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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 3. Hildburghausen, 1866.

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Die Fänger. Raubvögel. Geier.
Mit seinen Familienverwandten theilt er eine große Liebe zur Geselligkeit. Einzeln sieht man ihn
höchst selten, paarweise schon öfter, am häufigsten aber in größeren oder kleineren Gesellschaften. Er
vereinigt sich, weil sein Handwerk es mit sich bringt, mit andern Geiern, aber doch immer nur auf
kurze Zeit. Sobald die gemeinsame Tafel aufgehoben ist, bekümmert er sich um seine Verwandten
gar nicht mehr. Jm Bewußtsein seiner Schwäche ist er friedlich und verträglich, wenn auch nicht ganz
so, wie der alte Geßner sagt, welcher behauptet, daß er "gantz forchtsam vnd verzagt" sei, "also daß
er von den Rappen vnd anderen dergleichen Vögeln geschlagen, gejagt vnd gefangen wirt, dieweil er
schwer vnd faul zu der Arbeit ist". Jn Südegypten vnd Südnubien bemerkt man zahlreiche Flüge
von ihm, welche sich stundenlang durch prächtige Flugübungen vergnügen, gemeinschaftlich ihre Schlaf-
plätze aussuchend und auf Nahrung ausgehend, ohne daß man jemals einen Zank und Streit unter
ihnen wahrnehmen könne. Jn Gesellschaft der großen Geier freilich benehmen sich die Schmuzgeier
sehr bescheiden; sie sitzen entsagend zur Seite und schauen anscheinend ängstlich deren Treiben zu, weil
sie wohl wissen, daß jede thätige Mitwirkung ihrerseits durch kräftige Schnabelhiebe von jenen
gestrengen Herren zurückgewiesen werden würde.

Der Schmuzgeier ist kein Kostverächter. Er verzehrt Alles, was genießbar ist. Man nimmt
gewöhnlich, aber mit Unrecht, an, daß Aas auch für ihn die Hauptspeise sei: der Schmuzgeier ist weit
genügsamer. Allerdings erscheint er auf jedem Aase und zwar regelmäßig zuerst, weil er sehr häufig
ist und ein gestorbenes Thier früher erspäht, als andere seines Gelichters; allerdings versucht er
dort, soweit seine schwachen Kräfte es erlauben, sich zu nähern, pickt die Augen heraus, öffnet sich am
After eine Höhle und bemüht sich, die Eingeweide herauszuzerren oder wartet, bis die großen Geier
sich gesättigt haben, und nagt dann die Knochen ab, welche sie übrig ließen: aber ein derartiger
Schmauß gehört doch zu seinen Festgerichten. Gar selten nur lassen ihm die großen Herren Etwas
vom Aase übrig. Zum Glück für ihn weiß er sich anders zu behelfen. Jn ganz Afrika, ja auch in
Südspanien schon bildet Menschenkoth seine hauptsächlichste Nahrung. Abtritte, wie sie bei uns
gebräuchlich sind, gibt es schon in Südspanien nur in wenigen Häusern, in Egypten blos in denen
der wohlhabenden Türken und Araber. Die ganze übrige Bevölkerung ist gezwungen, zur
Befriedigung ihrer Bedürfnisse gewisse Plätze aufzusuchen, welche für Wiedehopfe und Schmuz-
geier
gleich ergiebig werden. Hier nun findet sich der letztere ein, ungescheut um das Treiben der
Menschen, welche in seinen baldmöglichst beginnenden Arbeiten zwar etwas überaus Verächtliches, in
dem Vogel selbst aber doch einen Wohlthäter sehen. Daß es in Jndien nicht anders ist, haben wir
durch Jerdon erfahren. Jn der Nähe größerer Ortschaften Afrikas ist er ein regelmäßiger Gast bei
den Schlachtplätzen, welche außerhalb der Städte zu liegen pflegen. Hier sitzt er dicht neben dem
Schlachter und lauert auf Fleisch und Hautfetzen oder auf die Eingeweide mitsammt deren Jnhalt,
welche sein Brodgeber ihm zuwirft. Jm Nothfall klaubt er die blutgetränkte Erde auf. Daß dabei
zuweilen auch ein Gegenstand mit unterläuft, welcher eigentlich nicht genießbar ist, ein alter, mit Blut
getränkter Lappen z. B. oder etwas Aehnliches, ist gewiß begründet.

Es hat uns stets Vergnügen gewährt, den Schmuzgeier bei seinen Mahlzeiten zu beobachten.
Er benimmt sich dabei weit weniger gierig, als seine großen Verwandten und weiß sich auch auf den
schmuzigsten Stellen, welche er zu besuchen gezwungen wird, verhältnißmäßig rein zu halten.
Besonders anziehend auf den europäischen Beobachter ist es, wie richtig er den Menschen beurtheilt,
wie genau er ihn kennt. Eines gewissen Schutzes oder, richtiger gesagt, einer gleichgiltigen Duldung
gewiß, treibt er sich unmittelbar vor den Hausthüren herum und geht seiner Nahrung mit derselben
Ruhe nach wie Hausgeflügel oder mindestens wie eine unserer Krähenarten. Jch habe beobachtet,
daß er sich, wenn wir im Zelte Vögel abbälgten, bis zu den Zeltpflöcken heranschlich, uns aufmerksam
zusah und unter unsern Augen die Fleischstücken auffraß oder die Knochen benagte, welche wir ihm
zuwarfen. Bei meinen Wüstenreisen habe ich ihn wirklich lieb gewonnen. Er ist es, welcher der
Karavane tagelang das Geleite gibt; er ist nebst den Wüstenraben der erste Vogel, welcher sich am
Lagerplatze einfindet und der letzte des Reisezuges (denn zu ihm gehört der Schmuzgeier), welcher ihn

Die Fänger. Raubvögel. Geier.
Mit ſeinen Familienverwandten theilt er eine große Liebe zur Geſelligkeit. Einzeln ſieht man ihn
höchſt ſelten, paarweiſe ſchon öfter, am häufigſten aber in größeren oder kleineren Geſellſchaften. Er
vereinigt ſich, weil ſein Handwerk es mit ſich bringt, mit andern Geiern, aber doch immer nur auf
kurze Zeit. Sobald die gemeinſame Tafel aufgehoben iſt, bekümmert er ſich um ſeine Verwandten
gar nicht mehr. Jm Bewußtſein ſeiner Schwäche iſt er friedlich und verträglich, wenn auch nicht ganz
ſo, wie der alte Geßner ſagt, welcher behauptet, daß er „gantz forchtſam vnd verzagt‟ ſei, „alſo daß
er von den Rappen vnd anderen dergleichen Vögeln geſchlagen, gejagt vnd gefangen wirt, dieweil er
ſchwer vnd faul zu der Arbeit iſt‟. Jn Südegypten vnd Südnubien bemerkt man zahlreiche Flüge
von ihm, welche ſich ſtundenlang durch prächtige Flugübungen vergnügen, gemeinſchaftlich ihre Schlaf-
plätze ausſuchend und auf Nahrung ausgehend, ohne daß man jemals einen Zank und Streit unter
ihnen wahrnehmen könne. Jn Geſellſchaft der großen Geier freilich benehmen ſich die Schmuzgeier
ſehr beſcheiden; ſie ſitzen entſagend zur Seite und ſchauen anſcheinend ängſtlich deren Treiben zu, weil
ſie wohl wiſſen, daß jede thätige Mitwirkung ihrerſeits durch kräftige Schnabelhiebe von jenen
geſtrengen Herren zurückgewieſen werden würde.

Der Schmuzgeier iſt kein Koſtverächter. Er verzehrt Alles, was genießbar iſt. Man nimmt
gewöhnlich, aber mit Unrecht, an, daß Aas auch für ihn die Hauptſpeiſe ſei: der Schmuzgeier iſt weit
genügſamer. Allerdings erſcheint er auf jedem Aaſe und zwar regelmäßig zuerſt, weil er ſehr häufig
iſt und ein geſtorbenes Thier früher erſpäht, als andere ſeines Gelichters; allerdings verſucht er
dort, ſoweit ſeine ſchwachen Kräfte es erlauben, ſich zu nähern, pickt die Augen heraus, öffnet ſich am
After eine Höhle und bemüht ſich, die Eingeweide herauszuzerren oder wartet, bis die großen Geier
ſich geſättigt haben, und nagt dann die Knochen ab, welche ſie übrig ließen: aber ein derartiger
Schmauß gehört doch zu ſeinen Feſtgerichten. Gar ſelten nur laſſen ihm die großen Herren Etwas
vom Aaſe übrig. Zum Glück für ihn weiß er ſich anders zu behelfen. Jn ganz Afrika, ja auch in
Südſpanien ſchon bildet Menſchenkoth ſeine hauptſächlichſte Nahrung. Abtritte, wie ſie bei uns
gebräuchlich ſind, gibt es ſchon in Südſpanien nur in wenigen Häuſern, in Egypten blos in denen
der wohlhabenden Türken und Araber. Die ganze übrige Bevölkerung iſt gezwungen, zur
Befriedigung ihrer Bedürfniſſe gewiſſe Plätze aufzuſuchen, welche für Wiedehopfe und Schmuz-
geier
gleich ergiebig werden. Hier nun findet ſich der letztere ein, ungeſcheut um das Treiben der
Menſchen, welche in ſeinen baldmöglichſt beginnenden Arbeiten zwar etwas überaus Verächtliches, in
dem Vogel ſelbſt aber doch einen Wohlthäter ſehen. Daß es in Jndien nicht anders iſt, haben wir
durch Jerdon erfahren. Jn der Nähe größerer Ortſchaften Afrikas iſt er ein regelmäßiger Gaſt bei
den Schlachtplätzen, welche außerhalb der Städte zu liegen pflegen. Hier ſitzt er dicht neben dem
Schlachter und lauert auf Fleiſch und Hautfetzen oder auf die Eingeweide mitſammt deren Jnhalt,
welche ſein Brodgeber ihm zuwirft. Jm Nothfall klaubt er die blutgetränkte Erde auf. Daß dabei
zuweilen auch ein Gegenſtand mit unterläuft, welcher eigentlich nicht genießbar iſt, ein alter, mit Blut
getränkter Lappen z. B. oder etwas Aehnliches, iſt gewiß begründet.

Es hat uns ſtets Vergnügen gewährt, den Schmuzgeier bei ſeinen Mahlzeiten zu beobachten.
Er benimmt ſich dabei weit weniger gierig, als ſeine großen Verwandten und weiß ſich auch auf den
ſchmuzigſten Stellen, welche er zu beſuchen gezwungen wird, verhältnißmäßig rein zu halten.
Beſonders anziehend auf den europäiſchen Beobachter iſt es, wie richtig er den Menſchen beurtheilt,
wie genau er ihn kennt. Eines gewiſſen Schutzes oder, richtiger geſagt, einer gleichgiltigen Duldung
gewiß, treibt er ſich unmittelbar vor den Hausthüren herum und geht ſeiner Nahrung mit derſelben
Ruhe nach wie Hausgeflügel oder mindeſtens wie eine unſerer Krähenarten. Jch habe beobachtet,
daß er ſich, wenn wir im Zelte Vögel abbälgten, bis zu den Zeltpflöcken heranſchlich, uns aufmerkſam
zuſah und unter unſern Augen die Fleiſchſtücken auffraß oder die Knochen benagte, welche wir ihm
zuwarfen. Bei meinen Wüſtenreiſen habe ich ihn wirklich lieb gewonnen. Er iſt es, welcher der
Karavane tagelang das Geleite gibt; er iſt nebſt den Wüſtenraben der erſte Vogel, welcher ſich am
Lagerplatze einfindet und der letzte des Reiſezuges (denn zu ihm gehört der Schmuzgeier), welcher ihn

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[576/0610] Die Fänger. Raubvögel. Geier. Mit ſeinen Familienverwandten theilt er eine große Liebe zur Geſelligkeit. Einzeln ſieht man ihn höchſt ſelten, paarweiſe ſchon öfter, am häufigſten aber in größeren oder kleineren Geſellſchaften. Er vereinigt ſich, weil ſein Handwerk es mit ſich bringt, mit andern Geiern, aber doch immer nur auf kurze Zeit. Sobald die gemeinſame Tafel aufgehoben iſt, bekümmert er ſich um ſeine Verwandten gar nicht mehr. Jm Bewußtſein ſeiner Schwäche iſt er friedlich und verträglich, wenn auch nicht ganz ſo, wie der alte Geßner ſagt, welcher behauptet, daß er „gantz forchtſam vnd verzagt‟ ſei, „alſo daß er von den Rappen vnd anderen dergleichen Vögeln geſchlagen, gejagt vnd gefangen wirt, dieweil er ſchwer vnd faul zu der Arbeit iſt‟. Jn Südegypten vnd Südnubien bemerkt man zahlreiche Flüge von ihm, welche ſich ſtundenlang durch prächtige Flugübungen vergnügen, gemeinſchaftlich ihre Schlaf- plätze ausſuchend und auf Nahrung ausgehend, ohne daß man jemals einen Zank und Streit unter ihnen wahrnehmen könne. Jn Geſellſchaft der großen Geier freilich benehmen ſich die Schmuzgeier ſehr beſcheiden; ſie ſitzen entſagend zur Seite und ſchauen anſcheinend ängſtlich deren Treiben zu, weil ſie wohl wiſſen, daß jede thätige Mitwirkung ihrerſeits durch kräftige Schnabelhiebe von jenen geſtrengen Herren zurückgewieſen werden würde. Der Schmuzgeier iſt kein Koſtverächter. Er verzehrt Alles, was genießbar iſt. Man nimmt gewöhnlich, aber mit Unrecht, an, daß Aas auch für ihn die Hauptſpeiſe ſei: der Schmuzgeier iſt weit genügſamer. Allerdings erſcheint er auf jedem Aaſe und zwar regelmäßig zuerſt, weil er ſehr häufig iſt und ein geſtorbenes Thier früher erſpäht, als andere ſeines Gelichters; allerdings verſucht er dort, ſoweit ſeine ſchwachen Kräfte es erlauben, ſich zu nähern, pickt die Augen heraus, öffnet ſich am After eine Höhle und bemüht ſich, die Eingeweide herauszuzerren oder wartet, bis die großen Geier ſich geſättigt haben, und nagt dann die Knochen ab, welche ſie übrig ließen: aber ein derartiger Schmauß gehört doch zu ſeinen Feſtgerichten. Gar ſelten nur laſſen ihm die großen Herren Etwas vom Aaſe übrig. Zum Glück für ihn weiß er ſich anders zu behelfen. Jn ganz Afrika, ja auch in Südſpanien ſchon bildet Menſchenkoth ſeine hauptſächlichſte Nahrung. Abtritte, wie ſie bei uns gebräuchlich ſind, gibt es ſchon in Südſpanien nur in wenigen Häuſern, in Egypten blos in denen der wohlhabenden Türken und Araber. Die ganze übrige Bevölkerung iſt gezwungen, zur Befriedigung ihrer Bedürfniſſe gewiſſe Plätze aufzuſuchen, welche für Wiedehopfe und Schmuz- geier gleich ergiebig werden. Hier nun findet ſich der letztere ein, ungeſcheut um das Treiben der Menſchen, welche in ſeinen baldmöglichſt beginnenden Arbeiten zwar etwas überaus Verächtliches, in dem Vogel ſelbſt aber doch einen Wohlthäter ſehen. Daß es in Jndien nicht anders iſt, haben wir durch Jerdon erfahren. Jn der Nähe größerer Ortſchaften Afrikas iſt er ein regelmäßiger Gaſt bei den Schlachtplätzen, welche außerhalb der Städte zu liegen pflegen. Hier ſitzt er dicht neben dem Schlachter und lauert auf Fleiſch und Hautfetzen oder auf die Eingeweide mitſammt deren Jnhalt, welche ſein Brodgeber ihm zuwirft. Jm Nothfall klaubt er die blutgetränkte Erde auf. Daß dabei zuweilen auch ein Gegenſtand mit unterläuft, welcher eigentlich nicht genießbar iſt, ein alter, mit Blut getränkter Lappen z. B. oder etwas Aehnliches, iſt gewiß begründet. Es hat uns ſtets Vergnügen gewährt, den Schmuzgeier bei ſeinen Mahlzeiten zu beobachten. Er benimmt ſich dabei weit weniger gierig, als ſeine großen Verwandten und weiß ſich auch auf den ſchmuzigſten Stellen, welche er zu beſuchen gezwungen wird, verhältnißmäßig rein zu halten. Beſonders anziehend auf den europäiſchen Beobachter iſt es, wie richtig er den Menſchen beurtheilt, wie genau er ihn kennt. Eines gewiſſen Schutzes oder, richtiger geſagt, einer gleichgiltigen Duldung gewiß, treibt er ſich unmittelbar vor den Hausthüren herum und geht ſeiner Nahrung mit derſelben Ruhe nach wie Hausgeflügel oder mindeſtens wie eine unſerer Krähenarten. Jch habe beobachtet, daß er ſich, wenn wir im Zelte Vögel abbälgten, bis zu den Zeltpflöcken heranſchlich, uns aufmerkſam zuſah und unter unſern Augen die Fleiſchſtücken auffraß oder die Knochen benagte, welche wir ihm zuwarfen. Bei meinen Wüſtenreiſen habe ich ihn wirklich lieb gewonnen. Er iſt es, welcher der Karavane tagelang das Geleite gibt; er iſt nebſt den Wüſtenraben der erſte Vogel, welcher ſich am Lagerplatze einfindet und der letzte des Reiſezuges (denn zu ihm gehört der Schmuzgeier), welcher ihn

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 3. Hildburghausen, 1866, S. 576. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben03_1866/610>, abgerufen am 22.11.2024.