausen, 1864.

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Die Raubthiere. Bären. -- Lippenbär.
gar Nichts. Sehr widerlich ist seine Unreinlichkeit: er frißt seinen eigenen Koth auf! Nicht minder
unangenehm ist feine unbezähmbare Sucht, alles Holzwerk seiner Käfige zu zernagen. Er zerfrißt
Balken und dicke Eichstämme und arbeitet dabei mit einer Unverdrossenheit, welche einer bessern Sache
würdig wäre. Sein Betragen unterhält höchstens Den, welcher ihn nicht kennt: seinen Pflegern
macht er sich bald verhaßt.



Auffallender noch in Gestalt und Wesen, als die Sonnenbären, ist der Lippenbär (Prochilus
labiatus
). Jhn kennzeichnet ein kurzer, dicker Leib, niedere Beine, ziemlich große Füße, deren Zehen
mit ungeheuren Sichelkrallen bewehrt sind, eine vorgezogene, stumpfspitzige Schnauze mit weit vor-
streckbaren Lippen und ein langes zottiges Haar, welches im Nacken eine Mähne bildet und auch
seitlich tief herabfällt. Alle angegebenen Merkmale verleihen der Sippe einen hinlänglichen Grad von
Selbstständigkeit. Wie merkwürdig das Thier sein muß, sieht man am besten daraus, daß es im
Anfange unter dem Namen des bärenartigen Faulthieres (Bradipus ursinus) beschrieben, ja
in einem Werke sogar "das namlose Thier" genannt wurde. Jn Europa ist der Lippenbär zu
Ende des vorigen Jahrhunderts bekannt geworden, und erst Anfang dieses Jahrhunderts kam er auch
lebend dahin. Da stellte sich nun freilich heraus, daß er ein echter Bär ist, und somit erhielt er seinen
ihm gebührenden Platz in der Thierreihe angewiesen.

Die Länge des Lippenbären beträgt, einschließlich des etwa 4 Zoll langen Schwanzstumpfes,
5 bis 51/2, die Höhe am Widerrist ungefähr 2 2/3 Fuß. Unser Thier kann kaum verkannt werden.
Der ziemlich flache, mit einer breiten, platten Stirne versehene Kopf verlängert sich in eine lauge,
schmale, zugespitzte und rüsselartige Schnauze von höchst eigenthümlicher Bildung. Der Nasenknorpel
nämlich breitet sich in eine flache und leicht bewegbare Platte aus, auf welcher die beiden in die Quere
gezogenen und durch eine schmale Scheidewand von einander getrennten Nasenlöcher gestellt sind.
Die Nasenflügel, welche sie seitlich begrenzen, sind im höchsten Grade beweglich, und die langen,
äußerst dehnbaren Lippen übertreffen sie hierin sogar noch. Sie reichen schon im Stande der Ruhe
ziemlich weit über den Kiefer hinaus, können aber unter Umständen so verlängert, vorgeschoben,
zusammengelegt und umgeschlagen werden, daß sie eine Art Röhre bilden, welche fast vollständig
die Fähigkeiten eines Rüssels besitzt. Die lange, schmale und platte, vorn abgestutzte Zunge hilft
diese Röhre mit bilden und verwenden, und so ist das Thier im Stande, nicht blos Gegenstände aller
Art zu ergreifen und an sich zu ziehen, sondern förmlich an sich zu sangen. Der übrige Theil des
Kopfes ist durch die kurzen, stumpf zugespitzten und aufrechtstehenden Ohren, sowie die kleinen, fast
schweineartigen, schiefen Augen ausgezeichnet; doch sieht man vom ganzen Kopfe nur sehr wenig, weil
selbst der größte Theil der kurzbehaarten Schnauze von den auffallend langen, struppigen Haaren des
Scheitels verdeckt wird. Dieser Haarpelz verhüllt auch gänzlich den Schwanz und verlängert sich an
manchen Theilen des Körpers, zumal am Hals und im Nacken, zu einer dichten, krausen und struppigen
Mähne. Jn der Mitte des Rückens bilden sich gewöhnlich zwei sehr große, wulstige Büsche aus den
sich hier verwirrenden Haaren und geben dem Bären ganz das Aussehen, als ob er einen Höcker trüge.
So gewinnt der ganze Vordertheil des Thieres ein höchst unförmliches Aussehen, und dieses wird durch
den plumpen und schwerfälligen Leib und die kurzen und dicken Beine noch wesentlich erhöht. Sogar
die Füße find absonderlich und namentlich die außerordentlich langen, scharfen und gekrümmten Krallen
ganz eigenthümlich, wirklich fanlthierartig. Das Gebiß, wenigstens das der alten Thiere, hat auch
sein eigenes Gepräge. Die Schneidezähne fallen in der Regel frühzeitig aus, und der Zwischen-
kiefer bekommt dann ein in der That in Verwirrung setzendes Aussehen. Aus diesem Grunde
dürfen wir es den betreffenden Naturforschern nicht so sehr verargen, daß sie den Lippenbär unter die
zahnlosen Thiere rechnen wollten. Die Färbung der groben Haare ist ein glänzendes Schwarz; die
Schnauze bis zu den Augen ist grau oder schmuzigweiß, ein fast herzförmig oder hufeisenförmig
gestalteter Brustflecken aber weiß gefärbt. Bisweilen haben auch die Zehen eine sehr lichte Färbung.

Die Raubthiere. Bären. — Lippenbär.
gar Nichts. Sehr widerlich iſt ſeine Unreinlichkeit: er frißt ſeinen eigenen Koth auf! Nicht minder
unangenehm iſt feine unbezähmbare Sucht, alles Holzwerk ſeiner Käfige zu zernagen. Er zerfrißt
Balken und dicke Eichſtämme und arbeitet dabei mit einer Unverdroſſenheit, welche einer beſſern Sache
würdig wäre. Sein Betragen unterhält höchſtens Den, welcher ihn nicht kennt: ſeinen Pflegern
macht er ſich bald verhaßt.



Auffallender noch in Geſtalt und Weſen, als die Sonnenbären, iſt der Lippenbär (Prochilus
labiatus
). Jhn kennzeichnet ein kurzer, dicker Leib, niedere Beine, ziemlich große Füße, deren Zehen
mit ungeheuren Sichelkrallen bewehrt ſind, eine vorgezogene, ſtumpfſpitzige Schnauze mit weit vor-
ſtreckbaren Lippen und ein langes zottiges Haar, welches im Nacken eine Mähne bildet und auch
ſeitlich tief herabfällt. Alle angegebenen Merkmale verleihen der Sippe einen hinlänglichen Grad von
Selbſtſtändigkeit. Wie merkwürdig das Thier ſein muß, ſieht man am beſten daraus, daß es im
Anfange unter dem Namen des bärenartigen Faulthieres (Bradipus ursinus) beſchrieben, ja
in einem Werke ſogar „das namloſe Thier‟ genannt wurde. Jn Europa iſt der Lippenbär zu
Ende des vorigen Jahrhunderts bekannt geworden, und erſt Anfang dieſes Jahrhunderts kam er auch
lebend dahin. Da ſtellte ſich nun freilich heraus, daß er ein echter Bär iſt, und ſomit erhielt er ſeinen
ihm gebührenden Platz in der Thierreihe angewieſen.

Die Länge des Lippenbären beträgt, einſchließlich des etwa 4 Zoll langen Schwanzſtumpfes,
5 bis 5½, die Höhe am Widerriſt ungefähr 2⅔ Fuß. Unſer Thier kann kaum verkannt werden.
Der ziemlich flache, mit einer breiten, platten Stirne verſehene Kopf verlängert ſich in eine lauge,
ſchmale, zugeſpitzte und rüſſelartige Schnauze von höchſt eigenthümlicher Bildung. Der Naſenknorpel
nämlich breitet ſich in eine flache und leicht bewegbare Platte aus, auf welcher die beiden in die Quere
gezogenen und durch eine ſchmale Scheidewand von einander getrennten Naſenlöcher geſtellt ſind.
Die Naſenflügel, welche ſie ſeitlich begrenzen, ſind im höchſten Grade beweglich, und die langen,
äußerſt dehnbaren Lippen übertreffen ſie hierin ſogar noch. Sie reichen ſchon im Stande der Ruhe
ziemlich weit über den Kiefer hinaus, können aber unter Umſtänden ſo verlängert, vorgeſchoben,
zuſammengelegt und umgeſchlagen werden, daß ſie eine Art Röhre bilden, welche faſt vollſtändig
die Fähigkeiten eines Rüſſels beſitzt. Die lange, ſchmale und platte, vorn abgeſtutzte Zunge hilft
dieſe Röhre mit bilden und verwenden, und ſo iſt das Thier im Stande, nicht blos Gegenſtände aller
Art zu ergreifen und an ſich zu ziehen, ſondern förmlich an ſich zu ſangen. Der übrige Theil des
Kopfes iſt durch die kurzen, ſtumpf zugeſpitzten und aufrechtſtehenden Ohren, ſowie die kleinen, faſt
ſchweineartigen, ſchiefen Augen ausgezeichnet; doch ſieht man vom ganzen Kopfe nur ſehr wenig, weil
ſelbſt der größte Theil der kurzbehaarten Schnauze von den auffallend langen, ſtruppigen Haaren des
Scheitels verdeckt wird. Dieſer Haarpelz verhüllt auch gänzlich den Schwanz und verlängert ſich an
manchen Theilen des Körpers, zumal am Hals und im Nacken, zu einer dichten, krauſen und ſtruppigen
Mähne. Jn der Mitte des Rückens bilden ſich gewöhnlich zwei ſehr große, wulſtige Büſche aus den
ſich hier verwirrenden Haaren und geben dem Bären ganz das Ausſehen, als ob er einen Höcker trüge.
So gewinnt der ganze Vordertheil des Thieres ein höchſt unförmliches Ausſehen, und dieſes wird durch
den plumpen und ſchwerfälligen Leib und die kurzen und dicken Beine noch weſentlich erhöht. Sogar
die Füße find abſonderlich und namentlich die außerordentlich langen, ſcharfen und gekrümmten Krallen
ganz eigenthümlich, wirklich fanlthierartig. Das Gebiß, wenigſtens das der alten Thiere, hat auch
ſein eigenes Gepräge. Die Schneidezähne fallen in der Regel frühzeitig aus, und der Zwiſchen-
kiefer bekommt dann ein in der That in Verwirrung ſetzendes Ausſehen. Aus dieſem Grunde
dürfen wir es den betreffenden Naturforſchern nicht ſo ſehr verargen, daß ſie den Lippenbär unter die
zahnloſen Thiere rechnen wollten. Die Färbung der groben Haare iſt ein glänzendes Schwarz; die
Schnauze bis zu den Augen iſt grau oder ſchmuzigweiß, ein faſt herzförmig oder hufeiſenförmig
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[610/0688] Die Raubthiere. Bären. — Lippenbär. gar Nichts. Sehr widerlich iſt ſeine Unreinlichkeit: er frißt ſeinen eigenen Koth auf! Nicht minder unangenehm iſt feine unbezähmbare Sucht, alles Holzwerk ſeiner Käfige zu zernagen. Er zerfrißt Balken und dicke Eichſtämme und arbeitet dabei mit einer Unverdroſſenheit, welche einer beſſern Sache würdig wäre. Sein Betragen unterhält höchſtens Den, welcher ihn nicht kennt: ſeinen Pflegern macht er ſich bald verhaßt. Auffallender noch in Geſtalt und Weſen, als die Sonnenbären, iſt der Lippenbär (Prochilus labiatus). Jhn kennzeichnet ein kurzer, dicker Leib, niedere Beine, ziemlich große Füße, deren Zehen mit ungeheuren Sichelkrallen bewehrt ſind, eine vorgezogene, ſtumpfſpitzige Schnauze mit weit vor- ſtreckbaren Lippen und ein langes zottiges Haar, welches im Nacken eine Mähne bildet und auch ſeitlich tief herabfällt. Alle angegebenen Merkmale verleihen der Sippe einen hinlänglichen Grad von Selbſtſtändigkeit. Wie merkwürdig das Thier ſein muß, ſieht man am beſten daraus, daß es im Anfange unter dem Namen des bärenartigen Faulthieres (Bradipus ursinus) beſchrieben, ja in einem Werke ſogar „das namloſe Thier‟ genannt wurde. Jn Europa iſt der Lippenbär zu Ende des vorigen Jahrhunderts bekannt geworden, und erſt Anfang dieſes Jahrhunderts kam er auch lebend dahin. Da ſtellte ſich nun freilich heraus, daß er ein echter Bär iſt, und ſomit erhielt er ſeinen ihm gebührenden Platz in der Thierreihe angewieſen. Die Länge des Lippenbären beträgt, einſchließlich des etwa 4 Zoll langen Schwanzſtumpfes, 5 bis 5½, die Höhe am Widerriſt ungefähr 2⅔ Fuß. Unſer Thier kann kaum verkannt werden. Der ziemlich flache, mit einer breiten, platten Stirne verſehene Kopf verlängert ſich in eine lauge, ſchmale, zugeſpitzte und rüſſelartige Schnauze von höchſt eigenthümlicher Bildung. Der Naſenknorpel nämlich breitet ſich in eine flache und leicht bewegbare Platte aus, auf welcher die beiden in die Quere gezogenen und durch eine ſchmale Scheidewand von einander getrennten Naſenlöcher geſtellt ſind. Die Naſenflügel, welche ſie ſeitlich begrenzen, ſind im höchſten Grade beweglich, und die langen, äußerſt dehnbaren Lippen übertreffen ſie hierin ſogar noch. Sie reichen ſchon im Stande der Ruhe ziemlich weit über den Kiefer hinaus, können aber unter Umſtänden ſo verlängert, vorgeſchoben, zuſammengelegt und umgeſchlagen werden, daß ſie eine Art Röhre bilden, welche faſt vollſtändig die Fähigkeiten eines Rüſſels beſitzt. Die lange, ſchmale und platte, vorn abgeſtutzte Zunge hilft dieſe Röhre mit bilden und verwenden, und ſo iſt das Thier im Stande, nicht blos Gegenſtände aller Art zu ergreifen und an ſich zu ziehen, ſondern förmlich an ſich zu ſangen. Der übrige Theil des Kopfes iſt durch die kurzen, ſtumpf zugeſpitzten und aufrechtſtehenden Ohren, ſowie die kleinen, faſt ſchweineartigen, ſchiefen Augen ausgezeichnet; doch ſieht man vom ganzen Kopfe nur ſehr wenig, weil ſelbſt der größte Theil der kurzbehaarten Schnauze von den auffallend langen, ſtruppigen Haaren des Scheitels verdeckt wird. Dieſer Haarpelz verhüllt auch gänzlich den Schwanz und verlängert ſich an manchen Theilen des Körpers, zumal am Hals und im Nacken, zu einer dichten, krauſen und ſtruppigen Mähne. Jn der Mitte des Rückens bilden ſich gewöhnlich zwei ſehr große, wulſtige Büſche aus den ſich hier verwirrenden Haaren und geben dem Bären ganz das Ausſehen, als ob er einen Höcker trüge. So gewinnt der ganze Vordertheil des Thieres ein höchſt unförmliches Ausſehen, und dieſes wird durch den plumpen und ſchwerfälligen Leib und die kurzen und dicken Beine noch weſentlich erhöht. Sogar die Füße find abſonderlich und namentlich die außerordentlich langen, ſcharfen und gekrümmten Krallen ganz eigenthümlich, wirklich fanlthierartig. Das Gebiß, wenigſtens das der alten Thiere, hat auch ſein eigenes Gepräge. Die Schneidezähne fallen in der Regel frühzeitig aus, und der Zwiſchen- kiefer bekommt dann ein in der That in Verwirrung ſetzendes Ausſehen. Aus dieſem Grunde dürfen wir es den betreffenden Naturforſchern nicht ſo ſehr verargen, daß ſie den Lippenbär unter die zahnloſen Thiere rechnen wollten. Die Färbung der groben Haare iſt ein glänzendes Schwarz; die Schnauze bis zu den Augen iſt grau oder ſchmuzigweiß, ein faſt herzförmig oder hufeiſenförmig geſtalteter Bruſtflecken aber weiß gefärbt. Bisweilen haben auch die Zehen eine ſehr lichte Färbung.

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 1. Hildburghausen, 1864, S. 610. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben01_1864/688>, abgerufen am 22.11.2024.