Mit großer Wahrscheinlichkeit läßt sich annehmen, daß das ursprüngliche Vaterland der Wander- ratte Mittelasien, und zwar Jndien oder Persien, gewesen ist. Man kennt auch ganz genau die Zeit, in welcher sie in Europa erschien. Zwar ist es möglich, daß bereits Aelian ihrer gedacht hat; aber die Sache ist doch nicht ausgemacht, und namentlich die angegebene Größe des Thieres will nicht stimmen. Jener Schriftsteller sagt, daß sie unter dem Namen der kaspischen Maus zu gewissen Zeiten in unendlicher Menge einwandert, ohne Furcht über die Flüsse schwimmt und sich dabei mit dem Maule an den Schwanz des Vordermannes hält. "Kommen sie auf die Felder," fährt jener alte Schriftsteller fort, "so fällen sie das Getreide und klettern auf die Bäume nach den Früchten, werden aber häufig von Raubvögeln, die wie Wolken herbeifliegen, und von der Menge der dortigen Füchse vertilgt. Sie geben in der Größe dem Jchneumon Nichts nach, sind sehr wild und bissig und haben so starke Zähne, daß sie damit selbst Eisen zernagen können, wie die Mäuse Canautanes bei Babylon, deren zarte Felle nach Persien geführt werden und zum Füttern der Kleider dienen." Erst Pallas beschreibt die Wanderratte mit Sicherheit als europäisches Thier. Er berichtet, daß sie im Herbst 1727 nach einem Erdbeben in großen Massen aus den kaspischen Ländern und von der kumäni- schen Steppe aus in Europa eingerückt sei. Sie setzte bei Astrachan in großen Haufen über die Wolga und verbreitete sich von hier rasch nach Westen hin. Fast zu derselben Zeit, im Jahre 1732 nämlich, wurde sie auf Schiffen von Ostindien aus nach England herüber verschleppt, und nunmehr begann sie auch von hier aus ihre Weltwanderung. Jn Ostpreußen erschien sie im Jahre 1750, in Paris be- reits 1753, in Deutschland war sie schon 1780 überall häufig; in Dänemark kennt man sie erst seit ungefähr sechzig Jahren, und in der Schweiz erst seit dem Jahre 1809 als einheimisches Thier. Jm Jahre 1775 wurde sie nach Nordamerika verschleppt und erlangte hier ebenfalls in kürzester Zeit eine unglaublich große Verbreitung; doch war sie im Jahre 1825 noch nicht weit über Kingston hinaus in Oberkanada vorgedrungen, und noch vor wenigen Jahren hatte sie den oberen Missouri noch nicht erreicht. Wann sie in Spanien, in Marokko, in Algerien, Tunis, Egypten, am Kap der guten Hoffnung und in anderen Häfen Afrikas erschien, ist nicht zu bestimmen; soviel steht aber fest, daß sie gegenwärtig auch über alle Theile des großen Weltmeeres verbreitet und selbst auf den ödesten und einsamsten Jnseln zu finden ist. Größer und stärker, als die Hausratte, bemächtigt sie sich überall der Orte, wo diese früher ruhig lebte, und nimmt in demselben Grade zu, wie jene abnimmt.
Jn der Lebensweise, in den Sitten und Gewohnheiten, im Vorkommen u. s. w. ähneln sich beide Ratten so außerordentlich, daß man ganz wohl ihre Beschreibung in Einem vereinigen kann. Wenn man festhalten will, daß die Wanderratte mehr die unteren Räumlichkeiten der Gebäude und namentlich feuchte Keller und Gewölbe etc., sowie Abzugsgräben, Schleußen, Senkgruben, Flethe und Flußufer bewohnt, während die Hausratte den oberen Theil des Hauses, die Kornböden, Dach- kammern etc. vorzieht, wird nicht viel mehr übrig bleiben, was beiden Arten nicht gemeinsam wäre. Die eine wie die andere Art dieses Ungeziefers bewohnt alle nur möglichen Räumlichkeiten der menschlichen Wohnungen und alle nur denkbaren Orte, welche Nahrung versprechen. Vom Keller an bis zum Dachboden hinauf, vom Prunkzimmer an bis zum Abtritt, vom Palast an bis zur Hütte, überall sind sie zu finden. An den unsaubersten Orten nisten sie sich ebensogern ein, als da, wo sie sich erst durch ihren eigenen Schmuz einen ihnen zusagenden Wohnort schaffen müssen. Sie leben im Stall, in der Scheuer, im Hof, im Garten, an Flußufern, an der Meeresküste, in Kanälen, den unterirdischen Ableitungsgräben größerer Städte etc., kurz überall, wo sie nur leben können, wenn auch die Haus- ratte ihrem Namen immer Ehre zu machen sucht und sich möglichst wenig von der eigentlichen Woh- nung der Menschen entfernt. Ausgerüstet mit allen Begabungen in leiblicher und geistiger Hinsicht, welche sie zu Feinden des Menschen machen können, sind sie unabläffig bemüht, diesen zu quälen, zu plagen, zu peinigen, und fügen ihm ohne Unterbrechung den empfindlichsten Schaden zu. Gegen sie schützt weder Hag noch Mauer, weder Thür noch Schloß. Wo sie keinen Weg haben, bahnen sie sich einen; durch die stärksten Eichenbohlen und durch dicke Mauern nagen und wühlen sie sich hin- durch. Nur, wenn man die Grundmauern tief einsenkt in die Erde, mit festem Zement alle Fugen
Die eigentlichen Mäuſe.
Mit großer Wahrſcheinlichkeit läßt ſich annehmen, daß das urſprüngliche Vaterland der Wander- ratte Mittelaſien, und zwar Jndien oder Perſien, geweſen iſt. Man kennt auch ganz genau die Zeit, in welcher ſie in Europa erſchien. Zwar iſt es möglich, daß bereits Aelian ihrer gedacht hat; aber die Sache iſt doch nicht ausgemacht, und namentlich die angegebene Größe des Thieres will nicht ſtimmen. Jener Schriftſteller ſagt, daß ſie unter dem Namen der kaſpiſchen Maus zu gewiſſen Zeiten in unendlicher Menge einwandert, ohne Furcht über die Flüſſe ſchwimmt und ſich dabei mit dem Maule an den Schwanz des Vordermannes hält. „Kommen ſie auf die Felder,‟ fährt jener alte Schriftſteller fort, „ſo fällen ſie das Getreide und klettern auf die Bäume nach den Früchten, werden aber häufig von Raubvögeln, die wie Wolken herbeifliegen, und von der Menge der dortigen Füchſe vertilgt. Sie geben in der Größe dem Jchneumon Nichts nach, ſind ſehr wild und biſſig und haben ſo ſtarke Zähne, daß ſie damit ſelbſt Eiſen zernagen können, wie die Mäuſe Canautanes bei Babylon, deren zarte Felle nach Perſien geführt werden und zum Füttern der Kleider dienen.‟ Erſt Pallas beſchreibt die Wanderratte mit Sicherheit als europäiſches Thier. Er berichtet, daß ſie im Herbſt 1727 nach einem Erdbeben in großen Maſſen aus den kaſpiſchen Ländern und von der kumäni- ſchen Steppe aus in Europa eingerückt ſei. Sie ſetzte bei Aſtrachan in großen Haufen über die Wolga und verbreitete ſich von hier raſch nach Weſten hin. Faſt zu derſelben Zeit, im Jahre 1732 nämlich, wurde ſie auf Schiffen von Oſtindien aus nach England herüber verſchleppt, und nunmehr begann ſie auch von hier aus ihre Weltwanderung. Jn Oſtpreußen erſchien ſie im Jahre 1750, in Paris be- reits 1753, in Deutſchland war ſie ſchon 1780 überall häufig; in Dänemark kennt man ſie erſt ſeit ungefähr ſechzig Jahren, und in der Schweiz erſt ſeit dem Jahre 1809 als einheimiſches Thier. Jm Jahre 1775 wurde ſie nach Nordamerika verſchleppt und erlangte hier ebenfalls in kürzeſter Zeit eine unglaublich große Verbreitung; doch war ſie im Jahre 1825 noch nicht weit über Kingſton hinaus in Oberkanada vorgedrungen, und noch vor wenigen Jahren hatte ſie den oberen Miſſouri noch nicht erreicht. Wann ſie in Spanien, in Marokko, in Algerien, Tunis, Egypten, am Kap der guten Hoffnung und in anderen Häfen Afrikas erſchien, iſt nicht zu beſtimmen; ſoviel ſteht aber feſt, daß ſie gegenwärtig auch über alle Theile des großen Weltmeeres verbreitet und ſelbſt auf den ödeſten und einſamſten Jnſeln zu finden iſt. Größer und ſtärker, als die Hausratte, bemächtigt ſie ſich überall der Orte, wo dieſe früher ruhig lebte, und nimmt in demſelben Grade zu, wie jene abnimmt.
Jn der Lebensweiſe, in den Sitten und Gewohnheiten, im Vorkommen u. ſ. w. ähneln ſich beide Ratten ſo außerordentlich, daß man ganz wohl ihre Beſchreibung in Einem vereinigen kann. Wenn man feſthalten will, daß die Wanderratte mehr die unteren Räumlichkeiten der Gebäude und namentlich feuchte Keller und Gewölbe ꝛc., ſowie Abzugsgräben, Schleußen, Senkgruben, Flethe und Flußufer bewohnt, während die Hausratte den oberen Theil des Hauſes, die Kornböden, Dach- kammern ꝛc. vorzieht, wird nicht viel mehr übrig bleiben, was beiden Arten nicht gemeinſam wäre. Die eine wie die andere Art dieſes Ungeziefers bewohnt alle nur möglichen Räumlichkeiten der menſchlichen Wohnungen und alle nur denkbaren Orte, welche Nahrung verſprechen. Vom Keller an bis zum Dachboden hinauf, vom Prunkzimmer an bis zum Abtritt, vom Palaſt an bis zur Hütte, überall ſind ſie zu finden. An den unſauberſten Orten niſten ſie ſich ebenſogern ein, als da, wo ſie ſich erſt durch ihren eigenen Schmuz einen ihnen zuſagenden Wohnort ſchaffen müſſen. Sie leben im Stall, in der Scheuer, im Hof, im Garten, an Flußufern, an der Meeresküſte, in Kanälen, den unterirdiſchen Ableitungsgräben größerer Städte ꝛc., kurz überall, wo ſie nur leben können, wenn auch die Haus- ratte ihrem Namen immer Ehre zu machen ſucht und ſich möglichſt wenig von der eigentlichen Woh- nung der Menſchen entfernt. Ausgerüſtet mit allen Begabungen in leiblicher und geiſtiger Hinſicht, welche ſie zu Feinden des Menſchen machen können, ſind ſie unabläffig bemüht, dieſen zu quälen, zu plagen, zu peinigen, und fügen ihm ohne Unterbrechung den empfindlichſten Schaden zu. Gegen ſie ſchützt weder Hag noch Mauer, weder Thür noch Schloß. Wo ſie keinen Weg haben, bahnen ſie ſich einen; durch die ſtärkſten Eichenbohlen und durch dicke Mauern nagen und wühlen ſie ſich hin- durch. Nur, wenn man die Grundmauern tief einſenkt in die Erde, mit feſtem Zement alle Fugen
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Die eigentlichen Mäuſe.
Mit großer Wahrſcheinlichkeit läßt ſich annehmen, daß das urſprüngliche Vaterland der Wander-
ratte Mittelaſien, und zwar Jndien oder Perſien, geweſen iſt. Man kennt auch ganz genau die
Zeit, in welcher ſie in Europa erſchien. Zwar iſt es möglich, daß bereits Aelian ihrer gedacht hat;
aber die Sache iſt doch nicht ausgemacht, und namentlich die angegebene Größe des Thieres will nicht
ſtimmen. Jener Schriftſteller ſagt, daß ſie unter dem Namen der kaſpiſchen Maus zu gewiſſen
Zeiten in unendlicher Menge einwandert, ohne Furcht über die Flüſſe ſchwimmt und ſich dabei mit
dem Maule an den Schwanz des Vordermannes hält. „Kommen ſie auf die Felder,‟ fährt jener alte
Schriftſteller fort, „ſo fällen ſie das Getreide und klettern auf die Bäume nach den Früchten, werden
aber häufig von Raubvögeln, die wie Wolken herbeifliegen, und von der Menge der dortigen Füchſe
vertilgt. Sie geben in der Größe dem Jchneumon Nichts nach, ſind ſehr wild und biſſig und
haben ſo ſtarke Zähne, daß ſie damit ſelbſt Eiſen zernagen können, wie die Mäuſe Canautanes bei
Babylon, deren zarte Felle nach Perſien geführt werden und zum Füttern der Kleider dienen.‟ Erſt
Pallas beſchreibt die Wanderratte mit Sicherheit als europäiſches Thier. Er berichtet, daß ſie im
Herbſt 1727 nach einem Erdbeben in großen Maſſen aus den kaſpiſchen Ländern und von der kumäni-
ſchen Steppe aus in Europa eingerückt ſei. Sie ſetzte bei Aſtrachan in großen Haufen über die Wolga
und verbreitete ſich von hier raſch nach Weſten hin. Faſt zu derſelben Zeit, im Jahre 1732 nämlich,
wurde ſie auf Schiffen von Oſtindien aus nach England herüber verſchleppt, und nunmehr begann ſie
auch von hier aus ihre Weltwanderung. Jn Oſtpreußen erſchien ſie im Jahre 1750, in Paris be-
reits 1753, in Deutſchland war ſie ſchon 1780 überall häufig; in Dänemark kennt man ſie erſt ſeit
ungefähr ſechzig Jahren, und in der Schweiz erſt ſeit dem Jahre 1809 als einheimiſches Thier. Jm
Jahre 1775 wurde ſie nach Nordamerika verſchleppt und erlangte hier ebenfalls in kürzeſter Zeit eine
unglaublich große Verbreitung; doch war ſie im Jahre 1825 noch nicht weit über Kingſton hinaus
in Oberkanada vorgedrungen, und noch vor wenigen Jahren hatte ſie den oberen Miſſouri noch nicht
erreicht. Wann ſie in Spanien, in Marokko, in Algerien, Tunis, Egypten, am Kap der guten
Hoffnung und in anderen Häfen Afrikas erſchien, iſt nicht zu beſtimmen; ſoviel ſteht aber feſt, daß
ſie gegenwärtig auch über alle Theile des großen Weltmeeres verbreitet und ſelbſt auf den ödeſten und
einſamſten Jnſeln zu finden iſt. Größer und ſtärker, als die Hausratte, bemächtigt ſie ſich überall
der Orte, wo dieſe früher ruhig lebte, und nimmt in demſelben Grade zu, wie jene abnimmt.
Jn der Lebensweiſe, in den Sitten und Gewohnheiten, im Vorkommen u. ſ. w. ähneln ſich
beide Ratten ſo außerordentlich, daß man ganz wohl ihre Beſchreibung in Einem vereinigen kann.
Wenn man feſthalten will, daß die Wanderratte mehr die unteren Räumlichkeiten der Gebäude und
namentlich feuchte Keller und Gewölbe ꝛc., ſowie Abzugsgräben, Schleußen, Senkgruben, Flethe
und Flußufer bewohnt, während die Hausratte den oberen Theil des Hauſes, die Kornböden, Dach-
kammern ꝛc. vorzieht, wird nicht viel mehr übrig bleiben, was beiden Arten nicht gemeinſam
wäre. Die eine wie die andere Art dieſes Ungeziefers bewohnt alle nur möglichen Räumlichkeiten
der menſchlichen Wohnungen und alle nur denkbaren Orte, welche Nahrung verſprechen. Vom Keller
an bis zum Dachboden hinauf, vom Prunkzimmer an bis zum Abtritt, vom Palaſt an bis zur Hütte,
überall ſind ſie zu finden. An den unſauberſten Orten niſten ſie ſich ebenſogern ein, als da, wo ſie ſich
erſt durch ihren eigenen Schmuz einen ihnen zuſagenden Wohnort ſchaffen müſſen. Sie leben im Stall,
in der Scheuer, im Hof, im Garten, an Flußufern, an der Meeresküſte, in Kanälen, den unterirdiſchen
Ableitungsgräben größerer Städte ꝛc., kurz überall, wo ſie nur leben können, wenn auch die Haus-
ratte ihrem Namen immer Ehre zu machen ſucht und ſich möglichſt wenig von der eigentlichen Woh-
nung der Menſchen entfernt. Ausgerüſtet mit allen Begabungen in leiblicher und geiſtiger Hinſicht,
welche ſie zu Feinden des Menſchen machen können, ſind ſie unabläffig bemüht, dieſen zu quälen, zu
plagen, zu peinigen, und fügen ihm ohne Unterbrechung den empfindlichſten Schaden zu. Gegen
ſie ſchützt weder Hag noch Mauer, weder Thür noch Schloß. Wo ſie keinen Weg haben, bahnen ſie
ſich einen; durch die ſtärkſten Eichenbohlen und durch dicke Mauern nagen und wühlen ſie ſich hin-
durch. Nur, wenn man die Grundmauern tief einſenkt in die Erde, mit feſtem Zement alle Fugen
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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865, S. 120. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865/134>, abgerufen am 26.11.2024.
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