Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 3. Hildburghausen, 1866.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Fänger. Singvögel. Grasmücken.
sagt Naumann, "sie im Freien jemals traurig gesehen zu haben; vielmehr läßt sie an den ihr nahe
wohnenden Vögeln beständig ihren Muthwillen durch Necken und Jagen aus, beißt sich auch wohl mit
ihnen herum, verfliegt sich aber dabei niemals forglos ins Freie, sondern bleibt klüglich immer dem
Gebüsch so nahe wie möglich." Dasselbe Betragen behält sie nach meinen Beobachtungen auch im
Süden oder auf ihrer Wanderung bei. Sie ist überall dieselbe -- überall gleich aufmerksam, überall
gleich mißtrauisch und überall gleich listig.

Bald nach ihrer Ankunft in Deutschland macht die Dorngrasmücke Anstalt zu ihrer Brut. Sie
baut in dichte Büsche und langes Gras, selten mehr als drei Fuß über dem Boden, oft so niedrig, daß
der Unterbau des Nestes die Erde berührt. Jn die wie gewöhnlich aus Halmen zusammengesetzten
dünnen Wände werden oft Klümpchen Schafwolle gemischt; die innere Ausfütterung wird aus den
Spitzen der Grashalmen hergestellt. Schon in der zweiten Hälfte des April enthält das Nest das
volle Gelege, vier bis sechs, in Größe, Gestalt und Färbung außerordentlich abändernde Eier, welche
auf elfenbeinweißem, gelben, grauen oder grünlichgelbgrauen, auch wohl grünlichweißen und bläulich-
weißen Grunde deutlicher oder undeutlicher mit aschgrauen, schieferfarbigen, ölbraunen, gelbgrünen etc.
Punkten und Flecken gewässert, marmorirt, gepunktet und sonstwie gezeichnet sind. Die Eltern
betragen sich beim Neste, wie andere Grasmücken auch. Die zweite Brut folgt unmittelbar auf
die erste.

Jm Käfig wird die Dorngrasmücke seltener gehalten, als ihre Verwandten. Jhr Gesang gefällt
eben nicht jedem Liebhaber; ihre Wartung jedoch verlangt die größte Sorgfalt; namentlich hält es
schwer, sie rein zu halten, denn auch sie wird vom Ungeziefer überaus geplagt.

Außer dem Meistersänger leben im Süden Europas noch andere Grasmücken, welche ebenfalls
der ersten Gruppe oder Sippe zugezählt werden müssen. Jch will auch sie kurz besprechen.

"Weiter nach Mittag hin", sagt Gloger, "wird, häufiger als bei uns, das Weißliche im Schwanz
(der Dorngrasmücke) um ein Bedeutendes heller. Die Farben des Oberleibes werden durch starkes Ab-
reiben der Federränder und durch den Einfluß von Luft, Sonnenlicht und Wärme reiner, zum Theil leb-
hafter. Dann erscheint der Kopf sehr dunkelaschgrau, an der Stirn mit schwärzlichen, vertuschten
Schaftflecken, der Zügel noch dunkler als gewöhnlich, bis zum tiefen Schwarzgrau, der Unterleib
röther. So hat man sie (die Dornsgrasmücke) öfters in Sardinien und, diesen ähnlich, die Mehr-
zahl der dalmatinischen; gesunde alte Männchen sind aber auch schon in Deutschland zuweilen ganz
ebenso: Brillengrasmücke (Curruca conspieillata). Auf einen höheren Grad steigt dieselbe Ver-
änderung dort bei den noch älteren Vögeln, welchen man den Namen Sperlingsgrasmücke
(Curruca passerina), zum Theil auch die Benennung weißbärtige Grasmücke (Curruca leuco-
pogon
) beigelegt hat und welchen man das mittägliche Frankreich, Spanien, Jtalien und zugleich
Sardinien als Vaterland zuschreibt. ... Die Weibchen erleiden stets eine geringe Veränderung und
sind unten mehr iris- oder röthlichgelb als roth."

Diese, wie gewöhnlich in möglichst schlechtem Deutsch vorgebrachte Auslassung Gloger's will
sagen, daß eine überaus zierliche Grasmücke Südeuropas, eben die Brillengrasmücke, nichts
Anderes sei, als eine sogenannte klimatische Spielart unserer Dorngrasmücke.

Man könnte Gloger's Behauptung für einen Scherz halten, wenn sie nicht gar so ernsthaft
gemeint wäre; man könnte es einen Gewinn für die Wissenschaft nennen, über die Entstehung einer
Art in einer so bestimmten, jeden Widerspruch ausschließenden Weise unterrichtet zu werden, wäre die
gelahrte Auseinandersetzung mehr, als ein haltloses Geschwätz. Vom Studirzimmer aus läßt sich ein
derartiger Unsinn wohl in die Welt schleudern, und wenn er mit dem Bewußtsein der Unfehlbarkeit
vorgebracht wird, findet er auch seine gläubigen Jünger und Nachfolger: wer aber ehrlich genug ist,
einzugestehen, daß alle Ansichten und Meinungen über die Entstehung der Arten im Thierreiche zur
Zeit Nichts weiter sind, als Annahmen, welche einstweilen noch der Begründung entbehren, der wird

Die Fänger. Singvögel. Grasmücken.
ſagt Naumann, „ſie im Freien jemals traurig geſehen zu haben; vielmehr läßt ſie an den ihr nahe
wohnenden Vögeln beſtändig ihren Muthwillen durch Necken und Jagen aus, beißt ſich auch wohl mit
ihnen herum, verfliegt ſich aber dabei niemals forglos ins Freie, ſondern bleibt klüglich immer dem
Gebüſch ſo nahe wie möglich.‟ Daſſelbe Betragen behält ſie nach meinen Beobachtungen auch im
Süden oder auf ihrer Wanderung bei. Sie iſt überall dieſelbe — überall gleich aufmerkſam, überall
gleich mißtrauiſch und überall gleich liſtig.

Bald nach ihrer Ankunft in Deutſchland macht die Dorngrasmücke Anſtalt zu ihrer Brut. Sie
baut in dichte Büſche und langes Gras, ſelten mehr als drei Fuß über dem Boden, oft ſo niedrig, daß
der Unterbau des Neſtes die Erde berührt. Jn die wie gewöhnlich aus Halmen zuſammengeſetzten
dünnen Wände werden oft Klümpchen Schafwolle gemiſcht; die innere Ausfütterung wird aus den
Spitzen der Grashalmen hergeſtellt. Schon in der zweiten Hälfte des April enthält das Neſt das
volle Gelege, vier bis ſechs, in Größe, Geſtalt und Färbung außerordentlich abändernde Eier, welche
auf elfenbeinweißem, gelben, grauen oder grünlichgelbgrauen, auch wohl grünlichweißen und bläulich-
weißen Grunde deutlicher oder undeutlicher mit aſchgrauen, ſchieferfarbigen, ölbraunen, gelbgrünen ꝛc.
Punkten und Flecken gewäſſert, marmorirt, gepunktet und ſonſtwie gezeichnet ſind. Die Eltern
betragen ſich beim Neſte, wie andere Grasmücken auch. Die zweite Brut folgt unmittelbar auf
die erſte.

Jm Käfig wird die Dorngrasmücke ſeltener gehalten, als ihre Verwandten. Jhr Geſang gefällt
eben nicht jedem Liebhaber; ihre Wartung jedoch verlangt die größte Sorgfalt; namentlich hält es
ſchwer, ſie rein zu halten, denn auch ſie wird vom Ungeziefer überaus geplagt.

Außer dem Meiſterſänger leben im Süden Europas noch andere Grasmücken, welche ebenfalls
der erſten Gruppe oder Sippe zugezählt werden müſſen. Jch will auch ſie kurz beſprechen.

„Weiter nach Mittag hin‟, ſagt Gloger, „wird, häufiger als bei uns, das Weißliche im Schwanz
(der Dorngrasmücke) um ein Bedeutendes heller. Die Farben des Oberleibes werden durch ſtarkes Ab-
reiben der Federränder und durch den Einfluß von Luft, Sonnenlicht und Wärme reiner, zum Theil leb-
hafter. Dann erſcheint der Kopf ſehr dunkelaſchgrau, an der Stirn mit ſchwärzlichen, vertuſchten
Schaftflecken, der Zügel noch dunkler als gewöhnlich, bis zum tiefen Schwarzgrau, der Unterleib
röther. So hat man ſie (die Dornsgrasmücke) öfters in Sardinien und, dieſen ähnlich, die Mehr-
zahl der dalmatiniſchen; geſunde alte Männchen ſind aber auch ſchon in Deutſchland zuweilen ganz
ebenſo: Brillengrasmücke (Curruca conspieillata). Auf einen höheren Grad ſteigt dieſelbe Ver-
änderung dort bei den noch älteren Vögeln, welchen man den Namen Sperlingsgrasmücke
(Curruca passerina), zum Theil auch die Benennung weißbärtige Grasmücke (Curruca leuco-
pogon
) beigelegt hat und welchen man das mittägliche Frankreich, Spanien, Jtalien und zugleich
Sardinien als Vaterland zuſchreibt. … Die Weibchen erleiden ſtets eine geringe Veränderung und
ſind unten mehr iris- oder röthlichgelb als roth.‟

Dieſe, wie gewöhnlich in möglichſt ſchlechtem Deutſch vorgebrachte Auslaſſung Gloger’s will
ſagen, daß eine überaus zierliche Grasmücke Südeuropas, eben die Brillengrasmücke, nichts
Anderes ſei, als eine ſogenannte klimatiſche Spielart unſerer Dorngrasmücke.

Man könnte Gloger’s Behauptung für einen Scherz halten, wenn ſie nicht gar ſo ernſthaft
gemeint wäre; man könnte es einen Gewinn für die Wiſſenſchaft nennen, über die Entſtehung einer
Art in einer ſo beſtimmten, jeden Widerſpruch ausſchließenden Weiſe unterrichtet zu werden, wäre die
gelahrte Auseinanderſetzung mehr, als ein haltloſes Geſchwätz. Vom Studirzimmer aus läßt ſich ein
derartiger Unſinn wohl in die Welt ſchleudern, und wenn er mit dem Bewußtſein der Unfehlbarkeit
vorgebracht wird, findet er auch ſeine gläubigen Jünger und Nachfolger: wer aber ehrlich genug iſt,
einzugeſtehen, daß alle Anſichten und Meinungen über die Entſtehung der Arten im Thierreiche zur
Zeit Nichts weiter ſind, als Annahmen, welche einſtweilen noch der Begründung entbehren, der wird

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0896" n="848"/><fw place="top" type="header">Die Fänger. Singvögel. Grasmücken.</fw><lb/>
&#x017F;agt <hi rendition="#g">Naumann,</hi> &#x201E;&#x017F;ie im Freien jemals traurig ge&#x017F;ehen zu haben; vielmehr läßt &#x017F;ie an den ihr nahe<lb/>
wohnenden Vögeln be&#x017F;tändig ihren Muthwillen durch Necken und Jagen aus, beißt &#x017F;ich auch wohl mit<lb/>
ihnen herum, verfliegt &#x017F;ich aber dabei niemals forglos ins Freie, &#x017F;ondern bleibt klüglich immer dem<lb/>
Gebü&#x017F;ch &#x017F;o nahe wie möglich.&#x201F; Da&#x017F;&#x017F;elbe Betragen behält &#x017F;ie nach meinen Beobachtungen auch im<lb/>
Süden oder auf ihrer Wanderung bei. Sie i&#x017F;t überall die&#x017F;elbe &#x2014; überall gleich aufmerk&#x017F;am, überall<lb/>
gleich mißtraui&#x017F;ch und überall gleich li&#x017F;tig.</p><lb/>
          <p>Bald nach ihrer Ankunft in Deut&#x017F;chland macht die Dorngrasmücke An&#x017F;talt zu ihrer Brut. Sie<lb/>
baut in dichte Bü&#x017F;che und langes Gras, &#x017F;elten mehr als drei Fuß über dem Boden, oft &#x017F;o niedrig, daß<lb/>
der Unterbau des Ne&#x017F;tes die Erde berührt. Jn die wie gewöhnlich aus Halmen zu&#x017F;ammenge&#x017F;etzten<lb/>
dünnen Wände werden oft Klümpchen Schafwolle gemi&#x017F;cht; die innere Ausfütterung wird aus den<lb/>
Spitzen der Grashalmen herge&#x017F;tellt. Schon in der zweiten Hälfte des April enthält das Ne&#x017F;t das<lb/>
volle Gelege, vier bis &#x017F;echs, in Größe, Ge&#x017F;talt und Färbung außerordentlich abändernde Eier, welche<lb/>
auf elfenbeinweißem, gelben, grauen oder grünlichgelbgrauen, auch wohl grünlichweißen und bläulich-<lb/>
weißen Grunde deutlicher oder undeutlicher mit a&#x017F;chgrauen, &#x017F;chieferfarbigen, ölbraunen, gelbgrünen &#xA75B;c.<lb/>
Punkten und Flecken gewä&#x017F;&#x017F;ert, marmorirt, gepunktet und &#x017F;on&#x017F;twie gezeichnet &#x017F;ind. Die Eltern<lb/>
betragen &#x017F;ich beim Ne&#x017F;te, wie andere Grasmücken auch. Die zweite Brut folgt unmittelbar auf<lb/>
die er&#x017F;te.</p><lb/>
          <p>Jm Käfig wird die Dorngrasmücke &#x017F;eltener gehalten, als ihre Verwandten. Jhr Ge&#x017F;ang gefällt<lb/>
eben nicht jedem Liebhaber; ihre Wartung jedoch verlangt die größte Sorgfalt; namentlich hält es<lb/>
&#x017F;chwer, &#x017F;ie rein zu halten, denn auch &#x017F;ie wird vom Ungeziefer überaus geplagt.</p><lb/>
          <p>Außer dem Mei&#x017F;ter&#x017F;änger leben im Süden Europas noch andere Grasmücken, welche ebenfalls<lb/>
der er&#x017F;ten Gruppe oder Sippe zugezählt werden mü&#x017F;&#x017F;en. Jch will auch &#x017F;ie kurz be&#x017F;prechen.</p><lb/>
          <p>&#x201E;Weiter nach Mittag hin&#x201F;, &#x017F;agt <hi rendition="#g">Gloger,</hi> &#x201E;wird, häufiger als bei uns, das Weißliche im Schwanz<lb/>
(der Dorngrasmücke) um ein Bedeutendes heller. Die Farben des Oberleibes werden durch &#x017F;tarkes Ab-<lb/>
reiben der Federränder und durch den Einfluß von Luft, Sonnenlicht und Wärme reiner, zum Theil leb-<lb/>
hafter. Dann er&#x017F;cheint der Kopf &#x017F;ehr dunkela&#x017F;chgrau, an der Stirn mit &#x017F;chwärzlichen, vertu&#x017F;chten<lb/>
Schaftflecken, der Zügel noch dunkler als gewöhnlich, bis zum tiefen Schwarzgrau, der Unterleib<lb/>
röther. So hat man &#x017F;ie (die Dornsgrasmücke) öfters in Sardinien und, die&#x017F;en ähnlich, die Mehr-<lb/>
zahl der dalmatini&#x017F;chen; ge&#x017F;unde alte Männchen &#x017F;ind aber auch &#x017F;chon in Deut&#x017F;chland zuweilen ganz<lb/>
eben&#x017F;o: <hi rendition="#g">Brillengrasmücke</hi> (<hi rendition="#aq">Curruca conspieillata</hi>). Auf einen höheren Grad &#x017F;teigt die&#x017F;elbe Ver-<lb/>
änderung dort bei den noch älteren Vögeln, welchen man den Namen <hi rendition="#g">Sperlingsgrasmücke</hi><lb/>
(<hi rendition="#aq">Curruca passerina</hi>), zum Theil auch die Benennung <hi rendition="#g">weißbärtige Grasmücke</hi> (<hi rendition="#aq">Curruca leuco-<lb/>
pogon</hi>) beigelegt hat und welchen man das mittägliche Frankreich, Spanien, Jtalien und zugleich<lb/>
Sardinien als Vaterland zu&#x017F;chreibt. &#x2026; Die Weibchen erleiden &#x017F;tets eine geringe Veränderung und<lb/>
&#x017F;ind unten mehr iris- oder röthlichgelb als roth.&#x201F;</p><lb/>
          <p>Die&#x017F;e, wie gewöhnlich in möglich&#x017F;t &#x017F;chlechtem Deut&#x017F;ch vorgebrachte Ausla&#x017F;&#x017F;ung <hi rendition="#g">Gloger&#x2019;s</hi> will<lb/>
&#x017F;agen, daß eine überaus zierliche Grasmücke Südeuropas, eben die <hi rendition="#g">Brillengrasmücke,</hi> nichts<lb/>
Anderes &#x017F;ei, als eine &#x017F;ogenannte klimati&#x017F;che Spielart un&#x017F;erer Dorngrasmücke.</p><lb/>
          <p>Man könnte <hi rendition="#g">Gloger&#x2019;s</hi> Behauptung für einen Scherz halten, wenn &#x017F;ie nicht gar &#x017F;o ern&#x017F;thaft<lb/>
gemeint wäre; man könnte es einen Gewinn für die Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft nennen, über die Ent&#x017F;tehung einer<lb/>
Art in einer &#x017F;o be&#x017F;timmten, jeden Wider&#x017F;pruch aus&#x017F;chließenden Wei&#x017F;e unterrichtet zu werden, wäre die<lb/>
gelahrte Auseinander&#x017F;etzung mehr, als ein haltlo&#x017F;es Ge&#x017F;chwätz. Vom Studirzimmer aus läßt &#x017F;ich ein<lb/>
derartiger Un&#x017F;inn wohl in die Welt &#x017F;chleudern, und wenn er mit dem Bewußt&#x017F;ein der Unfehlbarkeit<lb/>
vorgebracht wird, findet er auch &#x017F;eine gläubigen Jünger und Nachfolger: wer aber ehrlich genug i&#x017F;t,<lb/>
einzuge&#x017F;tehen, daß alle An&#x017F;ichten und Meinungen über die Ent&#x017F;tehung der Arten im Thierreiche zur<lb/>
Zeit Nichts weiter &#x017F;ind, als Annahmen, welche ein&#x017F;tweilen noch der Begründung entbehren, der wird<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[848/0896] Die Fänger. Singvögel. Grasmücken. ſagt Naumann, „ſie im Freien jemals traurig geſehen zu haben; vielmehr läßt ſie an den ihr nahe wohnenden Vögeln beſtändig ihren Muthwillen durch Necken und Jagen aus, beißt ſich auch wohl mit ihnen herum, verfliegt ſich aber dabei niemals forglos ins Freie, ſondern bleibt klüglich immer dem Gebüſch ſo nahe wie möglich.‟ Daſſelbe Betragen behält ſie nach meinen Beobachtungen auch im Süden oder auf ihrer Wanderung bei. Sie iſt überall dieſelbe — überall gleich aufmerkſam, überall gleich mißtrauiſch und überall gleich liſtig. Bald nach ihrer Ankunft in Deutſchland macht die Dorngrasmücke Anſtalt zu ihrer Brut. Sie baut in dichte Büſche und langes Gras, ſelten mehr als drei Fuß über dem Boden, oft ſo niedrig, daß der Unterbau des Neſtes die Erde berührt. Jn die wie gewöhnlich aus Halmen zuſammengeſetzten dünnen Wände werden oft Klümpchen Schafwolle gemiſcht; die innere Ausfütterung wird aus den Spitzen der Grashalmen hergeſtellt. Schon in der zweiten Hälfte des April enthält das Neſt das volle Gelege, vier bis ſechs, in Größe, Geſtalt und Färbung außerordentlich abändernde Eier, welche auf elfenbeinweißem, gelben, grauen oder grünlichgelbgrauen, auch wohl grünlichweißen und bläulich- weißen Grunde deutlicher oder undeutlicher mit aſchgrauen, ſchieferfarbigen, ölbraunen, gelbgrünen ꝛc. Punkten und Flecken gewäſſert, marmorirt, gepunktet und ſonſtwie gezeichnet ſind. Die Eltern betragen ſich beim Neſte, wie andere Grasmücken auch. Die zweite Brut folgt unmittelbar auf die erſte. Jm Käfig wird die Dorngrasmücke ſeltener gehalten, als ihre Verwandten. Jhr Geſang gefällt eben nicht jedem Liebhaber; ihre Wartung jedoch verlangt die größte Sorgfalt; namentlich hält es ſchwer, ſie rein zu halten, denn auch ſie wird vom Ungeziefer überaus geplagt. Außer dem Meiſterſänger leben im Süden Europas noch andere Grasmücken, welche ebenfalls der erſten Gruppe oder Sippe zugezählt werden müſſen. Jch will auch ſie kurz beſprechen. „Weiter nach Mittag hin‟, ſagt Gloger, „wird, häufiger als bei uns, das Weißliche im Schwanz (der Dorngrasmücke) um ein Bedeutendes heller. Die Farben des Oberleibes werden durch ſtarkes Ab- reiben der Federränder und durch den Einfluß von Luft, Sonnenlicht und Wärme reiner, zum Theil leb- hafter. Dann erſcheint der Kopf ſehr dunkelaſchgrau, an der Stirn mit ſchwärzlichen, vertuſchten Schaftflecken, der Zügel noch dunkler als gewöhnlich, bis zum tiefen Schwarzgrau, der Unterleib röther. So hat man ſie (die Dornsgrasmücke) öfters in Sardinien und, dieſen ähnlich, die Mehr- zahl der dalmatiniſchen; geſunde alte Männchen ſind aber auch ſchon in Deutſchland zuweilen ganz ebenſo: Brillengrasmücke (Curruca conspieillata). Auf einen höheren Grad ſteigt dieſelbe Ver- änderung dort bei den noch älteren Vögeln, welchen man den Namen Sperlingsgrasmücke (Curruca passerina), zum Theil auch die Benennung weißbärtige Grasmücke (Curruca leuco- pogon) beigelegt hat und welchen man das mittägliche Frankreich, Spanien, Jtalien und zugleich Sardinien als Vaterland zuſchreibt. … Die Weibchen erleiden ſtets eine geringe Veränderung und ſind unten mehr iris- oder röthlichgelb als roth.‟ Dieſe, wie gewöhnlich in möglichſt ſchlechtem Deutſch vorgebrachte Auslaſſung Gloger’s will ſagen, daß eine überaus zierliche Grasmücke Südeuropas, eben die Brillengrasmücke, nichts Anderes ſei, als eine ſogenannte klimatiſche Spielart unſerer Dorngrasmücke. Man könnte Gloger’s Behauptung für einen Scherz halten, wenn ſie nicht gar ſo ernſthaft gemeint wäre; man könnte es einen Gewinn für die Wiſſenſchaft nennen, über die Entſtehung einer Art in einer ſo beſtimmten, jeden Widerſpruch ausſchließenden Weiſe unterrichtet zu werden, wäre die gelahrte Auseinanderſetzung mehr, als ein haltloſes Geſchwätz. Vom Studirzimmer aus läßt ſich ein derartiger Unſinn wohl in die Welt ſchleudern, und wenn er mit dem Bewußtſein der Unfehlbarkeit vorgebracht wird, findet er auch ſeine gläubigen Jünger und Nachfolger: wer aber ehrlich genug iſt, einzugeſtehen, daß alle Anſichten und Meinungen über die Entſtehung der Arten im Thierreiche zur Zeit Nichts weiter ſind, als Annahmen, welche einſtweilen noch der Begründung entbehren, der wird

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben03_1866
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben03_1866/896
Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 3. Hildburghausen, 1866, S. 848. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben03_1866/896>, abgerufen am 22.11.2024.