keineswegs immer auf den Feldern, sondern vorzugsweise im Schilf und im Rohr, in Sümpfen und in Binsen etc. Jn Sibirien und in den Steppen am Fuße des Kaukasus ist sie gemein, in Rußland und England, in Schleswig und Holstein wenigstens nicht selten. Aber auch in den übrigen Ländern Europas kann sie zuweilen häufig werden.
Während des Sommers findet man das niedliche Geschöpfchen in Gesellschaft der Wald- und gemeinen Feldmaus in Getreidefeldern, im Winter massenweise unter Feimen oder auch in Scheuern, in welche sie mit der Frucht eingeführt wird. Wenn sie im freien Felde überwintert, bringt sie einen großen Theil der kalten Zeit zwar schlafend zu, fällt aber niemals in völlige Erstar- rung, und trägt deshalb während des Sommers auch recht hübsche Vorräthe in ihre Höhlen ein, um davon leben zu können, wenn die Noth an die Pforte klopft. Jhre Nahrung ist die aller übrigen Mäuse: Getreide und Sämereien von verschiedenen Gräsern, Kräutern und Bäumen, na- mentlich aber auch kleine Kerbthiere aller Art.
Jn ihren Bewegungen zeichnet sich die Zwergmaus vor allen anderen Arten der Familie aus. Sie läuft, ungeachtet ihrer geringen Größe, ungemein schnell und klettert mit größter Fertigkeit, Gewandtheit und Zierlichkeit. An den dünnsten Aesten der Gebüsche, an Grashalmen, die so schwach sind, daß sie sich mit ihr zur Erde beugen, schwebend und hängend, läuft sie empor, fast ebenso- schnell an Bäumen, und der zierliche kleine Schwanz wird dabei so recht geschickt als Wickelschwanz benutzt, gerade als hätte der kleine Nager solche Kunst dem Brüllaffen abgestohlen. Auch im Schwimmen ist die Zwergmaus wohlerfahren und im Tauchen sehr geschickt. So kommt es, daß sie überall wohnen und leben kann.
Jhre größte Fertigkeit entfaltet die Zwergmaus aber doch noch in etwas Anderem. Sie ist eine Künstlerin, wie es wenige gibt unter den Säugethieren, eine Künstlerin, die mit den begabtesten Vögeln zu wetteifern versucht. Sie baut ein Nest, das an Schönheit alle anderen Säugethiernester weit übertrifft. Als hätte sie es einem Rohrsänger oder Stufenschwanz abgesehen, so eigen- thümlich wird der niedliche Bau angelegt. Das kugelrunde Nest, welches ungefähr faustgroß ist, steht nämlich, je nach des Orts Beschaffenheit, entweder auf zwanzig bis dreißig Riedgrasblättern, deren Spitzen zerschlissen und so durcheinandergeflochten sind, daß sie das eigentliche Nest von allen Seiten umschließen, oder es hängt zwischen zwei oder drei Fuß hoch über der Erde frei an den Zweigen eines Busches, an einem Schilfftengel und dergleichen, so daß es aussieht, als schwebe es in der Luft. Jn seiner Gestalt ähnelt es am meisten einem stumpfen Ei, einem besonders rundlichen Gänseei z. B., dem es auch in der Größe ungefähr gleichkommt. Die äußere Umhüllung besteht immer aus gänzlich zerschlitzten Bläktern des Rohrs oder Riedgrases, deren Stengel die Grundlage des ganzen Baues bilden. Der kleine Künstler nimmt jedes Blättchen hübsch mit den Zähnen in den Mund und zieht es mehrere Male zwischen den nadelscharfen Spitzen durch, bis jedes einzelne Blatt sechs-, acht- oder zehufach getheilt, gleichsam in mehrere besondere Faden getrennt worden ist; dann wird das Ganze außerordentlich sorgfältig durcheinandergeschlungen, verwebt und ge- flochten. Das Jnnere ist mit Rohrähren, mit Kolbenwolle, mit Kätzchen und Blüthenrispen aller Art ausgefüttert. Eine kleine Oeffnung führt von einer Seite hinein, und wenn man da hindurch in das Jnnere greift, fühlt sich das Ganze, oben wie unten gleichmäßig geglättet und überaus weich und zart an. Die einzelnen Bestandtheile sind so dicht mit einander verfitzt und verwebt, daß das Nest einen wirklich festen Halt bekommt. Wenn man die viel weniger brauchbaren Werkzeuge dieser Mäuse mit dem geschickten Schnabel der Künstlervögel vergleicht, wird man jenen Bau nicht ohne hohe Bewunderung betrachten und muß die Arbeit der Zwergmaus gewiß über die Baukunst manches Vogels stellen, der weit besser ausgerüstet ist.
Jedes dieser Nestchen wird immer zum Haupttheile aus den Blättern derselben Pflanzen gebil- det, welche den netten Ball tragen. Eine nothwendige Folge hiervon ist, daß das Aeußere auch fast oder ganz dieselbe Farbe hat, wie der Strauch selber, an dem es hängt. Nun benutzt die Zwerg- maus jeden einzelnen ihrer Paläste blos zu ihrem Wochenbette, und das dauert nur ganz kurze Zeit:
Die Zwergmaus.
keineswegs immer auf den Feldern, ſondern vorzugsweiſe im Schilf und im Rohr, in Sümpfen und in Binſen ꝛc. Jn Sibirien und in den Steppen am Fuße des Kaukaſus iſt ſie gemein, in Rußland und England, in Schleswig und Holſtein wenigſtens nicht ſelten. Aber auch in den übrigen Ländern Europas kann ſie zuweilen häufig werden.
Während des Sommers findet man das niedliche Geſchöpfchen in Geſellſchaft der Wald- und gemeinen Feldmaus in Getreidefeldern, im Winter maſſenweiſe unter Feimen oder auch in Scheuern, in welche ſie mit der Frucht eingeführt wird. Wenn ſie im freien Felde überwintert, bringt ſie einen großen Theil der kalten Zeit zwar ſchlafend zu, fällt aber niemals in völlige Erſtar- rung, und trägt deshalb während des Sommers auch recht hübſche Vorräthe in ihre Höhlen ein, um davon leben zu können, wenn die Noth an die Pforte klopft. Jhre Nahrung iſt die aller übrigen Mäuſe: Getreide und Sämereien von verſchiedenen Gräſern, Kräutern und Bäumen, na- mentlich aber auch kleine Kerbthiere aller Art.
Jn ihren Bewegungen zeichnet ſich die Zwergmaus vor allen anderen Arten der Familie aus. Sie läuft, ungeachtet ihrer geringen Größe, ungemein ſchnell und klettert mit größter Fertigkeit, Gewandtheit und Zierlichkeit. An den dünnſten Aeſten der Gebüſche, an Grashalmen, die ſo ſchwach ſind, daß ſie ſich mit ihr zur Erde beugen, ſchwebend und hängend, läuft ſie empor, faſt ebenſo- ſchnell an Bäumen, und der zierliche kleine Schwanz wird dabei ſo recht geſchickt als Wickelſchwanz benutzt, gerade als hätte der kleine Nager ſolche Kunſt dem Brüllaffen abgeſtohlen. Auch im Schwimmen iſt die Zwergmaus wohlerfahren und im Tauchen ſehr geſchickt. So kommt es, daß ſie überall wohnen und leben kann.
Jhre größte Fertigkeit entfaltet die Zwergmaus aber doch noch in etwas Anderem. Sie iſt eine Künſtlerin, wie es wenige gibt unter den Säugethieren, eine Künſtlerin, die mit den begabteſten Vögeln zu wetteifern verſucht. Sie baut ein Neſt, das an Schönheit alle anderen Säugethierneſter weit übertrifft. Als hätte ſie es einem Rohrſänger oder Stufenſchwanz abgeſehen, ſo eigen- thümlich wird der niedliche Bau angelegt. Das kugelrunde Neſt, welches ungefähr fauſtgroß iſt, ſteht nämlich, je nach des Orts Beſchaffenheit, entweder auf zwanzig bis dreißig Riedgrasblättern, deren Spitzen zerſchliſſen und ſo durcheinandergeflochten ſind, daß ſie das eigentliche Neſt von allen Seiten umſchließen, oder es hängt zwiſchen zwei oder drei Fuß hoch über der Erde frei an den Zweigen eines Buſches, an einem Schilfftengel und dergleichen, ſo daß es ausſieht, als ſchwebe es in der Luft. Jn ſeiner Geſtalt ähnelt es am meiſten einem ſtumpfen Ei, einem beſonders rundlichen Gänſeei z. B., dem es auch in der Größe ungefähr gleichkommt. Die äußere Umhüllung beſteht immer aus gänzlich zerſchlitzten Bläktern des Rohrs oder Riedgraſes, deren Stengel die Grundlage des ganzen Baues bilden. Der kleine Künſtler nimmt jedes Blättchen hübſch mit den Zähnen in den Mund und zieht es mehrere Male zwiſchen den nadelſcharfen Spitzen durch, bis jedes einzelne Blatt ſechs-, acht- oder zehufach getheilt, gleichſam in mehrere beſondere Faden getrennt worden iſt; dann wird das Ganze außerordentlich ſorgfältig durcheinandergeſchlungen, verwebt und ge- flochten. Das Jnnere iſt mit Rohrähren, mit Kolbenwolle, mit Kätzchen und Blüthenrispen aller Art ausgefüttert. Eine kleine Oeffnung führt von einer Seite hinein, und wenn man da hindurch in das Jnnere greift, fühlt ſich das Ganze, oben wie unten gleichmäßig geglättet und überaus weich und zart an. Die einzelnen Beſtandtheile ſind ſo dicht mit einander verfitzt und verwebt, daß das Neſt einen wirklich feſten Halt bekommt. Wenn man die viel weniger brauchbaren Werkzeuge dieſer Mäuſe mit dem geſchickten Schnabel der Künſtlervögel vergleicht, wird man jenen Bau nicht ohne hohe Bewunderung betrachten und muß die Arbeit der Zwergmaus gewiß über die Baukunſt manches Vogels ſtellen, der weit beſſer ausgerüſtet iſt.
Jedes dieſer Neſtchen wird immer zum Haupttheile aus den Blättern derſelben Pflanzen gebil- det, welche den netten Ball tragen. Eine nothwendige Folge hiervon iſt, daß das Aeußere auch faſt oder ganz dieſelbe Farbe hat, wie der Strauch ſelber, an dem es hängt. Nun benutzt die Zwerg- maus jeden einzelnen ihrer Paläſte blos zu ihrem Wochenbette, und das dauert nur ganz kurze Zeit:
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[137/0153]
Die Zwergmaus.
keineswegs immer auf den Feldern, ſondern vorzugsweiſe im Schilf und im Rohr, in Sümpfen und
in Binſen ꝛc. Jn Sibirien und in den Steppen am Fuße des Kaukaſus iſt ſie gemein, in Rußland
und England, in Schleswig und Holſtein wenigſtens nicht ſelten. Aber auch in den übrigen Ländern
Europas kann ſie zuweilen häufig werden.
Während des Sommers findet man das niedliche Geſchöpfchen in Geſellſchaft der Wald- und
gemeinen Feldmaus in Getreidefeldern, im Winter maſſenweiſe unter Feimen oder auch in
Scheuern, in welche ſie mit der Frucht eingeführt wird. Wenn ſie im freien Felde überwintert,
bringt ſie einen großen Theil der kalten Zeit zwar ſchlafend zu, fällt aber niemals in völlige Erſtar-
rung, und trägt deshalb während des Sommers auch recht hübſche Vorräthe in ihre Höhlen
ein, um davon leben zu können, wenn die Noth an die Pforte klopft. Jhre Nahrung iſt die aller
übrigen Mäuſe: Getreide und Sämereien von verſchiedenen Gräſern, Kräutern und Bäumen, na-
mentlich aber auch kleine Kerbthiere aller Art.
Jn ihren Bewegungen zeichnet ſich die Zwergmaus vor allen anderen Arten der Familie aus.
Sie läuft, ungeachtet ihrer geringen Größe, ungemein ſchnell und klettert mit größter Fertigkeit,
Gewandtheit und Zierlichkeit. An den dünnſten Aeſten der Gebüſche, an Grashalmen, die ſo ſchwach
ſind, daß ſie ſich mit ihr zur Erde beugen, ſchwebend und hängend, läuft ſie empor, faſt ebenſo-
ſchnell an Bäumen, und der zierliche kleine Schwanz wird dabei ſo recht geſchickt als Wickelſchwanz
benutzt, gerade als hätte der kleine Nager ſolche Kunſt dem Brüllaffen abgeſtohlen. Auch im
Schwimmen iſt die Zwergmaus wohlerfahren und im Tauchen ſehr geſchickt. So kommt es, daß ſie
überall wohnen und leben kann.
Jhre größte Fertigkeit entfaltet die Zwergmaus aber doch noch in etwas Anderem. Sie iſt eine
Künſtlerin, wie es wenige gibt unter den Säugethieren, eine Künſtlerin, die mit den begabteſten
Vögeln zu wetteifern verſucht. Sie baut ein Neſt, das an Schönheit alle anderen Säugethierneſter
weit übertrifft. Als hätte ſie es einem Rohrſänger oder Stufenſchwanz abgeſehen, ſo eigen-
thümlich wird der niedliche Bau angelegt. Das kugelrunde Neſt, welches ungefähr fauſtgroß iſt,
ſteht nämlich, je nach des Orts Beſchaffenheit, entweder auf zwanzig bis dreißig Riedgrasblättern,
deren Spitzen zerſchliſſen und ſo durcheinandergeflochten ſind, daß ſie das eigentliche Neſt von allen
Seiten umſchließen, oder es hängt zwiſchen zwei oder drei Fuß hoch über der Erde frei an den
Zweigen eines Buſches, an einem Schilfftengel und dergleichen, ſo daß es ausſieht, als ſchwebe es
in der Luft. Jn ſeiner Geſtalt ähnelt es am meiſten einem ſtumpfen Ei, einem beſonders rundlichen
Gänſeei z. B., dem es auch in der Größe ungefähr gleichkommt. Die äußere Umhüllung beſteht
immer aus gänzlich zerſchlitzten Bläktern des Rohrs oder Riedgraſes, deren Stengel die Grundlage
des ganzen Baues bilden. Der kleine Künſtler nimmt jedes Blättchen hübſch mit den Zähnen in
den Mund und zieht es mehrere Male zwiſchen den nadelſcharfen Spitzen durch, bis jedes einzelne
Blatt ſechs-, acht- oder zehufach getheilt, gleichſam in mehrere beſondere Faden getrennt worden
iſt; dann wird das Ganze außerordentlich ſorgfältig durcheinandergeſchlungen, verwebt und ge-
flochten. Das Jnnere iſt mit Rohrähren, mit Kolbenwolle, mit Kätzchen und Blüthenrispen aller
Art ausgefüttert. Eine kleine Oeffnung führt von einer Seite hinein, und wenn man da hindurch
in das Jnnere greift, fühlt ſich das Ganze, oben wie unten gleichmäßig geglättet und überaus
weich und zart an. Die einzelnen Beſtandtheile ſind ſo dicht mit einander verfitzt und verwebt, daß
das Neſt einen wirklich feſten Halt bekommt. Wenn man die viel weniger brauchbaren Werkzeuge
dieſer Mäuſe mit dem geſchickten Schnabel der Künſtlervögel vergleicht, wird man jenen Bau nicht
ohne hohe Bewunderung betrachten und muß die Arbeit der Zwergmaus gewiß über die Baukunſt
manches Vogels ſtellen, der weit beſſer ausgerüſtet iſt.
Jedes dieſer Neſtchen wird immer zum Haupttheile aus den Blättern derſelben Pflanzen gebil-
det, welche den netten Ball tragen. Eine nothwendige Folge hiervon iſt, daß das Aeußere auch faſt
oder ganz dieſelbe Farbe hat, wie der Strauch ſelber, an dem es hängt. Nun benutzt die Zwerg-
maus jeden einzelnen ihrer Paläſte blos zu ihrem Wochenbette, und das dauert nur ganz kurze Zeit:
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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865, S. 137. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865/153>, abgerufen am 27.11.2024.
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