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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865.

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Die eigentlichen Mäuse.

"Von den am 1. März zur Welt gekommenen hatte ich seit Anfang April ein Pärchen in einem
großen Glase mit achtzölliger Mündung abgesondert gehalten, und schon am 11. Juni Nachmittags,
also im Alter von 103 Tagen, erhielt ich sechs Junge von ihnen. Trotz der Weite des Glases schien
der Mutter doch der Raum für ihre Jungen zu eng zu sein. Sie bemühte sich vergebens, ein weiteres
Nest zu machen, wobei sie öfters die armen Kleinen so verscharrte, daß man Nichts mehr von ihnen sah;
doch fand sie dieselben immer bald wieder zusammen. Sie säugte ihre Jungen bis zum 23. ganz gut,
und sie wurden bereits etwas weiß; auf einmal aber waren sie alle verschwunden. Die Mutter hatte
sie sämmtlich gefressen!"

Reichenbach erfuhr Dasselbe und mehrere Male nach einander. "Mit meinen weißen Ratten,"
sagt er, "habe ich mancherlei Schicksale gehabt. Sie haben schon viermal Junge geboren, vier bis sieben
Stück, und jedesmal haben die Alten sie wieder gefressen. Das letzte Mal bemerkte ich, daß vorzüglich
der Vater die Jungen packte und herumzauste, wobei sie jämmerlich quiekten. Jch sonderte also das
Männchen ab; aber hierbei entkam es endlich, tobte drei Wochen lang in der Stube umher und ließ sich
in keiner Falle oder auf sonstige Weise fangen, da ich die vielen Schränke nicht rücken konnte; endlich
scheint es in der Nacht durch das offene Oberfenster entkommen zu sein; denn es lief mit der größten
Behendigkeit an senkrechten Wänden empor."

Jch will nun aus den übrigen vortrefflichen Beobachtungen, welche Dehne mittheilt, noch Einiges
entnehmen, um das Gefangenleben der Ratten genügend zu beschreiben: "Am Tage und nach Mitter-
nacht", sagt mein Gewährsmann, "schlafen die Wanderratten; früh und abends sieht man sie in
größter Thätigkeit. Sehr gern trinken sie Milch; Kürbißkörner und Hanf gehören zu ihren Leckerbissen.
Für gewöhnlich bekommen sie Brod, welches mit Wasser oder Milch oberflächlich angefeuchtet wurde;
dann und wann erhalten sie auch gekochte Kartoffeln: letztere fressen sie sehr gern. Fleisch und Fett,
Lieblingsgerichte für sie, entziehe ich ihnen, sowie allen anderen Nagern, welche ich in der Gefangenschaft
ernähre, gänzlich, da nach solchen Speisen ihr Harn und selbst ihre Ausdünstung stets einen widrigen,
durchdringenden Geruch bekommt. Der eigenthümliche, so höchst unangenehme Geruch, welchen die
gewöhnlichen Mäuse verbreiten und allen Gegenständen, die damit in Berührung kommen, dauernd
mittheilen, fehlt den weißen Wanderratten gänzlich, wenn man sie in der angegebenen Weise hält."

"Die Wanderratten verrathen viel List. Wenn ihre hölzernen Käfige von außen mit Blech be-
schlagen sind, versuchen sie das Holz durchzunagen, und wenn sie eine Zeit lang genagt haben, greifen sie
mit den Pfoten durch das Gitter, um die Stärke des Holzes zu untersuchen und zu sehen, ob sie bald
durch sind. Beim Reinmachen der Käfige wühlen sie mit Rüssel und Pfoten den Unrath an die Oeff-
nung, um auf diese Weise desselben sich zu entledigen."

"Sie lieben die Gesellschaft ihres Gleichen. Oft machen sie sich ein gemeinschaftliches Nest und
erwärmen sich gegenseitig, indem sie darin dicht zusammenkriechen; stirbt aber eine von ihnen, dann
machen sich die übrigen gleich über sie her, beißen ihr erst den Hirnschädel auf, fressen den Jnhalt und
verzehren dann nach und nach die ganze Leiche mit Zurücklassung der Knochen und des Felles. Die
Männchen muß man sogleich, wenn die Weibchen trächtig sind, absperren; denn sie lassen diesen keine
Ruhe und fressen auch die Jungen am ersten. Die Mutter hat übrigens viel Liebe zu ihren Kindern;
sie bewacht dieselben sorgfältig und diese erwidern ihr die erwiesene Zärtlichkeit auf alle nur mög-
liche Weise."

"Außerordentlich groß ist die Lebenszähigkeit dieser Thiere. Einst wollte ich eine ungefähr ein
Jahr alte Albinowanderratte durch Ersäufen tödten, um sie von ihren Leiden zu befreien. Sie hatte
nämlich seit vier Monaten im Nacken ein erbsengroßes Loch im Felle, durch welches die Halsmuskeln
deutlich sichtbar waren. Jch hatte noch kein Anzeichen bemerkt, daß die Wunde heilen würde; die
kranke Stelle schien im Gegentheil größer zu werden. Die Umgebung der Wunde war stark entzündet
und im Umfange von einem Zoll gänzlich von Haaren entblößt. Nachdem ich die Kranke bereits ein
halbes Dutzend Mal in eiskaltes Wasser mehrere Minuten lang getaucht hatte, lebte sie noch und putzte
sich mit ihren Pfötchen, um das Wasser aus ihren Augen zu entfernen. Endlich sprang sie, indem ich

Die eigentlichen Mäuſe.

„Von den am 1. März zur Welt gekommenen hatte ich ſeit Anfang April ein Pärchen in einem
großen Glaſe mit achtzölliger Mündung abgeſondert gehalten, und ſchon am 11. Juni Nachmittags,
alſo im Alter von 103 Tagen, erhielt ich ſechs Junge von ihnen. Trotz der Weite des Glaſes ſchien
der Mutter doch der Raum für ihre Jungen zu eng zu ſein. Sie bemühte ſich vergebens, ein weiteres
Neſt zu machen, wobei ſie öfters die armen Kleinen ſo verſcharrte, daß man Nichts mehr von ihnen ſah;
doch fand ſie dieſelben immer bald wieder zuſammen. Sie ſäugte ihre Jungen bis zum 23. ganz gut,
und ſie wurden bereits etwas weiß; auf einmal aber waren ſie alle verſchwunden. Die Mutter hatte
ſie ſämmtlich gefreſſen!‟

Reichenbach erfuhr Daſſelbe und mehrere Male nach einander. „Mit meinen weißen Ratten,‟
ſagt er, „habe ich mancherlei Schickſale gehabt. Sie haben ſchon viermal Junge geboren, vier bis ſieben
Stück, und jedesmal haben die Alten ſie wieder gefreſſen. Das letzte Mal bemerkte ich, daß vorzüglich
der Vater die Jungen packte und herumzauſte, wobei ſie jämmerlich quiekten. Jch ſonderte alſo das
Männchen ab; aber hierbei entkam es endlich, tobte drei Wochen lang in der Stube umher und ließ ſich
in keiner Falle oder auf ſonſtige Weiſe fangen, da ich die vielen Schränke nicht rücken konnte; endlich
ſcheint es in der Nacht durch das offene Oberfenſter entkommen zu ſein; denn es lief mit der größten
Behendigkeit an ſenkrechten Wänden empor.‟

Jch will nun aus den übrigen vortrefflichen Beobachtungen, welche Dehne mittheilt, noch Einiges
entnehmen, um das Gefangenleben der Ratten genügend zu beſchreiben: „Am Tage und nach Mitter-
nacht‟, ſagt mein Gewährsmann, „ſchlafen die Wanderratten; früh und abends ſieht man ſie in
größter Thätigkeit. Sehr gern trinken ſie Milch; Kürbißkörner und Hanf gehören zu ihren Leckerbiſſen.
Für gewöhnlich bekommen ſie Brod, welches mit Waſſer oder Milch oberflächlich angefeuchtet wurde;
dann und wann erhalten ſie auch gekochte Kartoffeln: letztere freſſen ſie ſehr gern. Fleiſch und Fett,
Lieblingsgerichte für ſie, entziehe ich ihnen, ſowie allen anderen Nagern, welche ich in der Gefangenſchaft
ernähre, gänzlich, da nach ſolchen Speiſen ihr Harn und ſelbſt ihre Ausdünſtung ſtets einen widrigen,
durchdringenden Geruch bekommt. Der eigenthümliche, ſo höchſt unangenehme Geruch, welchen die
gewöhnlichen Mäuſe verbreiten und allen Gegenſtänden, die damit in Berührung kommen, dauernd
mittheilen, fehlt den weißen Wanderratten gänzlich, wenn man ſie in der angegebenen Weiſe hält.‟

„Die Wanderratten verrathen viel Liſt. Wenn ihre hölzernen Käfige von außen mit Blech be-
ſchlagen ſind, verſuchen ſie das Holz durchzunagen, und wenn ſie eine Zeit lang genagt haben, greifen ſie
mit den Pfoten durch das Gitter, um die Stärke des Holzes zu unterſuchen und zu ſehen, ob ſie bald
durch ſind. Beim Reinmachen der Käfige wühlen ſie mit Rüſſel und Pfoten den Unrath an die Oeff-
nung, um auf dieſe Weiſe deſſelben ſich zu entledigen.‟

„Sie lieben die Geſellſchaft ihres Gleichen. Oft machen ſie ſich ein gemeinſchaftliches Neſt und
erwärmen ſich gegenſeitig, indem ſie darin dicht zuſammenkriechen; ſtirbt aber eine von ihnen, dann
machen ſich die übrigen gleich über ſie her, beißen ihr erſt den Hirnſchädel auf, freſſen den Jnhalt und
verzehren dann nach und nach die ganze Leiche mit Zurücklaſſung der Knochen und des Felles. Die
Männchen muß man ſogleich, wenn die Weibchen trächtig ſind, abſperren; denn ſie laſſen dieſen keine
Ruhe und freſſen auch die Jungen am erſten. Die Mutter hat übrigens viel Liebe zu ihren Kindern;
ſie bewacht dieſelben ſorgfältig und dieſe erwidern ihr die erwieſene Zärtlichkeit auf alle nur mög-
liche Weiſe.‟

„Außerordentlich groß iſt die Lebenszähigkeit dieſer Thiere. Einſt wollte ich eine ungefähr ein
Jahr alte Albinowanderratte durch Erſäufen tödten, um ſie von ihren Leiden zu befreien. Sie hatte
nämlich ſeit vier Monaten im Nacken ein erbſengroßes Loch im Felle, durch welches die Halsmuskeln
deutlich ſichtbar waren. Jch hatte noch kein Anzeichen bemerkt, daß die Wunde heilen würde; die
kranke Stelle ſchien im Gegentheil größer zu werden. Die Umgebung der Wunde war ſtark entzündet
und im Umfange von einem Zoll gänzlich von Haaren entblößt. Nachdem ich die Kranke bereits ein
halbes Dutzend Mal in eiskaltes Waſſer mehrere Minuten lang getaucht hatte, lebte ſie noch und putzte
ſich mit ihren Pfötchen, um das Waſſer aus ihren Augen zu entfernen. Endlich ſprang ſie, indem ich

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[124/0138] Die eigentlichen Mäuſe. „Von den am 1. März zur Welt gekommenen hatte ich ſeit Anfang April ein Pärchen in einem großen Glaſe mit achtzölliger Mündung abgeſondert gehalten, und ſchon am 11. Juni Nachmittags, alſo im Alter von 103 Tagen, erhielt ich ſechs Junge von ihnen. Trotz der Weite des Glaſes ſchien der Mutter doch der Raum für ihre Jungen zu eng zu ſein. Sie bemühte ſich vergebens, ein weiteres Neſt zu machen, wobei ſie öfters die armen Kleinen ſo verſcharrte, daß man Nichts mehr von ihnen ſah; doch fand ſie dieſelben immer bald wieder zuſammen. Sie ſäugte ihre Jungen bis zum 23. ganz gut, und ſie wurden bereits etwas weiß; auf einmal aber waren ſie alle verſchwunden. Die Mutter hatte ſie ſämmtlich gefreſſen!‟ Reichenbach erfuhr Daſſelbe und mehrere Male nach einander. „Mit meinen weißen Ratten,‟ ſagt er, „habe ich mancherlei Schickſale gehabt. Sie haben ſchon viermal Junge geboren, vier bis ſieben Stück, und jedesmal haben die Alten ſie wieder gefreſſen. Das letzte Mal bemerkte ich, daß vorzüglich der Vater die Jungen packte und herumzauſte, wobei ſie jämmerlich quiekten. Jch ſonderte alſo das Männchen ab; aber hierbei entkam es endlich, tobte drei Wochen lang in der Stube umher und ließ ſich in keiner Falle oder auf ſonſtige Weiſe fangen, da ich die vielen Schränke nicht rücken konnte; endlich ſcheint es in der Nacht durch das offene Oberfenſter entkommen zu ſein; denn es lief mit der größten Behendigkeit an ſenkrechten Wänden empor.‟ Jch will nun aus den übrigen vortrefflichen Beobachtungen, welche Dehne mittheilt, noch Einiges entnehmen, um das Gefangenleben der Ratten genügend zu beſchreiben: „Am Tage und nach Mitter- nacht‟, ſagt mein Gewährsmann, „ſchlafen die Wanderratten; früh und abends ſieht man ſie in größter Thätigkeit. Sehr gern trinken ſie Milch; Kürbißkörner und Hanf gehören zu ihren Leckerbiſſen. Für gewöhnlich bekommen ſie Brod, welches mit Waſſer oder Milch oberflächlich angefeuchtet wurde; dann und wann erhalten ſie auch gekochte Kartoffeln: letztere freſſen ſie ſehr gern. Fleiſch und Fett, Lieblingsgerichte für ſie, entziehe ich ihnen, ſowie allen anderen Nagern, welche ich in der Gefangenſchaft ernähre, gänzlich, da nach ſolchen Speiſen ihr Harn und ſelbſt ihre Ausdünſtung ſtets einen widrigen, durchdringenden Geruch bekommt. Der eigenthümliche, ſo höchſt unangenehme Geruch, welchen die gewöhnlichen Mäuſe verbreiten und allen Gegenſtänden, die damit in Berührung kommen, dauernd mittheilen, fehlt den weißen Wanderratten gänzlich, wenn man ſie in der angegebenen Weiſe hält.‟ „Die Wanderratten verrathen viel Liſt. Wenn ihre hölzernen Käfige von außen mit Blech be- ſchlagen ſind, verſuchen ſie das Holz durchzunagen, und wenn ſie eine Zeit lang genagt haben, greifen ſie mit den Pfoten durch das Gitter, um die Stärke des Holzes zu unterſuchen und zu ſehen, ob ſie bald durch ſind. Beim Reinmachen der Käfige wühlen ſie mit Rüſſel und Pfoten den Unrath an die Oeff- nung, um auf dieſe Weiſe deſſelben ſich zu entledigen.‟ „Sie lieben die Geſellſchaft ihres Gleichen. Oft machen ſie ſich ein gemeinſchaftliches Neſt und erwärmen ſich gegenſeitig, indem ſie darin dicht zuſammenkriechen; ſtirbt aber eine von ihnen, dann machen ſich die übrigen gleich über ſie her, beißen ihr erſt den Hirnſchädel auf, freſſen den Jnhalt und verzehren dann nach und nach die ganze Leiche mit Zurücklaſſung der Knochen und des Felles. Die Männchen muß man ſogleich, wenn die Weibchen trächtig ſind, abſperren; denn ſie laſſen dieſen keine Ruhe und freſſen auch die Jungen am erſten. Die Mutter hat übrigens viel Liebe zu ihren Kindern; ſie bewacht dieſelben ſorgfältig und dieſe erwidern ihr die erwieſene Zärtlichkeit auf alle nur mög- liche Weiſe.‟ „Außerordentlich groß iſt die Lebenszähigkeit dieſer Thiere. Einſt wollte ich eine ungefähr ein Jahr alte Albinowanderratte durch Erſäufen tödten, um ſie von ihren Leiden zu befreien. Sie hatte nämlich ſeit vier Monaten im Nacken ein erbſengroßes Loch im Felle, durch welches die Halsmuskeln deutlich ſichtbar waren. Jch hatte noch kein Anzeichen bemerkt, daß die Wunde heilen würde; die kranke Stelle ſchien im Gegentheil größer zu werden. Die Umgebung der Wunde war ſtark entzündet und im Umfange von einem Zoll gänzlich von Haaren entblößt. Nachdem ich die Kranke bereits ein halbes Dutzend Mal in eiskaltes Waſſer mehrere Minuten lang getaucht hatte, lebte ſie noch und putzte ſich mit ihren Pfötchen, um das Waſſer aus ihren Augen zu entfernen. Endlich ſprang ſie, indem ich

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865, S. 124. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865/138>, abgerufen am 27.11.2024.