Die Postläufer, welche nur bei Nacht reisen, sind den Anfällen der Lippenbären mehr als alle Anderen ausgesetzt und tragen deshalb immer helleuchtende Fackeln in den Händen, deren greller Schein die Thiere schreckt und veranlaßt, den Weg zu räumen. Demungeachtet theilen auch sie den Glauben der meisten Singalesen, daß gewisse Gedichte mehr als alles Andere vor den Angriffen der Aswails schützen, und sie tragen deshalb immer im Haar oder am Nacken Amulete, deren Wunderkraft eben in jenen Gedichten beruht. Leider beweisen die Bären den durch Talismane Gefeiten oft genug, daß die Wunderkraft nicht gar so groß ist, und die biederen Singalesen nehmen auch gar keinen Anstand, trotz aller Schutzmittel, einem wüthenden Aswail das Feld zu lassen -- falls ihnen dazu Zeit bleibt. Sie wissen sehr wohl, daß der gereizte Bär nichts weniger, als der gutmüthige Bursch ist, welcher er scheint; sie wissen, daß der Zorn sein ganzes Wesen verändert. Während er bei ruhigem Gange in der sonderbarsten Weise dahinwankt und seine Beine so täppisch als möglich kreuzweife über einander setzt, fällt er bei Erregung in einen Trab, welcher immer noch schnell genug ist, um einen Fußgänger unter allen Umständen zu erreichen; und deshalb fürchten die Juder diesen Bären mindestens ebensosehr, wie wir unsern Meister Petz oder die Amerikaner ihren Ephraim.
Bei ruhigem Gange trägt der Aswail den Kopf zur Erde gesenkt und krümmt dabei den Rücken, wodurch der Haarfilz scheinbar erst recht zum Höcker wird, bei schnellerm Laufe aber trabt er mit empor- gehobenem Haupte dahin. Seinem Feinde geht er manchmal auch auf den zwei Hinterfüßen entgegen.
Von seiner Fortpflanzung weiß man nur soviel, daß die Bärin gewöhnlich ein, höchstens zwei Junge wirft und diese dann, solange sie noch nicht vollständig bewegungsfähig sind, auf dem Rücken trägt, wie ein Faulthier seine Nachkommenschaft.
Jn der Gefangenschaft hat man ihn öfters beobachten können und zwar ebensowohl in Jndien, wie in Europa. Jn seinem Vaterlande wird seine Gelehrigkeit von Gauklern und Thierführern benutzt und er zu allerlei Kunststückchen abgerichtet, wie unser Meister Petz. Die Leute ziehen mit ihm in derselben Weise durch das Land, wie früher unsere Bärenführer, und gewinnen durch ihn dürftig genug ihren Lebensunterhalt. Jn Hinsicht auf diesen Gebrauch haben die Franzosen den Aswail mit dem Namen "Ours jongleur" belegt. Jn Europa hat man ihn hauptsächlich in England längere Zeit, einmal sogar durch neunzehn Jahre, am Leben erhalten können. Man füttert ihn mit Milch, Brod, Obst und Fleisch und erhält ihn sehr lange bei dieser Nahrung; Brod und Obst scheint er dem übrigen Futter entschieden vorzuziehen. Wenn er jung eingefangen wird, läßt er sich leicht zähmen und macht auch trotz seiner scheinbaren Plumpheit und Schwerfälligkeit viel Vergnügen. Er wälzt sich, wie ein schlafender Hund, zusammengelegt von einer Seite zur andern, springt herum, schlägt Purzelbäume, richtet sich auf den Hinterfüßen auf und verzerrt sein Gesicht in der merkwürdigsten Weise, wenn ihm irgendwelche Nahrung geboten wird. Dabei ist er höchst gutmüthig, zuthunlich und sehr ehrlich. Er macht niemals Miene, zu beißen, und man kann ihm, wenn man ihn einmal kennen lernte, in jeder Hinsicht vertrauen. Gegen andere Bären seiner Art ist er womöglich noch zärtlicher, als manche seiner Familienverwandten. Zwei Aswails, welche man im Thiergarten von London hielt, pflegten sich auf die zärtlichste Weise zu umarmen und sich gegenseitig dabei die Pfoten zu lecken. Jn recht guter Laune stießen sie auch ein bärenartiges Kuurren aus, welches, wie mein Berichterstatter sagt, einen gewissen musikalischen Werth hatte. Dagegen vernahm man rauhe und brüllende Töne, wenn man die Thiere mit Mühe in Zorn gebracht hatte.
Jch sah den Lippenbär in der neuesten Zeit einige Male in Thierschaubuden und in Thiergärten. Sie lagen gewöhnlich wie ein Hund auf dem Bauche und beschäftigten sich stundenlang mit Belecken ihrer Tatzen. Gegen Vorgänge außerhalb ihres Käfigs schienen sie höchst gleichgiltig zu sein. Ueber- haupt kamen mir die Thiere gutmüthig, aber auch sehr stumpfgeistig vor. Wenn man ihnen Nahrung hinhält, bilden sie ihre Lippenröhre, -- an welcher aber die Zunge keinen Antheil nimmt -- und ver- suchen das ihnen Dargereichte mit den Lippen zu fassen, ungefähr in derselben Weise, in welcher die Wiederkäuer Dies zu thun pflegen. Jhre Stimme schien mir eher ein Gewimmer, als ein Gebrumme; die Töne waren widerlich.
Nahrung. Schädlichkeit. Gefangenſchaft.
Die Poſtläufer, welche nur bei Nacht reiſen, ſind den Anfällen der Lippenbären mehr als alle Anderen ausgeſetzt und tragen deshalb immer helleuchtende Fackeln in den Händen, deren greller Schein die Thiere ſchreckt und veranlaßt, den Weg zu räumen. Demungeachtet theilen auch ſie den Glauben der meiſten Singaleſen, daß gewiſſe Gedichte mehr als alles Andere vor den Angriffen der Aswails ſchützen, und ſie tragen deshalb immer im Haar oder am Nacken Amulete, deren Wunderkraft eben in jenen Gedichten beruht. Leider beweiſen die Bären den durch Talismane Gefeiten oft genug, daß die Wunderkraft nicht gar ſo groß iſt, und die biederen Singaleſen nehmen auch gar keinen Anſtand, trotz aller Schutzmittel, einem wüthenden Aswail das Feld zu laſſen — falls ihnen dazu Zeit bleibt. Sie wiſſen ſehr wohl, daß der gereizte Bär nichts weniger, als der gutmüthige Burſch iſt, welcher er ſcheint; ſie wiſſen, daß der Zorn ſein ganzes Weſen verändert. Während er bei ruhigem Gange in der ſonderbarſten Weiſe dahinwankt und ſeine Beine ſo täppiſch als möglich kreuzweife über einander ſetzt, fällt er bei Erregung in einen Trab, welcher immer noch ſchnell genug iſt, um einen Fußgänger unter allen Umſtänden zu erreichen; und deshalb fürchten die Juder dieſen Bären mindeſtens ebenſoſehr, wie wir unſern Meiſter Petz oder die Amerikaner ihren Ephraim.
Bei ruhigem Gange trägt der Aswail den Kopf zur Erde geſenkt und krümmt dabei den Rücken, wodurch der Haarfilz ſcheinbar erſt recht zum Höcker wird, bei ſchnellerm Laufe aber trabt er mit empor- gehobenem Haupte dahin. Seinem Feinde geht er manchmal auch auf den zwei Hinterfüßen entgegen.
Von ſeiner Fortpflanzung weiß man nur ſoviel, daß die Bärin gewöhnlich ein, höchſtens zwei Junge wirft und dieſe dann, ſolange ſie noch nicht vollſtändig bewegungsfähig ſind, auf dem Rücken trägt, wie ein Faulthier ſeine Nachkommenſchaft.
Jn der Gefangenſchaft hat man ihn öfters beobachten können und zwar ebenſowohl in Jndien, wie in Europa. Jn ſeinem Vaterlande wird ſeine Gelehrigkeit von Gauklern und Thierführern benutzt und er zu allerlei Kunſtſtückchen abgerichtet, wie unſer Meiſter Petz. Die Leute ziehen mit ihm in derſelben Weiſe durch das Land, wie früher unſere Bärenführer, und gewinnen durch ihn dürftig genug ihren Lebensunterhalt. Jn Hinſicht auf dieſen Gebrauch haben die Franzoſen den Aswail mit dem Namen „Ours jongleur‟ belegt. Jn Europa hat man ihn hauptſächlich in England längere Zeit, einmal ſogar durch neunzehn Jahre, am Leben erhalten können. Man füttert ihn mit Milch, Brod, Obſt und Fleiſch und erhält ihn ſehr lange bei dieſer Nahrung; Brod und Obſt ſcheint er dem übrigen Futter entſchieden vorzuziehen. Wenn er jung eingefangen wird, läßt er ſich leicht zähmen und macht auch trotz ſeiner ſcheinbaren Plumpheit und Schwerfälligkeit viel Vergnügen. Er wälzt ſich, wie ein ſchlafender Hund, zuſammengelegt von einer Seite zur andern, ſpringt herum, ſchlägt Purzelbäume, richtet ſich auf den Hinterfüßen auf und verzerrt ſein Geſicht in der merkwürdigſten Weiſe, wenn ihm irgendwelche Nahrung geboten wird. Dabei iſt er höchſt gutmüthig, zuthunlich und ſehr ehrlich. Er macht niemals Miene, zu beißen, und man kann ihm, wenn man ihn einmal kennen lernte, in jeder Hinſicht vertrauen. Gegen andere Bären ſeiner Art iſt er womöglich noch zärtlicher, als manche ſeiner Familienverwandten. Zwei Aswails, welche man im Thiergarten von London hielt, pflegten ſich auf die zärtlichſte Weiſe zu umarmen und ſich gegenſeitig dabei die Pfoten zu lecken. Jn recht guter Laune ſtießen ſie auch ein bärenartiges Kuurren aus, welches, wie mein Berichterſtatter ſagt, einen gewiſſen muſikaliſchen Werth hatte. Dagegen vernahm man rauhe und brüllende Töne, wenn man die Thiere mit Mühe in Zorn gebracht hatte.
Jch ſah den Lippenbär in der neueſten Zeit einige Male in Thierſchaubuden und in Thiergärten. Sie lagen gewöhnlich wie ein Hund auf dem Bauche und beſchäftigten ſich ſtundenlang mit Belecken ihrer Tatzen. Gegen Vorgänge außerhalb ihres Käfigs ſchienen ſie höchſt gleichgiltig zu ſein. Ueber- haupt kamen mir die Thiere gutmüthig, aber auch ſehr ſtumpfgeiſtig vor. Wenn man ihnen Nahrung hinhält, bilden ſie ihre Lippenröhre, — an welcher aber die Zunge keinen Antheil nimmt — und ver- ſuchen das ihnen Dargereichte mit den Lippen zu faſſen, ungefähr in derſelben Weiſe, in welcher die Wiederkäuer Dies zu thun pflegen. Jhre Stimme ſchien mir eher ein Gewimmer, als ein Gebrumme; die Töne waren widerlich.
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Die Poſtläufer, welche nur bei Nacht reiſen, ſind den Anfällen der Lippenbären mehr als alle
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Schein die Thiere ſchreckt und veranlaßt, den Weg zu räumen. Demungeachtet theilen auch ſie den
Glauben der meiſten Singaleſen, daß gewiſſe Gedichte mehr als alles Andere vor den Angriffen der
Aswails ſchützen, und ſie tragen deshalb immer im Haar oder am Nacken Amulete, deren Wunderkraft
eben in jenen Gedichten beruht. Leider beweiſen die Bären den durch Talismane Gefeiten oft genug,
daß die Wunderkraft nicht gar ſo groß iſt, und die biederen Singaleſen nehmen auch gar keinen
Anſtand, trotz aller Schutzmittel, einem wüthenden Aswail das Feld zu laſſen — falls ihnen dazu
Zeit bleibt. Sie wiſſen ſehr wohl, daß der gereizte Bär nichts weniger, als der gutmüthige Burſch
iſt, welcher er ſcheint; ſie wiſſen, daß der Zorn ſein ganzes Weſen verändert. Während er bei
ruhigem Gange in der ſonderbarſten Weiſe dahinwankt und ſeine Beine ſo täppiſch als möglich
kreuzweife über einander ſetzt, fällt er bei Erregung in einen Trab, welcher immer noch ſchnell genug
iſt, um einen Fußgänger unter allen Umſtänden zu erreichen; und deshalb fürchten die Juder dieſen
Bären mindeſtens ebenſoſehr, wie wir unſern Meiſter Petz oder die Amerikaner ihren Ephraim.
Bei ruhigem Gange trägt der Aswail den Kopf zur Erde geſenkt und krümmt dabei den Rücken,
wodurch der Haarfilz ſcheinbar erſt recht zum Höcker wird, bei ſchnellerm Laufe aber trabt er mit empor-
gehobenem Haupte dahin. Seinem Feinde geht er manchmal auch auf den zwei Hinterfüßen entgegen.
Von ſeiner Fortpflanzung weiß man nur ſoviel, daß die Bärin gewöhnlich ein, höchſtens zwei
Junge wirft und dieſe dann, ſolange ſie noch nicht vollſtändig bewegungsfähig ſind, auf dem Rücken
trägt, wie ein Faulthier ſeine Nachkommenſchaft.
Jn der Gefangenſchaft hat man ihn öfters beobachten können und zwar ebenſowohl in Jndien,
wie in Europa. Jn ſeinem Vaterlande wird ſeine Gelehrigkeit von Gauklern und Thierführern
benutzt und er zu allerlei Kunſtſtückchen abgerichtet, wie unſer Meiſter Petz. Die Leute ziehen mit
ihm in derſelben Weiſe durch das Land, wie früher unſere Bärenführer, und gewinnen durch ihn dürftig
genug ihren Lebensunterhalt. Jn Hinſicht auf dieſen Gebrauch haben die Franzoſen den Aswail
mit dem Namen „Ours jongleur‟ belegt. Jn Europa hat man ihn hauptſächlich in England längere
Zeit, einmal ſogar durch neunzehn Jahre, am Leben erhalten können. Man füttert ihn mit Milch,
Brod, Obſt und Fleiſch und erhält ihn ſehr lange bei dieſer Nahrung; Brod und Obſt ſcheint er dem
übrigen Futter entſchieden vorzuziehen. Wenn er jung eingefangen wird, läßt er ſich leicht zähmen
und macht auch trotz ſeiner ſcheinbaren Plumpheit und Schwerfälligkeit viel Vergnügen. Er wälzt
ſich, wie ein ſchlafender Hund, zuſammengelegt von einer Seite zur andern, ſpringt herum, ſchlägt
Purzelbäume, richtet ſich auf den Hinterfüßen auf und verzerrt ſein Geſicht in der merkwürdigſten
Weiſe, wenn ihm irgendwelche Nahrung geboten wird. Dabei iſt er höchſt gutmüthig, zuthunlich und
ſehr ehrlich. Er macht niemals Miene, zu beißen, und man kann ihm, wenn man ihn einmal kennen
lernte, in jeder Hinſicht vertrauen. Gegen andere Bären ſeiner Art iſt er womöglich noch zärtlicher,
als manche ſeiner Familienverwandten. Zwei Aswails, welche man im Thiergarten von London
hielt, pflegten ſich auf die zärtlichſte Weiſe zu umarmen und ſich gegenſeitig dabei die Pfoten zu
lecken. Jn recht guter Laune ſtießen ſie auch ein bärenartiges Kuurren aus, welches, wie mein
Berichterſtatter ſagt, einen gewiſſen muſikaliſchen Werth hatte. Dagegen vernahm man rauhe und
brüllende Töne, wenn man die Thiere mit Mühe in Zorn gebracht hatte.
Jch ſah den Lippenbär in der neueſten Zeit einige Male in Thierſchaubuden und in Thiergärten.
Sie lagen gewöhnlich wie ein Hund auf dem Bauche und beſchäftigten ſich ſtundenlang mit Belecken
ihrer Tatzen. Gegen Vorgänge außerhalb ihres Käfigs ſchienen ſie höchſt gleichgiltig zu ſein. Ueber-
haupt kamen mir die Thiere gutmüthig, aber auch ſehr ſtumpfgeiſtig vor. Wenn man ihnen Nahrung
hinhält, bilden ſie ihre Lippenröhre, — an welcher aber die Zunge keinen Antheil nimmt — und ver-
ſuchen das ihnen Dargereichte mit den Lippen zu faſſen, ungefähr in derſelben Weiſe, in welcher die
Wiederkäuer Dies zu thun pflegen. Jhre Stimme ſchien mir eher ein Gewimmer, als ein Gebrumme;
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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 1. Hildburghausen, 1864, S. 613. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben01_1864/691>, abgerufen am 22.11.2024.
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