ten, welchen ihm die eifersüchtigen Grillen desselben auflegen. Sonst schrieb man ihm soviel Ent- haltsamkeit zu, daß man behauptete, es trenne sich unvermerkt vom Hirsche, sobald es sich hochbe- schlagen fühle; neuere Beobachtungen haben das Gegentheil bewiesen."
"Vierzig bis einundvierzig Wochen geht das Thier tragend. Es setzt, je nachdem es, während der Brunst, zeitig oder spät hochbeschlagen wurde, zu Ende des Mais oder im Monat Juni ein Kalb, selten zwei."
"Wenn die Setzzeit herannaht, sucht es Einsamkeit und Ruhe im dichtesten Holze. Die Kälber sind in den ersten drei Tagen ihres Lebens so unbeholfen, daß sie sich nicht von der Stelle bewegen. Man kann sie sogar mit der Hand aufnehmen."
"Nur selten und auf kurze Zeit verläßt sie in dieser Zeit die Mutter, und selbst wenn sie ver- scheucht wird, entfernt sie sich nur soweit, als nöthig ist, um durch vorgegebene Flucht die wirkliche oder eingebildete Gefahr abzuwenden. Und diesen Zweck sucht sie, vorzüglich wenn ein Hund oder Raubthier sich naht, mit vieler Schlauheit zu erreichen. Trotz ihrer sonstigen Furchtsamkeit, flieht sie nicht eher und nicht schneller, als sie muß, um zu entkommen, weil sie weiß, daß Dies das beste Mittel ist, die Aufmerksamkeit des Feindes vom Kalbe ab und auf sich zu ziehen, und ihn, indem er ihr mit Eifer folgt, irre zu führen. Kaum ist er gänzlich entfernt, so eilt sie an den Ort zurück, wo sie ihren Liebling verließ."
"Nachdem das Kalb nur eine Woche überlebt hat, würde die Mühe vergeblich sein, es ohne Netze fangen zu wollen. Ueberall folgt es nun der Mutter und drückt sich sogleich im hohen Grase, wenn diese sich meldet, d. h. einen Laut des Schreckens von sich gibt; oder mit dem Vorderlaufe schnell und stark auf den Boden stampft. Es besaugt das Thier bis zur nächsten Brunstzeit, und wird von diesem über die Wahl der ihm dienlichen Aeßung von Jugend auf belehrt."
Von nun an beginnt das wechselreiche Leben des Edelwilds. Das Wildkalb ist bereits im drit- ten Jahr erwachsen, das Hirschkalb braucht eine Reihe von Jahren, ehe es sich alle Rechte der Allein- herrschaft erobert hat. Jm siebenten Monat seines Alters setzt es zum ersten Male auf, und von nun an wechselt es seinen Hauptschmuck in jedem Jahr. Jch halte es für sehr belehrend, einen kurzen Ueberblick der Veränderungen, welche das Hirschkalb durchmacht, hier zu geben, und will mich dabei an Blasius halten, welcher diesen Gegenstand im naturwissenschaftlichen Sinne behandelt hat. Es reicht beim Hirsch noch weniger aus, als beim Rehbock, die Zahl der Enden jagdmäßig zu bestimmen, um die Reihe der allmählichen Entwickelung zu bezeichnen. Wenn auch in der Zahl der Enden oft eine Unregelmäßigkeit des Fortschritts bemerkt wird und sogar die Hirsche nicht selten wieder zurücksetzen, findet doch eine strenge Gesetzmäßigkeit in der Reihenfolge der Entwickelung statt, und die Bestimmung einer solchen Entwickelungsreihe bringt die Zahl der Enden nicht so oft in Widerspruch mit der Stärke des Geweihes der Hirsche, als die jagdmäßige Zählung. Für eine natur- geschichtliche Betrachtung erscheint die Gestalt der Geweihe von viel größerer Wichtigkeit, als die Zahl der Enden. Bei der Zählung der Enden kommt ihre Stellung wieder vielmehr in Betracht, als die Zahl selber. Nur diejenigen Enden sind von Bedeutung, welche mit der Hauptstange in Berührung kommen, alle Verzweigungen, entfernt von der Hauptstange, können nur als zufällige, keine we- sentlichen Veränderungen des Bildungsgesetzes bedingende Abweichungen angesehen werden ...... Die Hauptstange hat anfangs nur eine einzige, gleichmäßige und schwache Krümmung; dann erhält sie eine plötzliche, knieförmige Biegung an der Stelle, wo die Mittelsprosse entsteht, nach rückwärts, während die Spitze immer nach innen gerichtet bleibt. Eine zweite knieförmige Biegung erhält sie in der Krone des Zwölfenders: sie biegt sich wieder rückwärts und macht am Fuße der Krone einen Winkel, eine dritte tritt beim Vierzehnender, eine vierte beim Zwanzigender immer höher hinauf in der Krone ein, während die Spitze oder Außenseite sich nach innen kehrt. Jede dieser Biegungen bleibt für alle folgenden Entwickelungsstufen als Grundlage. Ebenso auffallend ist die Veränderung der Augensprosse im Verlauf der Entwickelung. Zuerst steht sie ziemlich hoch, später tritt sie der Rose immer näher. Anfangs macht sie mit der Hauptstange einen spitzen Winkel, später vergrößert
Der Edelhirſch.
ten, welchen ihm die eiferſüchtigen Grillen deſſelben auflegen. Sonſt ſchrieb man ihm ſoviel Ent- haltſamkeit zu, daß man behauptete, es trenne ſich unvermerkt vom Hirſche, ſobald es ſich hochbe- ſchlagen fühle; neuere Beobachtungen haben das Gegentheil bewieſen.‟
„Vierzig bis einundvierzig Wochen geht das Thier tragend. Es ſetzt, je nachdem es, während der Brunſt, zeitig oder ſpät hochbeſchlagen wurde, zu Ende des Mais oder im Monat Juni ein Kalb, ſelten zwei.‟
„Wenn die Setzzeit herannaht, ſucht es Einſamkeit und Ruhe im dichteſten Holze. Die Kälber ſind in den erſten drei Tagen ihres Lebens ſo unbeholfen, daß ſie ſich nicht von der Stelle bewegen. Man kann ſie ſogar mit der Hand aufnehmen.‟
„Nur ſelten und auf kurze Zeit verläßt ſie in dieſer Zeit die Mutter, und ſelbſt wenn ſie ver- ſcheucht wird, entfernt ſie ſich nur ſoweit, als nöthig iſt, um durch vorgegebene Flucht die wirkliche oder eingebildete Gefahr abzuwenden. Und dieſen Zweck ſucht ſie, vorzüglich wenn ein Hund oder Raubthier ſich naht, mit vieler Schlauheit zu erreichen. Trotz ihrer ſonſtigen Furchtſamkeit, flieht ſie nicht eher und nicht ſchneller, als ſie muß, um zu entkommen, weil ſie weiß, daß Dies das beſte Mittel iſt, die Aufmerkſamkeit des Feindes vom Kalbe ab und auf ſich zu ziehen, und ihn, indem er ihr mit Eifer folgt, irre zu führen. Kaum iſt er gänzlich entfernt, ſo eilt ſie an den Ort zurück, wo ſie ihren Liebling verließ.‟
„Nachdem das Kalb nur eine Woche überlebt hat, würde die Mühe vergeblich ſein, es ohne Netze fangen zu wollen. Ueberall folgt es nun der Mutter und drückt ſich ſogleich im hohen Graſe, wenn dieſe ſich meldet, d. h. einen Laut des Schreckens von ſich gibt; oder mit dem Vorderlaufe ſchnell und ſtark auf den Boden ſtampft. Es beſaugt das Thier bis zur nächſten Brunſtzeit, und wird von dieſem über die Wahl der ihm dienlichen Aeßung von Jugend auf belehrt.‟
Von nun an beginnt das wechſelreiche Leben des Edelwilds. Das Wildkalb iſt bereits im drit- ten Jahr erwachſen, das Hirſchkalb braucht eine Reihe von Jahren, ehe es ſich alle Rechte der Allein- herrſchaft erobert hat. Jm ſiebenten Monat ſeines Alters ſetzt es zum erſten Male auf, und von nun an wechſelt es ſeinen Hauptſchmuck in jedem Jahr. Jch halte es für ſehr belehrend, einen kurzen Ueberblick der Veränderungen, welche das Hirſchkalb durchmacht, hier zu geben, und will mich dabei an Blaſius halten, welcher dieſen Gegenſtand im naturwiſſenſchaftlichen Sinne behandelt hat. Es reicht beim Hirſch noch weniger aus, als beim Rehbock, die Zahl der Enden jagdmäßig zu beſtimmen, um die Reihe der allmählichen Entwickelung zu bezeichnen. Wenn auch in der Zahl der Enden oft eine Unregelmäßigkeit des Fortſchritts bemerkt wird und ſogar die Hirſche nicht ſelten wieder zurückſetzen, findet doch eine ſtrenge Geſetzmäßigkeit in der Reihenfolge der Entwickelung ſtatt, und die Beſtimmung einer ſolchen Entwickelungsreihe bringt die Zahl der Enden nicht ſo oft in Widerſpruch mit der Stärke des Geweihes der Hirſche, als die jagdmäßige Zählung. Für eine natur- geſchichtliche Betrachtung erſcheint die Geſtalt der Geweihe von viel größerer Wichtigkeit, als die Zahl der Enden. Bei der Zählung der Enden kommt ihre Stellung wieder vielmehr in Betracht, als die Zahl ſelber. Nur diejenigen Enden ſind von Bedeutung, welche mit der Hauptſtange in Berührung kommen, alle Verzweigungen, entfernt von der Hauptſtange, können nur als zufällige, keine we- ſentlichen Veränderungen des Bildungsgeſetzes bedingende Abweichungen angeſehen werden ...... Die Hauptſtange hat anfangs nur eine einzige, gleichmäßige und ſchwache Krümmung; dann erhält ſie eine plötzliche, knieförmige Biegung an der Stelle, wo die Mittelſproſſe entſteht, nach rückwärts, während die Spitze immer nach innen gerichtet bleibt. Eine zweite knieförmige Biegung erhält ſie in der Krone des Zwölfenders: ſie biegt ſich wieder rückwärts und macht am Fuße der Krone einen Winkel, eine dritte tritt beim Vierzehnender, eine vierte beim Zwanzigender immer höher hinauf in der Krone ein, während die Spitze oder Außenſeite ſich nach innen kehrt. Jede dieſer Biegungen bleibt für alle folgenden Entwickelungsſtufen als Grundlage. Ebenſo auffallend iſt die Veränderung der Augenſproſſe im Verlauf der Entwickelung. Zuerſt ſteht ſie ziemlich hoch, ſpäter tritt ſie der Roſe immer näher. Anfangs macht ſie mit der Hauptſtange einen ſpitzen Winkel, ſpäter vergrößert
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[457/0483]
Der Edelhirſch.
ten, welchen ihm die eiferſüchtigen Grillen deſſelben auflegen. Sonſt ſchrieb man ihm ſoviel Ent-
haltſamkeit zu, daß man behauptete, es trenne ſich unvermerkt vom Hirſche, ſobald es ſich hochbe-
ſchlagen fühle; neuere Beobachtungen haben das Gegentheil bewieſen.‟
„Vierzig bis einundvierzig Wochen geht das Thier tragend. Es ſetzt, je nachdem es, während
der Brunſt, zeitig oder ſpät hochbeſchlagen wurde, zu Ende des Mais oder im Monat Juni ein
Kalb, ſelten zwei.‟
„Wenn die Setzzeit herannaht, ſucht es Einſamkeit und Ruhe im dichteſten Holze. Die Kälber
ſind in den erſten drei Tagen ihres Lebens ſo unbeholfen, daß ſie ſich nicht von der Stelle bewegen.
Man kann ſie ſogar mit der Hand aufnehmen.‟
„Nur ſelten und auf kurze Zeit verläßt ſie in dieſer Zeit die Mutter, und ſelbſt wenn ſie ver-
ſcheucht wird, entfernt ſie ſich nur ſoweit, als nöthig iſt, um durch vorgegebene Flucht die wirkliche
oder eingebildete Gefahr abzuwenden. Und dieſen Zweck ſucht ſie, vorzüglich wenn ein Hund oder
Raubthier ſich naht, mit vieler Schlauheit zu erreichen. Trotz ihrer ſonſtigen Furchtſamkeit, flieht
ſie nicht eher und nicht ſchneller, als ſie muß, um zu entkommen, weil ſie weiß, daß Dies das beſte
Mittel iſt, die Aufmerkſamkeit des Feindes vom Kalbe ab und auf ſich zu ziehen, und ihn, indem er
ihr mit Eifer folgt, irre zu führen. Kaum iſt er gänzlich entfernt, ſo eilt ſie an den Ort zurück,
wo ſie ihren Liebling verließ.‟
„Nachdem das Kalb nur eine Woche überlebt hat, würde die Mühe vergeblich ſein, es ohne
Netze fangen zu wollen. Ueberall folgt es nun der Mutter und drückt ſich ſogleich im hohen Graſe,
wenn dieſe ſich meldet, d. h. einen Laut des Schreckens von ſich gibt; oder mit dem Vorderlaufe
ſchnell und ſtark auf den Boden ſtampft. Es beſaugt das Thier bis zur nächſten Brunſtzeit, und
wird von dieſem über die Wahl der ihm dienlichen Aeßung von Jugend auf belehrt.‟
Von nun an beginnt das wechſelreiche Leben des Edelwilds. Das Wildkalb iſt bereits im drit-
ten Jahr erwachſen, das Hirſchkalb braucht eine Reihe von Jahren, ehe es ſich alle Rechte der Allein-
herrſchaft erobert hat. Jm ſiebenten Monat ſeines Alters ſetzt es zum erſten Male auf, und von nun
an wechſelt es ſeinen Hauptſchmuck in jedem Jahr. Jch halte es für ſehr belehrend, einen kurzen
Ueberblick der Veränderungen, welche das Hirſchkalb durchmacht, hier zu geben, und will mich dabei
an Blaſius halten, welcher dieſen Gegenſtand im naturwiſſenſchaftlichen Sinne behandelt hat.
Es reicht beim Hirſch noch weniger aus, als beim Rehbock, die Zahl der Enden jagdmäßig
zu beſtimmen, um die Reihe der allmählichen Entwickelung zu bezeichnen. Wenn auch in der
Zahl der Enden oft eine Unregelmäßigkeit des Fortſchritts bemerkt wird und ſogar die Hirſche nicht
ſelten wieder zurückſetzen, findet doch eine ſtrenge Geſetzmäßigkeit in der Reihenfolge der Entwickelung
ſtatt, und die Beſtimmung einer ſolchen Entwickelungsreihe bringt die Zahl der Enden nicht ſo oft in
Widerſpruch mit der Stärke des Geweihes der Hirſche, als die jagdmäßige Zählung. Für eine natur-
geſchichtliche Betrachtung erſcheint die Geſtalt der Geweihe von viel größerer Wichtigkeit, als die Zahl
der Enden. Bei der Zählung der Enden kommt ihre Stellung wieder vielmehr in Betracht, als die
Zahl ſelber. Nur diejenigen Enden ſind von Bedeutung, welche mit der Hauptſtange in Berührung
kommen, alle Verzweigungen, entfernt von der Hauptſtange, können nur als zufällige, keine we-
ſentlichen Veränderungen des Bildungsgeſetzes bedingende Abweichungen angeſehen werden ......
Die Hauptſtange hat anfangs nur eine einzige, gleichmäßige und ſchwache Krümmung; dann erhält
ſie eine plötzliche, knieförmige Biegung an der Stelle, wo die Mittelſproſſe entſteht, nach rückwärts,
während die Spitze immer nach innen gerichtet bleibt. Eine zweite knieförmige Biegung erhält ſie in
der Krone des Zwölfenders: ſie biegt ſich wieder rückwärts und macht am Fuße der Krone einen
Winkel, eine dritte tritt beim Vierzehnender, eine vierte beim Zwanzigender immer höher hinauf in
der Krone ein, während die Spitze oder Außenſeite ſich nach innen kehrt. Jede dieſer Biegungen
bleibt für alle folgenden Entwickelungsſtufen als Grundlage. Ebenſo auffallend iſt die Veränderung
der Augenſproſſe im Verlauf der Entwickelung. Zuerſt ſteht ſie ziemlich hoch, ſpäter tritt ſie der
Roſe immer näher. Anfangs macht ſie mit der Hauptſtange einen ſpitzen Winkel, ſpäter vergrößert
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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865, S. 457. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865/483>, abgerufen am 23.11.2024.
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