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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865.

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Unser Reh.
Bock ist Leilthier, Beschützer und Vertheidiger der Familie. Er trennt sich auch nur höchst selten von
ihr, wahrscheinlich blos dann, wenn jüngere, kräftigere seine Stelle vertreten und er es für gut be-
findet, sich grollend in die Einsamkeit zurückzuziehen. Dies geschieht hauptsächlich im Frühsommer,
währt aber nie länger, als bis zur Blattzeit; dann trollt er sich unruhig herum, um Schmalrehe
aufzusuchen. Nach der Blattzeit bleibt er meistens beim Schmalreh; wenn die nunmehrige Ricke
aber hochbeschlagen ist, sucht er sich eine andere, und diese bleibt bis zum nächsten Frühling seine
bevorzugte Gefährtin, obgleich er, wie wir weiter unten sehen werden, gegen die erstere, wenn sie
gesetzt hat, sich keineswegs unzart und unhöflich beträgt. Jm Winter vereinigen sich zuweilen mehr
Familien und leben dann in Frieden längere Zeit mit einander. Das Reh ist ein höchst verträgliches
Geschöpf, wie es sich überhaupt durch eine Menge guter Eigenschaften auszeichnet.

Die Aeßung ist fast dieselbe, welche das Edelwild genießt; nur ist das Reh leckerer und sucht
sich mehr die zarteren Pflanzen aus. Blätter der verschiedensten Laubbäume, Nadelholzknospen,
grünes Getreide, Kraut u. dgl. bilden wohl die Hauptbestandtheile der Aeßung. Salz leckt es sehr
gern und reines Wasser ist ihm Bedürfniß; es begnügt sich aber bei Regen oder starkem Thaufall mit
den Tropfen, welche auf den Blättern liegen. Nur wenn es sehr häufig ist und die Güter nahe am
Walde liegen, wird es schädlich; dann kommt es zuweilen auch wohl in die Gärten herein, deren
leckere Gemüse ihm behagen, und dabei setzt es kühn und geschickt über ziemlich hohe Zäune
weg. Vom Hirsch unterscheidet es sich dadurch, daß es die Kartoffeln nicht ausscharrt und in den
Feldern nicht soviel Getreide durch Niederthun umlegt; dagegen verbeißt es in Forsten und Gärten
die jungen Bäume oft in recht schlimmer Weise.

Merkwürdiger Weise ist erst in der allerneuesten Zeit die Fortpflanzungsgeschichte des Rehes fest-
gestellt worden. Lange Jahre hat man sich hin und her gestritten, wann eigentlich die Brunstzeit des
Rehes eintrete. Man wollte eine wahre und eine falsche Brunst unterscheiden, erstere als in den
August, letztere als in den November fallend. Dietrich aus dem Winckell hat den Beschlag der
Rehe im August beobachtet und ist gleichwohl geneigt zu glauben, daß er sich im November wieder-
hole, ist geneigt, Dies anzunehmen, trotzdem er weiß, daß um diese Zeit die Rehböcke längst abge-
worfen haben. "Alles Mögliche," sagt Blasius, "ist gegen die Novemberbrunst geltend gemacht
worden: die wirklich bekannte Begattung im August, die Feistzeit vor dem regelmäßigen Zustande
der Böcke, das Abwerfen der Geweihe im Oktober und die Neubildung derselben während der angeb-
lichen Novemberbrunst, das Beschlagen im August und das später sich Vereinzeln der Ricke, wobei sie
im Mai gesetzt: -- aber Alles vergebens! Ein harmloses Necken und Jagen in diesen Wintermonaten
sollte alle Gegengründe aufwiegen! Man muß wenig Sinn für die Deutung von Thatsachen ver-
rathen, wenn man nach der Haltung der Rehe in der sogenannten Blattzeit noch an der wirklichen
Brunst zweifeln will. Die Böcke führen zuweilen in dieser Zeit Kämpfe mit einander auf Tod und
Leben und verflechten durch heftiges Schlagen hin und wieder ihre Gehörne unentwirrbar mit einan-
der. Jn heftigem Kampfe stellen sie sich auf die Hinterbeine und rennen mit den Köpfen gegen ein-
ander, wie die Ziegen, oder nehmen Anlauf, um einander zu durchbohren, während sie zu jeder
anderen Zeit sich friedlich unter einander vertragen." Kurz, die Rehe beweisen in jeder Hinsicht,
daß die Brunstzeit in den August fällt. Die guten Beobachter haben wohl auch schwerlich daran ge-
zweifelt und es ist wirklich unbegreiflich, daß Jäger so fest an einer märchenhaften Deutung dieses
Lebenshergangs hängen konnten.

Die Sache verhält sich folgendermaßen: Von der Brunstzeit an bis zum November geht die
Entwickelung des befruchteten Eichens außerordentlich langsam vorwärts und erst vom November an
in einer, wenn man so sagen darf, regelmäßigeren, rascheren Weise. Die Jäger nun, welche die
Sache ernst meinten, untersuchten hochbeschlagene Ricken zwischen den Monaten August und Novem-
ber und fanden keine Anzeichen von der Trächtigkeit, weil sie das kleine, noch in einem gebundenen
Leben verharrende Ei übersahen. Nun haben aber der große Jägermeister von Veltheim, Dr.
Pockels, Dr. Ziegler und der für die Entwickelungslehre unermüdlich thätige Bischoff die

Brehm, Thierleben. II. 31

Unſer Reh.
Bock iſt Leilthier, Beſchützer und Vertheidiger der Familie. Er trennt ſich auch nur höchſt ſelten von
ihr, wahrſcheinlich blos dann, wenn jüngere, kräftigere ſeine Stelle vertreten und er es für gut be-
findet, ſich grollend in die Einſamkeit zurückzuziehen. Dies geſchieht hauptſächlich im Frühſommer,
währt aber nie länger, als bis zur Blattzeit; dann trollt er ſich unruhig herum, um Schmalrehe
aufzuſuchen. Nach der Blattzeit bleibt er meiſtens beim Schmalreh; wenn die nunmehrige Ricke
aber hochbeſchlagen iſt, ſucht er ſich eine andere, und dieſe bleibt bis zum nächſten Frühling ſeine
bevorzugte Gefährtin, obgleich er, wie wir weiter unten ſehen werden, gegen die erſtere, wenn ſie
geſetzt hat, ſich keineswegs unzart und unhöflich beträgt. Jm Winter vereinigen ſich zuweilen mehr
Familien und leben dann in Frieden längere Zeit mit einander. Das Reh iſt ein höchſt verträgliches
Geſchöpf, wie es ſich überhaupt durch eine Menge guter Eigenſchaften auszeichnet.

Die Aeßung iſt faſt dieſelbe, welche das Edelwild genießt; nur iſt das Reh leckerer und ſucht
ſich mehr die zarteren Pflanzen aus. Blätter der verſchiedenſten Laubbäume, Nadelholzknospen,
grünes Getreide, Kraut u. dgl. bilden wohl die Hauptbeſtandtheile der Aeßung. Salz leckt es ſehr
gern und reines Waſſer iſt ihm Bedürfniß; es begnügt ſich aber bei Regen oder ſtarkem Thaufall mit
den Tropfen, welche auf den Blättern liegen. Nur wenn es ſehr häufig iſt und die Güter nahe am
Walde liegen, wird es ſchädlich; dann kommt es zuweilen auch wohl in die Gärten herein, deren
leckere Gemüſe ihm behagen, und dabei ſetzt es kühn und geſchickt über ziemlich hohe Zäune
weg. Vom Hirſch unterſcheidet es ſich dadurch, daß es die Kartoffeln nicht ausſcharrt und in den
Feldern nicht ſoviel Getreide durch Niederthun umlegt; dagegen verbeißt es in Forſten und Gärten
die jungen Bäume oft in recht ſchlimmer Weiſe.

Merkwürdiger Weiſe iſt erſt in der allerneueſten Zeit die Fortpflanzungsgeſchichte des Rehes feſt-
geſtellt worden. Lange Jahre hat man ſich hin und her geſtritten, wann eigentlich die Brunſtzeit des
Rehes eintrete. Man wollte eine wahre und eine falſche Brunſt unterſcheiden, erſtere als in den
Auguſt, letztere als in den November fallend. Dietrich aus dem Winckell hat den Beſchlag der
Rehe im Auguſt beobachtet und iſt gleichwohl geneigt zu glauben, daß er ſich im November wieder-
hole, iſt geneigt, Dies anzunehmen, trotzdem er weiß, daß um dieſe Zeit die Rehböcke längſt abge-
worfen haben. „Alles Mögliche,‟ ſagt Blaſius, „iſt gegen die Novemberbrunſt geltend gemacht
worden: die wirklich bekannte Begattung im Auguſt, die Feiſtzeit vor dem regelmäßigen Zuſtande
der Böcke, das Abwerfen der Geweihe im Oktober und die Neubildung derſelben während der angeb-
lichen Novemberbrunſt, das Beſchlagen im Auguſt und das ſpäter ſich Vereinzeln der Ricke, wobei ſie
im Mai geſetzt: — aber Alles vergebens! Ein harmloſes Necken und Jagen in dieſen Wintermonaten
ſollte alle Gegengründe aufwiegen! Man muß wenig Sinn für die Deutung von Thatſachen ver-
rathen, wenn man nach der Haltung der Rehe in der ſogenannten Blattzeit noch an der wirklichen
Brunſt zweifeln will. Die Böcke führen zuweilen in dieſer Zeit Kämpfe mit einander auf Tod und
Leben und verflechten durch heftiges Schlagen hin und wieder ihre Gehörne unentwirrbar mit einan-
der. Jn heftigem Kampfe ſtellen ſie ſich auf die Hinterbeine und rennen mit den Köpfen gegen ein-
ander, wie die Ziegen, oder nehmen Anlauf, um einander zu durchbohren, während ſie zu jeder
anderen Zeit ſich friedlich unter einander vertragen.‟ Kurz, die Rehe beweiſen in jeder Hinſicht,
daß die Brunſtzeit in den Auguſt fällt. Die guten Beobachter haben wohl auch ſchwerlich daran ge-
zweifelt und es iſt wirklich unbegreiflich, daß Jäger ſo feſt an einer märchenhaften Deutung dieſes
Lebenshergangs hängen konnten.

Die Sache verhält ſich folgendermaßen: Von der Brunſtzeit an bis zum November geht die
Entwickelung des befruchteten Eichens außerordentlich langſam vorwärts und erſt vom November an
in einer, wenn man ſo ſagen darf, regelmäßigeren, raſcheren Weiſe. Die Jäger nun, welche die
Sache ernſt meinten, unterſuchten hochbeſchlagene Ricken zwiſchen den Monaten Auguſt und Novem-
ber und fanden keine Anzeichen von der Trächtigkeit, weil ſie das kleine, noch in einem gebundenen
Leben verharrende Ei überſahen. Nun haben aber der große Jägermeiſter von Veltheim, Dr.
Pockels, Dr. Ziegler und der für die Entwickelungslehre unermüdlich thätige Biſchoff die

Brehm, Thierleben. II. 31
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[481/0507] Unſer Reh. Bock iſt Leilthier, Beſchützer und Vertheidiger der Familie. Er trennt ſich auch nur höchſt ſelten von ihr, wahrſcheinlich blos dann, wenn jüngere, kräftigere ſeine Stelle vertreten und er es für gut be- findet, ſich grollend in die Einſamkeit zurückzuziehen. Dies geſchieht hauptſächlich im Frühſommer, währt aber nie länger, als bis zur Blattzeit; dann trollt er ſich unruhig herum, um Schmalrehe aufzuſuchen. Nach der Blattzeit bleibt er meiſtens beim Schmalreh; wenn die nunmehrige Ricke aber hochbeſchlagen iſt, ſucht er ſich eine andere, und dieſe bleibt bis zum nächſten Frühling ſeine bevorzugte Gefährtin, obgleich er, wie wir weiter unten ſehen werden, gegen die erſtere, wenn ſie geſetzt hat, ſich keineswegs unzart und unhöflich beträgt. Jm Winter vereinigen ſich zuweilen mehr Familien und leben dann in Frieden längere Zeit mit einander. Das Reh iſt ein höchſt verträgliches Geſchöpf, wie es ſich überhaupt durch eine Menge guter Eigenſchaften auszeichnet. Die Aeßung iſt faſt dieſelbe, welche das Edelwild genießt; nur iſt das Reh leckerer und ſucht ſich mehr die zarteren Pflanzen aus. Blätter der verſchiedenſten Laubbäume, Nadelholzknospen, grünes Getreide, Kraut u. dgl. bilden wohl die Hauptbeſtandtheile der Aeßung. Salz leckt es ſehr gern und reines Waſſer iſt ihm Bedürfniß; es begnügt ſich aber bei Regen oder ſtarkem Thaufall mit den Tropfen, welche auf den Blättern liegen. Nur wenn es ſehr häufig iſt und die Güter nahe am Walde liegen, wird es ſchädlich; dann kommt es zuweilen auch wohl in die Gärten herein, deren leckere Gemüſe ihm behagen, und dabei ſetzt es kühn und geſchickt über ziemlich hohe Zäune weg. Vom Hirſch unterſcheidet es ſich dadurch, daß es die Kartoffeln nicht ausſcharrt und in den Feldern nicht ſoviel Getreide durch Niederthun umlegt; dagegen verbeißt es in Forſten und Gärten die jungen Bäume oft in recht ſchlimmer Weiſe. Merkwürdiger Weiſe iſt erſt in der allerneueſten Zeit die Fortpflanzungsgeſchichte des Rehes feſt- geſtellt worden. Lange Jahre hat man ſich hin und her geſtritten, wann eigentlich die Brunſtzeit des Rehes eintrete. Man wollte eine wahre und eine falſche Brunſt unterſcheiden, erſtere als in den Auguſt, letztere als in den November fallend. Dietrich aus dem Winckell hat den Beſchlag der Rehe im Auguſt beobachtet und iſt gleichwohl geneigt zu glauben, daß er ſich im November wieder- hole, iſt geneigt, Dies anzunehmen, trotzdem er weiß, daß um dieſe Zeit die Rehböcke längſt abge- worfen haben. „Alles Mögliche,‟ ſagt Blaſius, „iſt gegen die Novemberbrunſt geltend gemacht worden: die wirklich bekannte Begattung im Auguſt, die Feiſtzeit vor dem regelmäßigen Zuſtande der Böcke, das Abwerfen der Geweihe im Oktober und die Neubildung derſelben während der angeb- lichen Novemberbrunſt, das Beſchlagen im Auguſt und das ſpäter ſich Vereinzeln der Ricke, wobei ſie im Mai geſetzt: — aber Alles vergebens! Ein harmloſes Necken und Jagen in dieſen Wintermonaten ſollte alle Gegengründe aufwiegen! Man muß wenig Sinn für die Deutung von Thatſachen ver- rathen, wenn man nach der Haltung der Rehe in der ſogenannten Blattzeit noch an der wirklichen Brunſt zweifeln will. Die Böcke führen zuweilen in dieſer Zeit Kämpfe mit einander auf Tod und Leben und verflechten durch heftiges Schlagen hin und wieder ihre Gehörne unentwirrbar mit einan- der. Jn heftigem Kampfe ſtellen ſie ſich auf die Hinterbeine und rennen mit den Köpfen gegen ein- ander, wie die Ziegen, oder nehmen Anlauf, um einander zu durchbohren, während ſie zu jeder anderen Zeit ſich friedlich unter einander vertragen.‟ Kurz, die Rehe beweiſen in jeder Hinſicht, daß die Brunſtzeit in den Auguſt fällt. Die guten Beobachter haben wohl auch ſchwerlich daran ge- zweifelt und es iſt wirklich unbegreiflich, daß Jäger ſo feſt an einer märchenhaften Deutung dieſes Lebenshergangs hängen konnten. Die Sache verhält ſich folgendermaßen: Von der Brunſtzeit an bis zum November geht die Entwickelung des befruchteten Eichens außerordentlich langſam vorwärts und erſt vom November an in einer, wenn man ſo ſagen darf, regelmäßigeren, raſcheren Weiſe. Die Jäger nun, welche die Sache ernſt meinten, unterſuchten hochbeſchlagene Ricken zwiſchen den Monaten Auguſt und Novem- ber und fanden keine Anzeichen von der Trächtigkeit, weil ſie das kleine, noch in einem gebundenen Leben verharrende Ei überſahen. Nun haben aber der große Jägermeiſter von Veltheim, Dr. Pockels, Dr. Ziegler und der für die Entwickelungslehre unermüdlich thätige Biſchoff die Brehm, Thierleben. II. 31

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865, S. 481. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865/507>, abgerufen am 23.11.2024.