Das Thier kennt derartige Bosheiten gar nicht, sein offener und sanfter Blick ist der treue Spiegel seines Jnneren. An Klugheit steht es aber durchaus nicht hinter dem Hirsch zurück, wie schon daraus hervorgeht, daß immer ein Thier das Rudel leitet. Von dem Benehmen dieses Thieres hängen alle Bewegungen der Gesammtheit ab, selbst in der Brunstzeit noch, solange das Rudel nicht vom Hirsch geleitet wird: -- gerade die stärksten Hirsche erscheinen im Trupp immer zuletzt.
Ueber die Fortpflanzung des Edelwilds hat Dietrich aus dem Winckell so hübsch berichtet, daß ich es vorziehe, anstatt meiner eigenen Worte, die jenes alten, berühmten Jägers zu gebrauchen.
"Die Brunstzeit des Edelwilds," sagt er, "fängt mit Eintritt des Monats September an und dauert bis zur Mitte Oktobers."
"Schon gegen Ende des Augusts, wenn die Hirsche am feistesten sind, erwachen in den stärk- sten die Triebe zur Brunst. Sie äußern Dies durch ihr Schreien -- ein Laut, der dem Jäger ange- nehm, dem musikalischen Ohr aber nichts weniger als schmeichelnd ist -- welches macht, daß ihnen gleich anfangs der Hals anschwillt. Denselben Ort, wo der Hirsch einmal gebrunstet hat, wählt er, solange das Holz nicht abgetrieben wird, da, wo er Ruhe hat, in den folgenden Jahren immer wie- der. Solche Stellen nennt man Brunstplätze. Jn der Nachbarschaft derselben zieht sich dann auch das Wild in kleine Trupps zu 6, 8, 10 bis 12 Stück zusammen, verbirgt sich aber, vielleicht aus Gefallsucht, vor dem Brunsthirsche. Dieser trollt unaufhörlich mit zu Boden gesenkter Nase umher, um zu wittern, wo es gezogen ist und steht. Findet er noch schwache Hirsche oder Spießer dabei, so vertreibt er sie und bringt sich in den Besitz der Alleinherrschaft, welche er von nun an mit der größten Strenge ausübt. Keine der erwählten Geliebten darf sich nur auf 30 Schritte weit ent- fernen; er treibt sie sämmtlich auf den gewählten Brunstplatz."
"Hier, von soviel Reizen umgeben, vermehrt sich der Begattungstrieb stündlich; aber noch im- mer weigern sich wenigstens die jüngeren Spröden, die Schmalthiere, welche er unausgesetzt herum- jagt, so daß der Platz ganz kahl getreten wird."
"Abends und morgens ertönt der Wald vom Geschrei der Brunsthirsche, welche sich jetzt kaum den Genuß des nöthigen Geäßes und nur zuweilen Abkühlung in einer benachbarten Suhle oder Quelle, wohin die Thiere sie begleiten müssen, gestatten. Andere, weniger glückliche, Nebenbuhler beantworten neidisch das Geschrei. Mit dem Vorsatz, Alles zu wagen, um durch Tapferkeit oder List sich an die Stelle jener zu setzen, nahen sie sich. Kaum erblickt der beim Wilde stehende Hirsch einen anderen, so stellt er sich, glühend vor Eifersucht, ihm entgegen."
"Jetzt beginnt ein Kampf, welcher oft einem der Streitenden, nicht selten beiden, das Leben kostet. Wüthend gehen sie mit gesenktem Gehörn auf einander los, und suchen sich mit bewunderns- würdiger Gewandtheit wechselsweise anzugreifen oder zu vertheidigen. Weit erschallt im Walde das Zusammenschlagen der Geweihe, und wehe dem Theile, welcher aus Altersschwäche oder sonst zufällig eine Blöße gibt! Sicher benutzt diese der Gegner, um ihm mit den scharfen Ecken der Augensprossen eine Wunde beizubringen. Man hat Beispiele, daß die Geweihe beim Kampfe sich so fest in einander verschlungen hatten, daß der Tod beider Hirsche die Folge dieses Zufalls war, und auch dann ver- mochte keine menschliche Kraft, sie ohne Verletzung der Enden zu trennen. Oft bleibt der Streit stundenlang unentschieden. Nur bei völliger Ermattung zieht sich der Besiegte zurück; der Sieger aber findet seinen Lohn im unersättlichen, immer wechselnden Genuß von Gunstbezeugungen der Thiere, welche -- wer kann es bestimmen, ob nicht mit getheilter Theilnahme -- dem Kampfe zu- sahen. Während desselben gelingt es zuweilen ganz jungen Hirschen, sich auf kurze Zeit in den Besitz der Rechte zu stellen, um welche jene sich mit so großer Hartnäckigkeit streiten, indem sie sich an das Wild heranschleichen und Das genießen, was ihnen sonst erst drei Wochen später, wenn die Starken, ganz entkräftet, die Brunstplätze verlassen, zu Theil wird. Zum Beschlag selbst bedient der Hirsch sich nur eines sehr kurzen Zeitraums."
"Das Thier gehört nicht zu den Geschöpfen, welche nicht Gleiches mit Gleichem vergelten, wenn der Gatte sich steten Wechsel erlaubt! Es sucht sich so oft als möglich für den Zwang schadlos zu hal-
Die Hirſche. — Der Edelhirſch.
Das Thier kennt derartige Bosheiten gar nicht, ſein offener und ſanfter Blick iſt der treue Spiegel ſeines Jnneren. An Klugheit ſteht es aber durchaus nicht hinter dem Hirſch zurück, wie ſchon daraus hervorgeht, daß immer ein Thier das Rudel leitet. Von dem Benehmen dieſes Thieres hängen alle Bewegungen der Geſammtheit ab, ſelbſt in der Brunſtzeit noch, ſolange das Rudel nicht vom Hirſch geleitet wird: — gerade die ſtärkſten Hirſche erſcheinen im Trupp immer zuletzt.
Ueber die Fortpflanzung des Edelwilds hat Dietrich aus dem Winckell ſo hübſch berichtet, daß ich es vorziehe, anſtatt meiner eigenen Worte, die jenes alten, berühmten Jägers zu gebrauchen.
„Die Brunſtzeit des Edelwilds,‟ ſagt er, „fängt mit Eintritt des Monats September an und dauert bis zur Mitte Oktobers.‟
„Schon gegen Ende des Auguſts, wenn die Hirſche am feiſteſten ſind, erwachen in den ſtärk- ſten die Triebe zur Brunſt. Sie äußern Dies durch ihr Schreien — ein Laut, der dem Jäger ange- nehm, dem muſikaliſchen Ohr aber nichts weniger als ſchmeichelnd iſt — welches macht, daß ihnen gleich anfangs der Hals anſchwillt. Denſelben Ort, wo der Hirſch einmal gebrunſtet hat, wählt er, ſolange das Holz nicht abgetrieben wird, da, wo er Ruhe hat, in den folgenden Jahren immer wie- der. Solche Stellen nennt man Brunſtplätze. Jn der Nachbarſchaft derſelben zieht ſich dann auch das Wild in kleine Trupps zu 6, 8, 10 bis 12 Stück zuſammen, verbirgt ſich aber, vielleicht aus Gefallſucht, vor dem Brunſthirſche. Dieſer trollt unaufhörlich mit zu Boden geſenkter Naſe umher, um zu wittern, wo es gezogen iſt und ſteht. Findet er noch ſchwache Hirſche oder Spießer dabei, ſo vertreibt er ſie und bringt ſich in den Beſitz der Alleinherrſchaft, welche er von nun an mit der größten Strenge ausübt. Keine der erwählten Geliebten darf ſich nur auf 30 Schritte weit ent- fernen; er treibt ſie ſämmtlich auf den gewählten Brunſtplatz.‟
„Hier, von ſoviel Reizen umgeben, vermehrt ſich der Begattungstrieb ſtündlich; aber noch im- mer weigern ſich wenigſtens die jüngeren Spröden, die Schmalthiere, welche er unausgeſetzt herum- jagt, ſo daß der Platz ganz kahl getreten wird.‟
„Abends und morgens ertönt der Wald vom Geſchrei der Brunſthirſche, welche ſich jetzt kaum den Genuß des nöthigen Geäßes und nur zuweilen Abkühlung in einer benachbarten Suhle oder Quelle, wohin die Thiere ſie begleiten müſſen, geſtatten. Andere, weniger glückliche, Nebenbuhler beantworten neidiſch das Geſchrei. Mit dem Vorſatz, Alles zu wagen, um durch Tapferkeit oder Liſt ſich an die Stelle jener zu ſetzen, nahen ſie ſich. Kaum erblickt der beim Wilde ſtehende Hirſch einen anderen, ſo ſtellt er ſich, glühend vor Eiferſucht, ihm entgegen.‟
„Jetzt beginnt ein Kampf, welcher oft einem der Streitenden, nicht ſelten beiden, das Leben koſtet. Wüthend gehen ſie mit geſenktem Gehörn auf einander los, und ſuchen ſich mit bewunderns- würdiger Gewandtheit wechſelsweiſe anzugreifen oder zu vertheidigen. Weit erſchallt im Walde das Zuſammenſchlagen der Geweihe, und wehe dem Theile, welcher aus Altersſchwäche oder ſonſt zufällig eine Blöße gibt! Sicher benutzt dieſe der Gegner, um ihm mit den ſcharfen Ecken der Augenſproſſen eine Wunde beizubringen. Man hat Beiſpiele, daß die Geweihe beim Kampfe ſich ſo feſt in einander verſchlungen hatten, daß der Tod beider Hirſche die Folge dieſes Zufalls war, und auch dann ver- mochte keine menſchliche Kraft, ſie ohne Verletzung der Enden zu trennen. Oft bleibt der Streit ſtundenlang unentſchieden. Nur bei völliger Ermattung zieht ſich der Beſiegte zurück; der Sieger aber findet ſeinen Lohn im unerſättlichen, immer wechſelnden Genuß von Gunſtbezeugungen der Thiere, welche — wer kann es beſtimmen, ob nicht mit getheilter Theilnahme — dem Kampfe zu- ſahen. Während deſſelben gelingt es zuweilen ganz jungen Hirſchen, ſich auf kurze Zeit in den Beſitz der Rechte zu ſtellen, um welche jene ſich mit ſo großer Hartnäckigkeit ſtreiten, indem ſie ſich an das Wild heranſchleichen und Das genießen, was ihnen ſonſt erſt drei Wochen ſpäter, wenn die Starken, ganz entkräftet, die Brunſtplätze verlaſſen, zu Theil wird. Zum Beſchlag ſelbſt bedient der Hirſch ſich nur eines ſehr kurzen Zeitraums.‟
„Das Thier gehört nicht zu den Geſchöpfen, welche nicht Gleiches mit Gleichem vergelten, wenn der Gatte ſich ſteten Wechſel erlaubt! Es ſucht ſich ſo oft als möglich für den Zwang ſchadlos zu hal-
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[456/0482]
Die Hirſche. — Der Edelhirſch.
Das Thier kennt derartige Bosheiten gar nicht, ſein offener und ſanfter Blick iſt der treue Spiegel
ſeines Jnneren. An Klugheit ſteht es aber durchaus nicht hinter dem Hirſch zurück, wie ſchon
daraus hervorgeht, daß immer ein Thier das Rudel leitet. Von dem Benehmen dieſes Thieres
hängen alle Bewegungen der Geſammtheit ab, ſelbſt in der Brunſtzeit noch, ſolange das Rudel nicht
vom Hirſch geleitet wird: — gerade die ſtärkſten Hirſche erſcheinen im Trupp immer zuletzt.
Ueber die Fortpflanzung des Edelwilds hat Dietrich aus dem Winckell ſo hübſch berichtet,
daß ich es vorziehe, anſtatt meiner eigenen Worte, die jenes alten, berühmten Jägers zu gebrauchen.
„Die Brunſtzeit des Edelwilds,‟ ſagt er, „fängt mit Eintritt des Monats September an und
dauert bis zur Mitte Oktobers.‟
„Schon gegen Ende des Auguſts, wenn die Hirſche am feiſteſten ſind, erwachen in den ſtärk-
ſten die Triebe zur Brunſt. Sie äußern Dies durch ihr Schreien — ein Laut, der dem Jäger ange-
nehm, dem muſikaliſchen Ohr aber nichts weniger als ſchmeichelnd iſt — welches macht, daß ihnen
gleich anfangs der Hals anſchwillt. Denſelben Ort, wo der Hirſch einmal gebrunſtet hat, wählt er,
ſolange das Holz nicht abgetrieben wird, da, wo er Ruhe hat, in den folgenden Jahren immer wie-
der. Solche Stellen nennt man Brunſtplätze. Jn der Nachbarſchaft derſelben zieht ſich dann
auch das Wild in kleine Trupps zu 6, 8, 10 bis 12 Stück zuſammen, verbirgt ſich aber, vielleicht
aus Gefallſucht, vor dem Brunſthirſche. Dieſer trollt unaufhörlich mit zu Boden geſenkter Naſe
umher, um zu wittern, wo es gezogen iſt und ſteht. Findet er noch ſchwache Hirſche oder Spießer
dabei, ſo vertreibt er ſie und bringt ſich in den Beſitz der Alleinherrſchaft, welche er von nun an mit
der größten Strenge ausübt. Keine der erwählten Geliebten darf ſich nur auf 30 Schritte weit ent-
fernen; er treibt ſie ſämmtlich auf den gewählten Brunſtplatz.‟
„Hier, von ſoviel Reizen umgeben, vermehrt ſich der Begattungstrieb ſtündlich; aber noch im-
mer weigern ſich wenigſtens die jüngeren Spröden, die Schmalthiere, welche er unausgeſetzt herum-
jagt, ſo daß der Platz ganz kahl getreten wird.‟
„Abends und morgens ertönt der Wald vom Geſchrei der Brunſthirſche, welche ſich jetzt kaum
den Genuß des nöthigen Geäßes und nur zuweilen Abkühlung in einer benachbarten Suhle oder
Quelle, wohin die Thiere ſie begleiten müſſen, geſtatten. Andere, weniger glückliche, Nebenbuhler
beantworten neidiſch das Geſchrei. Mit dem Vorſatz, Alles zu wagen, um durch Tapferkeit oder Liſt
ſich an die Stelle jener zu ſetzen, nahen ſie ſich. Kaum erblickt der beim Wilde ſtehende Hirſch einen
anderen, ſo ſtellt er ſich, glühend vor Eiferſucht, ihm entgegen.‟
„Jetzt beginnt ein Kampf, welcher oft einem der Streitenden, nicht ſelten beiden, das Leben
koſtet. Wüthend gehen ſie mit geſenktem Gehörn auf einander los, und ſuchen ſich mit bewunderns-
würdiger Gewandtheit wechſelsweiſe anzugreifen oder zu vertheidigen. Weit erſchallt im Walde das
Zuſammenſchlagen der Geweihe, und wehe dem Theile, welcher aus Altersſchwäche oder ſonſt zufällig
eine Blöße gibt! Sicher benutzt dieſe der Gegner, um ihm mit den ſcharfen Ecken der Augenſproſſen
eine Wunde beizubringen. Man hat Beiſpiele, daß die Geweihe beim Kampfe ſich ſo feſt in einander
verſchlungen hatten, daß der Tod beider Hirſche die Folge dieſes Zufalls war, und auch dann ver-
mochte keine menſchliche Kraft, ſie ohne Verletzung der Enden zu trennen. Oft bleibt der Streit
ſtundenlang unentſchieden. Nur bei völliger Ermattung zieht ſich der Beſiegte zurück; der Sieger
aber findet ſeinen Lohn im unerſättlichen, immer wechſelnden Genuß von Gunſtbezeugungen der
Thiere, welche — wer kann es beſtimmen, ob nicht mit getheilter Theilnahme — dem Kampfe zu-
ſahen. Während deſſelben gelingt es zuweilen ganz jungen Hirſchen, ſich auf kurze Zeit in den Beſitz
der Rechte zu ſtellen, um welche jene ſich mit ſo großer Hartnäckigkeit ſtreiten, indem ſie ſich an das
Wild heranſchleichen und Das genießen, was ihnen ſonſt erſt drei Wochen ſpäter, wenn die Starken,
ganz entkräftet, die Brunſtplätze verlaſſen, zu Theil wird. Zum Beſchlag ſelbſt bedient der Hirſch
ſich nur eines ſehr kurzen Zeitraums.‟
„Das Thier gehört nicht zu den Geſchöpfen, welche nicht Gleiches mit Gleichem vergelten, wenn
der Gatte ſich ſteten Wechſel erlaubt! Es ſucht ſich ſo oft als möglich für den Zwang ſchadlos zu hal-
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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865, S. 456. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865/482>, abgerufen am 23.11.2024.
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