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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865.

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Allgemeines.
Rinderherden ebenfalls unglaublich groß sind. Alle Reisenden, welche die Spitze des Räthseldreiecks
durchwanderten, sprechen von Tausenden dieser Thiere, welche sie gesehen haben, erzählen, daß bei
einem einzigen Kriege manchmal ganz unglaubliche Mengen von den Siegern weggetrieben werden.

Jn Südrußland, in der Tartarei und wahrscheinlich auch in einem großen Theile des inneren
Asien müssen ebenfalls bedeutende Rinderherden gehalten werden. Die ganze südrussische Steppe ist
überall mit Pferde-, Schaf- und Rindviehherden bedeckt. Jm Sommer leben diese Tag für Tag im
Freien; im harten langen Winter finden sie hinter einem Erdwall einigen Schutz gegen die Stürme.
Wenn dieser Erdwall an der einen Seite ein elendes Stück Dach hat, gilt er als vorzüglicher Stall.

Unter den genannten Thieren stehen die Rinder der Zahl nach obenan und haben auch in vieler
Hinsicht große Vorzüge vor jenen. Sie lassen sich eher und sicherer in Geld umsetzen und ver-
unglücken auch nicht so leicht während der Schafen und Pferden so gefährlichen Schneestürme, weil
sie die Besinnung nicht verlieren, sondern, falls die Stürme nicht gar zu arg sind, geraden Weges
nach Hause eilen. Von diesem Vieh wandern das ganze Jahr hindurch große Züge nach Galizien und
weiter nach Wien und Prag, über Moskau nach Petersburg oder nach Polen und den preußischen
Ostseeprovinzen oder südlich nach Odessa.

Jn den meisten Gegenden sind die Herden sich gänzlich selbst überlassen und werden nur insofern
von den Hirten bewacht, als diese sich bemühen, sie einigermaßen zusammenzuhalten und die Stier-
kälber, wenn sie halb herangewachsen sind, von den Müttern zu trennen. Die Rinder selbst sind
unglaublich ausdauernd, fast unempfindlich gegen die Witterung und auch bei schlechter Nahrung
noch sehr genügsam. Bei den Kirgisen und Kalmücken, von denen sie auch zum Lasttragen verwen-
det werden, führen sie ein echtes Wanderleben. Jm Sommer gibt die Steppe überall reiche Weide,
im Winter wählt man sich Gegenden aus, welche reich an Schilf sind, mit dessen dürr gewordenen
Blättern die Rinder sich begnügen müssen.

Jn den südrussischen Steppen treibt man das Rindvieh, nachdem es am Morgen getränkt
wurde, in die Einöde hinaus; gegen Abend kommt die Herde von selbst zurück, und die Mütter ver-
einigen sich jetzt mit den Kälbern, welche am Morgen von ihnen getrennt wurden. Die Milchkühe
und Kälber werden im Winter zu Haus gefüttert, die Ochsen nur dann, wenn viel Schnee liegt
Gewöhnlich sind die jungen, frei auf der Steppe aufgewachsenen Ochsen unbändig wild, wider-
spenstig und dabei faul. Man muß ihrer acht bis zehn an einen einzigen Pflug spannen, wenn man
wirklich Etwas leisten will.

Um sie an das Joch zu gewöhnen, treibt man ein Paar in einen Hof, wirft ihnen eine
Schlinge um die Hörner und zieht sie mit dieser ganz nahe an einen Pfahl, wo man ihnen dann das
Joch auf den Nacken legt. Sobald dasselbe gehörig befestigt ist, treibt man sie wieder zur großen
Herde auf die Steppe und läßt sie weiden. Alles Streben, sich des Joches zu entledigen, hilft
ihnen Nichts; sie gewöhnen sich endlich daran und werden, wie Schlatter versichert, schließlich so
anhänglich an einander, daß sie, auch wenn sie frei vom Joche sind und unter den anderen weiden,
sich immer zusammenhalten und einander in allen Nöthen beistehen.

Die Eingewöhnung dieser Thiere zum Ziehen hat ebenfalls ihr Eigenthümliches. Einige Tage,
nachdem man die jungen, kräftigen Stiere unter das Joch legte, fängt man sie wieder ein und
spannt sie vor einen Wagen. Ein Tartar besteigt den Bock, nimmt eine gewaltige Hetzpeitsche zur
Hand und jagt nun mit seinem Gespann in die Steppe hinaus, so schnell, als die Thiere laufen
wollen. Er läßt ihnen die vollste Freiheit und erlaubt ihnen, dahin zu laufen, wohin sie wollen.
Nach einigen Stunden wüthenden Dahinjagens nehmen die gedemüthigten Stiere Knechtssinn an, und
nunmehr lassen sie sich ohne sonderliche Beschwerde lenken.

Jn Ungarn verfuhr man früher in ganz ähnlicher Weise mit den dort gezüchteten Rindern.
Noch heute müssen sie sich selbst ernähren und genießen weder Schutz noch Pflege. Manche sind so
wild, daß sie keinem Menschen gestatten, sich ihnen zu nähern. Die Kälber säugen solange, als sie
Bedürfniß dazu fühlen, und die Hirten denken gewöhnlich erst im zweiten Jahre ihres Lebens daran,

Brehm, Thierleben. II. 43

Allgemeines.
Rinderherden ebenfalls unglaublich groß ſind. Alle Reiſenden, welche die Spitze des Räthſeldreiecks
durchwanderten, ſprechen von Tauſenden dieſer Thiere, welche ſie geſehen haben, erzählen, daß bei
einem einzigen Kriege manchmal ganz unglaubliche Mengen von den Siegern weggetrieben werden.

Jn Südrußland, in der Tartarei und wahrſcheinlich auch in einem großen Theile des inneren
Aſien müſſen ebenfalls bedeutende Rinderherden gehalten werden. Die ganze ſüdruſſiſche Steppe iſt
überall mit Pferde-, Schaf- und Rindviehherden bedeckt. Jm Sommer leben dieſe Tag für Tag im
Freien; im harten langen Winter finden ſie hinter einem Erdwall einigen Schutz gegen die Stürme.
Wenn dieſer Erdwall an der einen Seite ein elendes Stück Dach hat, gilt er als vorzüglicher Stall.

Unter den genannten Thieren ſtehen die Rinder der Zahl nach obenan und haben auch in vieler
Hinſicht große Vorzüge vor jenen. Sie laſſen ſich eher und ſicherer in Geld umſetzen und ver-
unglücken auch nicht ſo leicht während der Schafen und Pferden ſo gefährlichen Schneeſtürme, weil
ſie die Beſinnung nicht verlieren, ſondern, falls die Stürme nicht gar zu arg ſind, geraden Weges
nach Hauſe eilen. Von dieſem Vieh wandern das ganze Jahr hindurch große Züge nach Galizien und
weiter nach Wien und Prag, über Moskau nach Petersburg oder nach Polen und den preußiſchen
Oſtſeeprovinzen oder ſüdlich nach Odeſſa.

Jn den meiſten Gegenden ſind die Herden ſich gänzlich ſelbſt überlaſſen und werden nur inſofern
von den Hirten bewacht, als dieſe ſich bemühen, ſie einigermaßen zuſammenzuhalten und die Stier-
kälber, wenn ſie halb herangewachſen ſind, von den Müttern zu trennen. Die Rinder ſelbſt ſind
unglaublich ausdauernd, faſt unempfindlich gegen die Witterung und auch bei ſchlechter Nahrung
noch ſehr genügſam. Bei den Kirgiſen und Kalmücken, von denen ſie auch zum Laſttragen verwen-
det werden, führen ſie ein echtes Wanderleben. Jm Sommer gibt die Steppe überall reiche Weide,
im Winter wählt man ſich Gegenden aus, welche reich an Schilf ſind, mit deſſen dürr gewordenen
Blättern die Rinder ſich begnügen müſſen.

Jn den ſüdruſſiſchen Steppen treibt man das Rindvieh, nachdem es am Morgen getränkt
wurde, in die Einöde hinaus; gegen Abend kommt die Herde von ſelbſt zurück, und die Mütter ver-
einigen ſich jetzt mit den Kälbern, welche am Morgen von ihnen getrennt wurden. Die Milchkühe
und Kälber werden im Winter zu Haus gefüttert, die Ochſen nur dann, wenn viel Schnee liegt
Gewöhnlich ſind die jungen, frei auf der Steppe aufgewachſenen Ochſen unbändig wild, wider-
ſpenſtig und dabei faul. Man muß ihrer acht bis zehn an einen einzigen Pflug ſpannen, wenn man
wirklich Etwas leiſten will.

Um ſie an das Joch zu gewöhnen, treibt man ein Paar in einen Hof, wirft ihnen eine
Schlinge um die Hörner und zieht ſie mit dieſer ganz nahe an einen Pfahl, wo man ihnen dann das
Joch auf den Nacken legt. Sobald daſſelbe gehörig befeſtigt iſt, treibt man ſie wieder zur großen
Herde auf die Steppe und läßt ſie weiden. Alles Streben, ſich des Joches zu entledigen, hilft
ihnen Nichts; ſie gewöhnen ſich endlich daran und werden, wie Schlatter verſichert, ſchließlich ſo
anhänglich an einander, daß ſie, auch wenn ſie frei vom Joche ſind und unter den anderen weiden,
ſich immer zuſammenhalten und einander in allen Nöthen beiſtehen.

Die Eingewöhnung dieſer Thiere zum Ziehen hat ebenfalls ihr Eigenthümliches. Einige Tage,
nachdem man die jungen, kräftigen Stiere unter das Joch legte, fängt man ſie wieder ein und
ſpannt ſie vor einen Wagen. Ein Tartar beſteigt den Bock, nimmt eine gewaltige Hetzpeitſche zur
Hand und jagt nun mit ſeinem Geſpann in die Steppe hinaus, ſo ſchnell, als die Thiere laufen
wollen. Er läßt ihnen die vollſte Freiheit und erlaubt ihnen, dahin zu laufen, wohin ſie wollen.
Nach einigen Stunden wüthenden Dahinjagens nehmen die gedemüthigten Stiere Knechtsſinn an, und
nunmehr laſſen ſie ſich ohne ſonderliche Beſchwerde lenken.

Jn Ungarn verfuhr man früher in ganz ähnlicher Weiſe mit den dort gezüchteten Rindern.
Noch heute müſſen ſie ſich ſelbſt ernähren und genießen weder Schutz noch Pflege. Manche ſind ſo
wild, daß ſie keinem Menſchen geſtatten, ſich ihnen zu nähern. Die Kälber ſäugen ſolange, als ſie
Bedürfniß dazu fühlen, und die Hirten denken gewöhnlich erſt im zweiten Jahre ihres Lebens daran,

Brehm, Thierleben. II. 43
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[673/0707] Allgemeines. Rinderherden ebenfalls unglaublich groß ſind. Alle Reiſenden, welche die Spitze des Räthſeldreiecks durchwanderten, ſprechen von Tauſenden dieſer Thiere, welche ſie geſehen haben, erzählen, daß bei einem einzigen Kriege manchmal ganz unglaubliche Mengen von den Siegern weggetrieben werden. Jn Südrußland, in der Tartarei und wahrſcheinlich auch in einem großen Theile des inneren Aſien müſſen ebenfalls bedeutende Rinderherden gehalten werden. Die ganze ſüdruſſiſche Steppe iſt überall mit Pferde-, Schaf- und Rindviehherden bedeckt. Jm Sommer leben dieſe Tag für Tag im Freien; im harten langen Winter finden ſie hinter einem Erdwall einigen Schutz gegen die Stürme. Wenn dieſer Erdwall an der einen Seite ein elendes Stück Dach hat, gilt er als vorzüglicher Stall. Unter den genannten Thieren ſtehen die Rinder der Zahl nach obenan und haben auch in vieler Hinſicht große Vorzüge vor jenen. Sie laſſen ſich eher und ſicherer in Geld umſetzen und ver- unglücken auch nicht ſo leicht während der Schafen und Pferden ſo gefährlichen Schneeſtürme, weil ſie die Beſinnung nicht verlieren, ſondern, falls die Stürme nicht gar zu arg ſind, geraden Weges nach Hauſe eilen. Von dieſem Vieh wandern das ganze Jahr hindurch große Züge nach Galizien und weiter nach Wien und Prag, über Moskau nach Petersburg oder nach Polen und den preußiſchen Oſtſeeprovinzen oder ſüdlich nach Odeſſa. Jn den meiſten Gegenden ſind die Herden ſich gänzlich ſelbſt überlaſſen und werden nur inſofern von den Hirten bewacht, als dieſe ſich bemühen, ſie einigermaßen zuſammenzuhalten und die Stier- kälber, wenn ſie halb herangewachſen ſind, von den Müttern zu trennen. Die Rinder ſelbſt ſind unglaublich ausdauernd, faſt unempfindlich gegen die Witterung und auch bei ſchlechter Nahrung noch ſehr genügſam. Bei den Kirgiſen und Kalmücken, von denen ſie auch zum Laſttragen verwen- det werden, führen ſie ein echtes Wanderleben. Jm Sommer gibt die Steppe überall reiche Weide, im Winter wählt man ſich Gegenden aus, welche reich an Schilf ſind, mit deſſen dürr gewordenen Blättern die Rinder ſich begnügen müſſen. Jn den ſüdruſſiſchen Steppen treibt man das Rindvieh, nachdem es am Morgen getränkt wurde, in die Einöde hinaus; gegen Abend kommt die Herde von ſelbſt zurück, und die Mütter ver- einigen ſich jetzt mit den Kälbern, welche am Morgen von ihnen getrennt wurden. Die Milchkühe und Kälber werden im Winter zu Haus gefüttert, die Ochſen nur dann, wenn viel Schnee liegt Gewöhnlich ſind die jungen, frei auf der Steppe aufgewachſenen Ochſen unbändig wild, wider- ſpenſtig und dabei faul. Man muß ihrer acht bis zehn an einen einzigen Pflug ſpannen, wenn man wirklich Etwas leiſten will. Um ſie an das Joch zu gewöhnen, treibt man ein Paar in einen Hof, wirft ihnen eine Schlinge um die Hörner und zieht ſie mit dieſer ganz nahe an einen Pfahl, wo man ihnen dann das Joch auf den Nacken legt. Sobald daſſelbe gehörig befeſtigt iſt, treibt man ſie wieder zur großen Herde auf die Steppe und läßt ſie weiden. Alles Streben, ſich des Joches zu entledigen, hilft ihnen Nichts; ſie gewöhnen ſich endlich daran und werden, wie Schlatter verſichert, ſchließlich ſo anhänglich an einander, daß ſie, auch wenn ſie frei vom Joche ſind und unter den anderen weiden, ſich immer zuſammenhalten und einander in allen Nöthen beiſtehen. Die Eingewöhnung dieſer Thiere zum Ziehen hat ebenfalls ihr Eigenthümliches. Einige Tage, nachdem man die jungen, kräftigen Stiere unter das Joch legte, fängt man ſie wieder ein und ſpannt ſie vor einen Wagen. Ein Tartar beſteigt den Bock, nimmt eine gewaltige Hetzpeitſche zur Hand und jagt nun mit ſeinem Geſpann in die Steppe hinaus, ſo ſchnell, als die Thiere laufen wollen. Er läßt ihnen die vollſte Freiheit und erlaubt ihnen, dahin zu laufen, wohin ſie wollen. Nach einigen Stunden wüthenden Dahinjagens nehmen die gedemüthigten Stiere Knechtsſinn an, und nunmehr laſſen ſie ſich ohne ſonderliche Beſchwerde lenken. Jn Ungarn verfuhr man früher in ganz ähnlicher Weiſe mit den dort gezüchteten Rindern. Noch heute müſſen ſie ſich ſelbſt ernähren und genießen weder Schutz noch Pflege. Manche ſind ſo wild, daß ſie keinem Menſchen geſtatten, ſich ihnen zu nähern. Die Kälber ſäugen ſolange, als ſie Bedürfniß dazu fühlen, und die Hirten denken gewöhnlich erſt im zweiten Jahre ihres Lebens daran, Brehm, Thierleben. II. 43

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865, S. 673. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865/707>, abgerufen am 23.11.2024.