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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865.

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Die Wurzelmäuse.
Mäuse holen sich ihre Vorräthe oft aus weiten Entfernungen, scharren Grübchen in den Rasen, reißen
die Wurzeln heraus, reinigen sie auf der Stelle und ziehen sie auf sehr ausgetretenen, förmlich ge-
bahnten Wegen rücklings nach dem Neste. Gewöhnlich nehmen sie den gemeinen Wiesenknopf,
den Knollenknöterich, den betäubenden Kälberkropf und den Sturmhut. Letzterer gilt
ihnen, wie die Tungusen sagen, als Festgericht; sie berauschen sich damit. Alle Wurzeln werden
sorgfältig gereinigt, dann in drei Zoll lange Stücke zerbissen und nun aufgehäuft. Nirgends wird das
Gewerbe dieser Thiere dem Menschen so nützlich, als in Dawurien und in anderen Gegenden des öst-
lichen Sibiriens. Die heidnischen Völker, welche keinen Ackerbau haben, verfahren dort mit ihnen,
wie unbillige Edelleute mit ihren Bauern. Sie heben die Schätze im Herbst, wenn die Vorraths-
kammern gefüllt sind, mit einer Schaufel aus, lesen die betäubenden weißen Wurzeln aus und
behalten die schwarzen des Wiesenknopfes, welche sie dann nicht blos als Speise, sondern auch als
Thee gebrauchen. Die armseligen Landsassen haben an diesen Vorräthen, welche sie den Mäusen
abnehmen, oft den ganzen Winter zu essen; was übrig bleibt, wühlen die wilden Schweine aus, und
wenn ihnen dabei eine Maus in die Quere kommt, wird diese natürlich auch mit verzehrt."

Merkwürdig ist die große Wanderlust dieser Wühlmäuse. Zum Kummer der Eingebornen
machen sie sich in manchen Frühjahren auf und ziehen heerweise nach Westen, immer geraden Weges

[Abbildung] Die Wurzelmäuse (Arvicola oeconomus und subterraneus).
fort über die Flüsse weg und auch über die Berge. Tausende ertrinken und werden von Fischen und
Enten verschlungen, andere Tausende von Zobeln und Füchsen gefressen, welche diese Züge
begleiten. Nach der Ankunft am andern Ufer eines Flusses, den sie durchschwammen, liegen sie oft
zu großen Haufen ermattet am Strande, um auszuruhen. Dann setzen sie ihre Reise mit frischen
Kräften fort. Ein Zug währt manchmal zwei Stunden in Einem fort. So wandern sie bis in die
Gegend von Penschina, dann wenden sie sich südlich und kommen in der Mitte Juli am Ochota an.
Nach Kamtschatka kommen sie gewöhnlich im Oktober zurück, und dann haben sie eine für ihre Größe
wahrhaft ungeheure Wanderung vollbracht. Die Kamtschadalen prophezeihen, wenn die Mäuse
wandern, ein nasses Jahr und sehen sie nur ungern scheiden. Bei der Rückkehr begrüßen sie dieselben
mit Freuden.

Ueber die Fortpflanzung fehlen uns Berichte; doch geht aus dem Vorstehenden hervor, daß die
Vermehrung ebenfalls eine sehr starke ist.

Die bei uns vorkommende Wurzelmaus ist 41/4 Zoll lang, wovon auf den Schwanz 11/4 Zoll
kommen. Der Pelz ist oben rostgrau, unten weißlich; beide Farben sind scharf von einander getrennt,

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Die Wurzelmäuſe.
Mäuſe holen ſich ihre Vorräthe oft aus weiten Entfernungen, ſcharren Grübchen in den Raſen, reißen
die Wurzeln heraus, reinigen ſie auf der Stelle und ziehen ſie auf ſehr ausgetretenen, förmlich ge-
bahnten Wegen rücklings nach dem Neſte. Gewöhnlich nehmen ſie den gemeinen Wieſenknopf,
den Knollenknöterich, den betäubenden Kälberkropf und den Sturmhut. Letzterer gilt
ihnen, wie die Tunguſen ſagen, als Feſtgericht; ſie berauſchen ſich damit. Alle Wurzeln werden
ſorgfältig gereinigt, dann in drei Zoll lange Stücke zerbiſſen und nun aufgehäuft. Nirgends wird das
Gewerbe dieſer Thiere dem Menſchen ſo nützlich, als in Dawurien und in anderen Gegenden des öſt-
lichen Sibiriens. Die heidniſchen Völker, welche keinen Ackerbau haben, verfahren dort mit ihnen,
wie unbillige Edelleute mit ihren Bauern. Sie heben die Schätze im Herbſt, wenn die Vorraths-
kammern gefüllt ſind, mit einer Schaufel aus, leſen die betäubenden weißen Wurzeln aus und
behalten die ſchwarzen des Wieſenknopfes, welche ſie dann nicht blos als Speiſe, ſondern auch als
Thee gebrauchen. Die armſeligen Landſaſſen haben an dieſen Vorräthen, welche ſie den Mäuſen
abnehmen, oft den ganzen Winter zu eſſen; was übrig bleibt, wühlen die wilden Schweine aus, und
wenn ihnen dabei eine Maus in die Quere kommt, wird dieſe natürlich auch mit verzehrt.‟

Merkwürdig iſt die große Wanderluſt dieſer Wühlmäuſe. Zum Kummer der Eingebornen
machen ſie ſich in manchen Frühjahren auf und ziehen heerweiſe nach Weſten, immer geraden Weges

[Abbildung] Die Wurzelmäuſe (Arvicola oeconomus und subterraneus).
fort über die Flüſſe weg und auch über die Berge. Tauſende ertrinken und werden von Fiſchen und
Enten verſchlungen, andere Tauſende von Zobeln und Füchſen gefreſſen, welche dieſe Züge
begleiten. Nach der Ankunft am andern Ufer eines Fluſſes, den ſie durchſchwammen, liegen ſie oft
zu großen Haufen ermattet am Strande, um auszuruhen. Dann ſetzen ſie ihre Reiſe mit friſchen
Kräften fort. Ein Zug währt manchmal zwei Stunden in Einem fort. So wandern ſie bis in die
Gegend von Penſchina, dann wenden ſie ſich ſüdlich und kommen in der Mitte Juli am Ochota an.
Nach Kamtſchatka kommen ſie gewöhnlich im Oktober zurück, und dann haben ſie eine für ihre Größe
wahrhaft ungeheure Wanderung vollbracht. Die Kamtſchadalen prophezeihen, wenn die Mäuſe
wandern, ein naſſes Jahr und ſehen ſie nur ungern ſcheiden. Bei der Rückkehr begrüßen ſie dieſelben
mit Freuden.

Ueber die Fortpflanzung fehlen uns Berichte; doch geht aus dem Vorſtehenden hervor, daß die
Vermehrung ebenfalls eine ſehr ſtarke iſt.

Die bei uns vorkommende Wurzelmaus iſt 4¼ Zoll lang, wovon auf den Schwanz 1¼ Zoll
kommen. Der Pelz iſt oben roſtgrau, unten weißlich; beide Farben ſind ſcharf von einander getrennt,

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[163/0179] Die Wurzelmäuſe. Mäuſe holen ſich ihre Vorräthe oft aus weiten Entfernungen, ſcharren Grübchen in den Raſen, reißen die Wurzeln heraus, reinigen ſie auf der Stelle und ziehen ſie auf ſehr ausgetretenen, förmlich ge- bahnten Wegen rücklings nach dem Neſte. Gewöhnlich nehmen ſie den gemeinen Wieſenknopf, den Knollenknöterich, den betäubenden Kälberkropf und den Sturmhut. Letzterer gilt ihnen, wie die Tunguſen ſagen, als Feſtgericht; ſie berauſchen ſich damit. Alle Wurzeln werden ſorgfältig gereinigt, dann in drei Zoll lange Stücke zerbiſſen und nun aufgehäuft. Nirgends wird das Gewerbe dieſer Thiere dem Menſchen ſo nützlich, als in Dawurien und in anderen Gegenden des öſt- lichen Sibiriens. Die heidniſchen Völker, welche keinen Ackerbau haben, verfahren dort mit ihnen, wie unbillige Edelleute mit ihren Bauern. Sie heben die Schätze im Herbſt, wenn die Vorraths- kammern gefüllt ſind, mit einer Schaufel aus, leſen die betäubenden weißen Wurzeln aus und behalten die ſchwarzen des Wieſenknopfes, welche ſie dann nicht blos als Speiſe, ſondern auch als Thee gebrauchen. Die armſeligen Landſaſſen haben an dieſen Vorräthen, welche ſie den Mäuſen abnehmen, oft den ganzen Winter zu eſſen; was übrig bleibt, wühlen die wilden Schweine aus, und wenn ihnen dabei eine Maus in die Quere kommt, wird dieſe natürlich auch mit verzehrt.‟ Merkwürdig iſt die große Wanderluſt dieſer Wühlmäuſe. Zum Kummer der Eingebornen machen ſie ſich in manchen Frühjahren auf und ziehen heerweiſe nach Weſten, immer geraden Weges [Abbildung Die Wurzelmäuſe (Arvicola oeconomus und subterraneus).] fort über die Flüſſe weg und auch über die Berge. Tauſende ertrinken und werden von Fiſchen und Enten verſchlungen, andere Tauſende von Zobeln und Füchſen gefreſſen, welche dieſe Züge begleiten. Nach der Ankunft am andern Ufer eines Fluſſes, den ſie durchſchwammen, liegen ſie oft zu großen Haufen ermattet am Strande, um auszuruhen. Dann ſetzen ſie ihre Reiſe mit friſchen Kräften fort. Ein Zug währt manchmal zwei Stunden in Einem fort. So wandern ſie bis in die Gegend von Penſchina, dann wenden ſie ſich ſüdlich und kommen in der Mitte Juli am Ochota an. Nach Kamtſchatka kommen ſie gewöhnlich im Oktober zurück, und dann haben ſie eine für ihre Größe wahrhaft ungeheure Wanderung vollbracht. Die Kamtſchadalen prophezeihen, wenn die Mäuſe wandern, ein naſſes Jahr und ſehen ſie nur ungern ſcheiden. Bei der Rückkehr begrüßen ſie dieſelben mit Freuden. Ueber die Fortpflanzung fehlen uns Berichte; doch geht aus dem Vorſtehenden hervor, daß die Vermehrung ebenfalls eine ſehr ſtarke iſt. Die bei uns vorkommende Wurzelmaus iſt 4¼ Zoll lang, wovon auf den Schwanz 1¼ Zoll kommen. Der Pelz iſt oben roſtgrau, unten weißlich; beide Farben ſind ſcharf von einander getrennt, 11 *

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865, S. 163. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865/179>, abgerufen am 29.11.2024.