stehen. Es besteht aus trockenen Baumzweigen, zwischen denen einige Blätter und die Rinde der wilden Rebe eingewebt sind; innen ist es mit zarten Würzelchen und Roßhaaren ausgekleidet. Vier Eier bilden das Gelege. Beide Geschlechter brüten, wie es scheint, nur ein Mal im Jahre. Die Jungen brauchen drei Jahre, bevor sie die volle Pracht ihres Gefieders erhalten. Sie werden, so lange sie klein sind, mit Kerbthieren gefüttert; später erhalten sie Sämereien, welche die Eltern vorher in ihrem Kropf aufgeweicht hatten.
Die wenigen Vogelliebhaber, welche bisjetzt über das Gefangenleben des rosenbrüstigen Kern- beißers berichten, sind einstimmig in dessen Lobe. Er gilt für einen der besten und unermüdlichsten Sänger. Sein Gesang ist reich an Weisen, und höchst wohllautend. Die einzelnen Töne sind voll und klar. Bei guter Witterung singt er während der Nacht, wie Nuttall sagt: "mit all den ver- schiedenen, ergreifenden Tönen der Nachtigall, und es scheint, daß er, wenn er sich dem Gesange mit Eifer hingibt, vor Entzücken über denselben in die höchste Aufregung versetzt wird. Die Töne sind schmetternd, jetzt laut, klar und voll, dann klagend und hierauf wieder lebhaft und endlich zart, süß und gehalten. Kurz, ich glaube, daß nicht ein einziger unserer Vögel, mit alleiniger Ausnahme des Spottvogels, im Gesang ihn übertrifft".
Ueber das Betragen in der Gefangenschaft hat Bachmann seinem Freunde Audubon berich- tet. "Eines Frühlings", so schreibt er, "schoß ich ein prachtvolles Männchen des rosenbrüstigen Kernbeißers vom Baum herab. Es war nur an einem Fuße verwundet, siel aber doch vom Baum herab auf den Grund, und ehe es wieder zu sich selbst gekommen war, hatte ich es ergriffen. Da mir kein Gebauer zur Hand war, ließ ich es in dem Raume fliegen, welchen ich zu meinem Studirzimmer erwählt hatte. Ehe noch eine Stunde verstrichen war, schien der Gefangene Lust zum Fressen zu zei- gen. Korn und Weizen wurde verschmäht, Milchbrod dagegen mit Begierde genommen. Am näch- sten Tage zeigte er sich schon sehr zahm, sein inzwischen geschwollener Fuß schmerzte ihn aber, und er nahm deshalb eine genaue Untersuchung vor. Er fing an, in die wunde Stelle zu beißen und been- dete seine Untersuchung damit, daß er den ganzen Fuß wegbiß. Der Stummel heilte in wenig Tagen, und der Vogel gebrauchte ihn später ebenso gut, wie den gesunden Fuß. Später brachte ich meinen Kernbeißer in einen Bauer, in welchem er sich augenblicklich eingewöhnte. Er fraß das verschiedenste Futter, zog aber Welschkorn und Hauf dem übrigen vor. Auf Kerbthiere war er erpicht, Heuschrecken und Grillen fraß er mit Begierde. Zuweilen saß er stundenlang auf der Lauer nach Fliegen, und oft schnappte er Wespen weg, welche von den in seinen Käfig gelegten Früchten naschen wollten. Jn den Mondscheinnächten sang er zuweilen prachtvoll, selten aber laut. Dabei hielt er sich bewegungs- los in derselben Stellung, während er am Tage beim Singen mit den Flügeln zu schlagen pflegte."
"Er war mein liebenswürdigster und angenehmster Gesellschafter während dreier Jahre. Oft entschlüpfte er seinem Käfig, niemals aber zeigte er den leisesten Wunsch, mich zu verlassen; denn wenn er wirklich entflogen war, lehrte er mit Sonnenuntergang stets zurück. Sein Singen währte im Sommer ungefähr sechs Wochen, im Herbst etwa zwei Wochen, während des übrigen Jahres ließ er nur seinen Lockton vernehmen. Jm Winter mußte ich ihn nach dem geheizten Zimmer bringen; denn er schien von der Kälte zu leiden. Sie wurde wahrscheinlich die Ursache seines Todes."
Der auch in Europa wohlbekannte Kardinal (Cardinalis virginianus) ist der Vertreter einer zweiten Sippe unserer Familie. Ein etwas gestreckter Leib, kurze Flügel, ein langer, in der Mitte ausgeschweifter Schwanz, ein kurzer, kräftiger und spitziger, an der Wurzel sehr breiter Schnabel, dessen Firste gekrümmt und dessen Oberkiefer in der Mitte stark ausgebuchtet ist, sowie endlich ein auf- richtbarer Schopf kennzeichnen diese Sippe.
Der Kardinal oder Haubenkernbeißer wird 8 Zoll 3 Linien lang und 11 Zoll Linien breit. Die Fittiglänge beträgt 3 Zoll 8 Linien, die Länge des Schwanzes 3 Zoll 11 Linien. Das
Die Knacker. Sperlingsvögel. Papageifinken.
ſtehen. Es beſteht aus trockenen Baumzweigen, zwiſchen denen einige Blätter und die Rinde der wilden Rebe eingewebt ſind; innen iſt es mit zarten Würzelchen und Roßhaaren ausgekleidet. Vier Eier bilden das Gelege. Beide Geſchlechter brüten, wie es ſcheint, nur ein Mal im Jahre. Die Jungen brauchen drei Jahre, bevor ſie die volle Pracht ihres Gefieders erhalten. Sie werden, ſo lange ſie klein ſind, mit Kerbthieren gefüttert; ſpäter erhalten ſie Sämereien, welche die Eltern vorher in ihrem Kropf aufgeweicht hatten.
Die wenigen Vogelliebhaber, welche bisjetzt über das Gefangenleben des roſenbrüſtigen Kern- beißers berichten, ſind einſtimmig in deſſen Lobe. Er gilt für einen der beſten und unermüdlichſten Sänger. Sein Geſang iſt reich an Weiſen, und höchſt wohllautend. Die einzelnen Töne ſind voll und klar. Bei guter Witterung ſingt er während der Nacht, wie Nuttall ſagt: „mit all den ver- ſchiedenen, ergreifenden Tönen der Nachtigall, und es ſcheint, daß er, wenn er ſich dem Geſange mit Eifer hingibt, vor Entzücken über denſelben in die höchſte Aufregung verſetzt wird. Die Töne ſind ſchmetternd, jetzt laut, klar und voll, dann klagend und hierauf wieder lebhaft und endlich zart, ſüß und gehalten. Kurz, ich glaube, daß nicht ein einziger unſerer Vögel, mit alleiniger Ausnahme des Spottvogels, im Geſang ihn übertrifft‟.
Ueber das Betragen in der Gefangenſchaft hat Bachmann ſeinem Freunde Audubon berich- tet. „Eines Frühlings‟, ſo ſchreibt er, „ſchoß ich ein prachtvolles Männchen des roſenbrüſtigen Kernbeißers vom Baum herab. Es war nur an einem Fuße verwundet, ſiel aber doch vom Baum herab auf den Grund, und ehe es wieder zu ſich ſelbſt gekommen war, hatte ich es ergriffen. Da mir kein Gebauer zur Hand war, ließ ich es in dem Raume fliegen, welchen ich zu meinem Studirzimmer erwählt hatte. Ehe noch eine Stunde verſtrichen war, ſchien der Gefangene Luſt zum Freſſen zu zei- gen. Korn und Weizen wurde verſchmäht, Milchbrod dagegen mit Begierde genommen. Am näch- ſten Tage zeigte er ſich ſchon ſehr zahm, ſein inzwiſchen geſchwollener Fuß ſchmerzte ihn aber, und er nahm deshalb eine genaue Unterſuchung vor. Er fing an, in die wunde Stelle zu beißen und been- dete ſeine Unterſuchung damit, daß er den ganzen Fuß wegbiß. Der Stummel heilte in wenig Tagen, und der Vogel gebrauchte ihn ſpäter ebenſo gut, wie den geſunden Fuß. Später brachte ich meinen Kernbeißer in einen Bauer, in welchem er ſich augenblicklich eingewöhnte. Er fraß das verſchiedenſte Futter, zog aber Welſchkorn und Hauf dem übrigen vor. Auf Kerbthiere war er erpicht, Heuſchrecken und Grillen fraß er mit Begierde. Zuweilen ſaß er ſtundenlang auf der Lauer nach Fliegen, und oft ſchnappte er Weſpen weg, welche von den in ſeinen Käfig gelegten Früchten naſchen wollten. Jn den Mondſcheinnächten ſang er zuweilen prachtvoll, ſelten aber laut. Dabei hielt er ſich bewegungs- los in derſelben Stellung, während er am Tage beim Singen mit den Flügeln zu ſchlagen pflegte.‟
„Er war mein liebenswürdigſter und angenehmſter Geſellſchafter während dreier Jahre. Oft entſchlüpfte er ſeinem Käfig, niemals aber zeigte er den leiſeſten Wunſch, mich zu verlaſſen; denn wenn er wirklich entflogen war, lehrte er mit Sonnenuntergang ſtets zurück. Sein Singen währte im Sommer ungefähr ſechs Wochen, im Herbſt etwa zwei Wochen, während des übrigen Jahres ließ er nur ſeinen Lockton vernehmen. Jm Winter mußte ich ihn nach dem geheizten Zimmer bringen; denn er ſchien von der Kälte zu leiden. Sie wurde wahrſcheinlich die Urſache ſeines Todes.‟
Der auch in Europa wohlbekannte Kardinal (Cardinalis virginianus) iſt der Vertreter einer zweiten Sippe unſerer Familie. Ein etwas geſtreckter Leib, kurze Flügel, ein langer, in der Mitte ausgeſchweifter Schwanz, ein kurzer, kräftiger und ſpitziger, an der Wurzel ſehr breiter Schnabel, deſſen Firſte gekrümmt und deſſen Oberkiefer in der Mitte ſtark ausgebuchtet iſt, ſowie endlich ein auf- richtbarer Schopf kennzeichnen dieſe Sippe.
Der Kardinal oder Haubenkernbeißer wird 8 Zoll 3 Linien lang und 11 Zoll Linien breit. Die Fittiglänge beträgt 3 Zoll 8 Linien, die Länge des Schwanzes 3 Zoll 11 Linien. Das
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wilden Rebe eingewebt ſind; innen iſt es mit zarten Würzelchen und Roßhaaren ausgekleidet. Vier
Eier bilden das Gelege. Beide Geſchlechter brüten, wie es ſcheint, nur ein Mal im Jahre. Die
Jungen brauchen drei Jahre, bevor ſie die volle Pracht ihres Gefieders erhalten. Sie werden, ſo
lange ſie klein ſind, mit Kerbthieren gefüttert; ſpäter erhalten ſie Sämereien, welche die Eltern vorher
in ihrem Kropf aufgeweicht hatten.
Die wenigen Vogelliebhaber, welche bisjetzt über das Gefangenleben des roſenbrüſtigen Kern-
beißers berichten, ſind einſtimmig in deſſen Lobe. Er gilt für einen der beſten und unermüdlichſten
Sänger. Sein Geſang iſt reich an Weiſen, und höchſt wohllautend. Die einzelnen Töne ſind voll
und klar. Bei guter Witterung ſingt er während der Nacht, wie Nuttall ſagt: „mit all den ver-
ſchiedenen, ergreifenden Tönen der Nachtigall, und es ſcheint, daß er, wenn er ſich dem Geſange
mit Eifer hingibt, vor Entzücken über denſelben in die höchſte Aufregung verſetzt wird. Die Töne ſind
ſchmetternd, jetzt laut, klar und voll, dann klagend und hierauf wieder lebhaft und endlich zart, ſüß
und gehalten. Kurz, ich glaube, daß nicht ein einziger unſerer Vögel, mit alleiniger Ausnahme des
Spottvogels, im Geſang ihn übertrifft‟.
Ueber das Betragen in der Gefangenſchaft hat Bachmann ſeinem Freunde Audubon berich-
tet. „Eines Frühlings‟, ſo ſchreibt er, „ſchoß ich ein prachtvolles Männchen des roſenbrüſtigen
Kernbeißers vom Baum herab. Es war nur an einem Fuße verwundet, ſiel aber doch vom Baum
herab auf den Grund, und ehe es wieder zu ſich ſelbſt gekommen war, hatte ich es ergriffen. Da mir
kein Gebauer zur Hand war, ließ ich es in dem Raume fliegen, welchen ich zu meinem Studirzimmer
erwählt hatte. Ehe noch eine Stunde verſtrichen war, ſchien der Gefangene Luſt zum Freſſen zu zei-
gen. Korn und Weizen wurde verſchmäht, Milchbrod dagegen mit Begierde genommen. Am näch-
ſten Tage zeigte er ſich ſchon ſehr zahm, ſein inzwiſchen geſchwollener Fuß ſchmerzte ihn aber, und er
nahm deshalb eine genaue Unterſuchung vor. Er fing an, in die wunde Stelle zu beißen und been-
dete ſeine Unterſuchung damit, daß er den ganzen Fuß wegbiß. Der Stummel heilte in wenig Tagen,
und der Vogel gebrauchte ihn ſpäter ebenſo gut, wie den geſunden Fuß. Später brachte ich meinen
Kernbeißer in einen Bauer, in welchem er ſich augenblicklich eingewöhnte. Er fraß das verſchiedenſte
Futter, zog aber Welſchkorn und Hauf dem übrigen vor. Auf Kerbthiere war er erpicht, Heuſchrecken
und Grillen fraß er mit Begierde. Zuweilen ſaß er ſtundenlang auf der Lauer nach Fliegen, und
oft ſchnappte er Weſpen weg, welche von den in ſeinen Käfig gelegten Früchten naſchen wollten. Jn
den Mondſcheinnächten ſang er zuweilen prachtvoll, ſelten aber laut. Dabei hielt er ſich bewegungs-
los in derſelben Stellung, während er am Tage beim Singen mit den Flügeln zu ſchlagen pflegte.‟
„Er war mein liebenswürdigſter und angenehmſter Geſellſchafter während dreier Jahre. Oft
entſchlüpfte er ſeinem Käfig, niemals aber zeigte er den leiſeſten Wunſch, mich zu verlaſſen; denn
wenn er wirklich entflogen war, lehrte er mit Sonnenuntergang ſtets zurück. Sein Singen währte
im Sommer ungefähr ſechs Wochen, im Herbſt etwa zwei Wochen, während des übrigen Jahres ließ
er nur ſeinen Lockton vernehmen. Jm Winter mußte ich ihn nach dem geheizten Zimmer bringen;
denn er ſchien von der Kälte zu leiden. Sie wurde wahrſcheinlich die Urſache ſeines Todes.‟
Der auch in Europa wohlbekannte Kardinal (Cardinalis virginianus) iſt der Vertreter einer
zweiten Sippe unſerer Familie. Ein etwas geſtreckter Leib, kurze Flügel, ein langer, in der Mitte
ausgeſchweifter Schwanz, ein kurzer, kräftiger und ſpitziger, an der Wurzel ſehr breiter Schnabel,
deſſen Firſte gekrümmt und deſſen Oberkiefer in der Mitte ſtark ausgebuchtet iſt, ſowie endlich ein auf-
richtbarer Schopf kennzeichnen dieſe Sippe.
Der Kardinal oder Haubenkernbeißer wird 8 Zoll 3 Linien lang und 11 Zoll Linien
breit. Die Fittiglänge beträgt 3 Zoll 8 Linien, die Länge des Schwanzes 3 Zoll 11 Linien. Das
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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 3. Hildburghausen, 1866, S. 180. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben03_1866/200>, abgerufen am 21.11.2024.
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