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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 4. Hildburghausen, 1867.

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Wildgans.
fliegen und ziehen, wenn man sie nicht gewaltsam zurückhält, im Herbste mit anderen Wildgänsen
nach Süden. Zuweilen geschieht es, daß einzelne zurückkommen, das Gehöft, in welchem sie groß
wurden, wieder aufsuchen; sie aber gehören doch zu den Ausnahmen. Von einer solchen Gans berichtet
Boje. Man hatte vier Junge vom Ei an aufgezogen, zuerst in einer kleinen Einfriedigung auf
einem Grasplatze gehalten, ihnen später größere Freiheit gegeben und ihnen gestattet, auf dem ans
Gut stoßenden Plöner See nach Belieben umherzuschwimmen. Sie kehrten stets nach kurzer Zeit
zum Hofe zurück, lernten ihren Futterplatz und ihren Pfleger kennen, liefen ihm über den ganzen
Hof nach und wurden so zahm, daß sie z. B. Salat aus einem Korbe fraßen, den ein dazu abgerich-
teter Hund im Maule hielt. Gegen Eintritt der Zugzeit stutzte man ihnen die Flügel, ließ sie aber
nach Belieben umherlaufen. Eine wurde vermißt, die übrigen sperrte man ein, bis die Zugzeit
vorüber war. Jm Laufe des Winters verschwand eine zweite; die beiden anderen erlebten das Früh-
jahr, liefen während des ganzen Sommers auf dem Hofe oder schwammen auf dem See umher,
gingen aber nachts nicht mehr in den Stall. Beim Herannahen der Flugzeit ward beschlossen,
ihnen die Flügel nicht zu stutzen, sondern ihnen völlige Freiheit zu lassen. Man bemerkte, als die
Zugzeit heranrückte, eine große Unruhe; sie entfernten sich häufiger und auf längere Zeit von dem
Hofe, kreisten in weiteren Entfernungen über dem See und verschwanden endlich gänzlich. Jm
nächsten Frühjahre, als die wilden Gänse wiederkehrten, war oft von den früher Gezähmten die Rede,
aber man sah und hörte lange Nichts von ihnen. Jn den ersten Tagen des April bemerkte der
Pfleger eine Wildgans, welche ganz in seiner Nähe im See umherschwamm, holte Hafer, streute diesen
ins Wasser und ans Ufer und erfuhr zu seiner Freude, daß sich die Gans näherte, von den Körnern
fraß und nachdem er sie noch zwei oder drei Mal nach einander gefüttert, ihm folgte, sich auch voll-
kommen heimisch auf dem Hofe zeigte, sogar wie früher aus der Hand füttern ließ. Ueber das
Schicksal der anderen wurde Nichts bekannt. Jene zog nun im nächsten Herbste wieder fort, kehrte
in dem darauf folgenden Frühlinge auf den Hof zurück, zeigte sich dreister, folgte dem Pfleger ohne
Weiteres bis in den Hof, lief an den Futterplatz und forderte ihr gewohntes Futter. Seitdem zog
sie jeden Herbst fort und kehrte in jedem Frühjahre zurück, sogleich völlig zahm und zutraulich aus der
Hand fressend, keinen Menschen fürchtend, sodaß man sie oft mit dem Fuße beiseite schieben konnte,
wenn sie gerade behaglich auf dem Rasen des Hofes saß. Dreizehn Mal ist diese getreue Gans, ein
Gänserich, wie sich herausgestellt hatte, zu dem Orte, wo sie aufgezogen ward, zurückgekehrt und
zuletzt wahrscheinlich eines gewaltsamen Todes gestorben.... Sie stellte sich in den dreizehn Jahren nie
früher als den ersten, nie später als den vierten April auf dem Hofe ein, also mehrere Wochen später
als die übrigen Gänse, zeigte sich auf dem Hofe sehr zahm, außerhalb desselben ebenso scheu wie die
wilden Jhresgleichen, kam in den ersten Wochen nach ihrer Rückkunft gewöhnlich morgens und
abends, um sich ihr Futter zu holen, blieb auch wohl eine halbe bis eine ganze Stunde, flog dann
jedoch immer wieder zurück, fort nach dem See zu, sodaß man auf die Vermuthung gerieth, sie möge
dort ihr Nest haben. Von der Zeit an, in welcher die wilden Gänse Junge auszubringen pflegen,
blieb sie länger auf dem Hofe und später hielt sie sich beständig dort auf. Abends zehn Uhr erhob
sie sich regelmäßig und flog stets in derselben Richtung davon, dem See zu. Kurz ehe sie aufflog,
ließ sie erst einzelne Rufe vernehmen; die Laute folgten sich immer schneller, bis sie sich erhoben, ver-
stummten aber, sowie sie einmal ordentlich im Fluge war. Einstmals, als sie im April zurückkehrte,
erschien eine zweite Gans mit dieser gezähmten. Beide kreisten hoch in der Luft; die erstere ließ sich
auf dem Rasen nieder, die wilde folgte mit allen Anzeichen von Furcht, erhob sich aber unter heftigem
Geschrei sofort wieder und flog davon. Wo jene während des Sommers die Nächte zubrachte, ist
nicht ermittelt worden. Eine flog jeden Abend dem See zu; man fand sie aber am frühen Morgen
oft schon um drei Uhr auf dem Rasen des Hofes sitzen. Jhr Wegfliegen war jedes Mal mit
Geschrei verbunden, ihr Kommen nie. Jm Herbste, gegen die Zugzeit hin, ward sie unruhig, flog
oft und mit anhaltendem Geschrei auf, blieb auch weniger lange auf dem Hofe, bis sie zuletzt nicht
mehr gesehen war und erst im nächsten Frühjahre zurückkehrte.

Wildgans.
fliegen und ziehen, wenn man ſie nicht gewaltſam zurückhält, im Herbſte mit anderen Wildgänſen
nach Süden. Zuweilen geſchieht es, daß einzelne zurückkommen, das Gehöft, in welchem ſie groß
wurden, wieder aufſuchen; ſie aber gehören doch zu den Ausnahmen. Von einer ſolchen Gans berichtet
Boje. Man hatte vier Junge vom Ei an aufgezogen, zuerſt in einer kleinen Einfriedigung auf
einem Grasplatze gehalten, ihnen ſpäter größere Freiheit gegeben und ihnen geſtattet, auf dem ans
Gut ſtoßenden Plöner See nach Belieben umherzuſchwimmen. Sie kehrten ſtets nach kurzer Zeit
zum Hofe zurück, lernten ihren Futterplatz und ihren Pfleger kennen, liefen ihm über den ganzen
Hof nach und wurden ſo zahm, daß ſie z. B. Salat aus einem Korbe fraßen, den ein dazu abgerich-
teter Hund im Maule hielt. Gegen Eintritt der Zugzeit ſtutzte man ihnen die Flügel, ließ ſie aber
nach Belieben umherlaufen. Eine wurde vermißt, die übrigen ſperrte man ein, bis die Zugzeit
vorüber war. Jm Laufe des Winters verſchwand eine zweite; die beiden anderen erlebten das Früh-
jahr, liefen während des ganzen Sommers auf dem Hofe oder ſchwammen auf dem See umher,
gingen aber nachts nicht mehr in den Stall. Beim Herannahen der Flugzeit ward beſchloſſen,
ihnen die Flügel nicht zu ſtutzen, ſondern ihnen völlige Freiheit zu laſſen. Man bemerkte, als die
Zugzeit heranrückte, eine große Unruhe; ſie entfernten ſich häufiger und auf längere Zeit von dem
Hofe, kreiſten in weiteren Entfernungen über dem See und verſchwanden endlich gänzlich. Jm
nächſten Frühjahre, als die wilden Gänſe wiederkehrten, war oft von den früher Gezähmten die Rede,
aber man ſah und hörte lange Nichts von ihnen. Jn den erſten Tagen des April bemerkte der
Pfleger eine Wildgans, welche ganz in ſeiner Nähe im See umherſchwamm, holte Hafer, ſtreute dieſen
ins Waſſer und ans Ufer und erfuhr zu ſeiner Freude, daß ſich die Gans näherte, von den Körnern
fraß und nachdem er ſie noch zwei oder drei Mal nach einander gefüttert, ihm folgte, ſich auch voll-
kommen heimiſch auf dem Hofe zeigte, ſogar wie früher aus der Hand füttern ließ. Ueber das
Schickſal der anderen wurde Nichts bekannt. Jene zog nun im nächſten Herbſte wieder fort, kehrte
in dem darauf folgenden Frühlinge auf den Hof zurück, zeigte ſich dreiſter, folgte dem Pfleger ohne
Weiteres bis in den Hof, lief an den Futterplatz und forderte ihr gewohntes Futter. Seitdem zog
ſie jeden Herbſt fort und kehrte in jedem Frühjahre zurück, ſogleich völlig zahm und zutraulich aus der
Hand freſſend, keinen Menſchen fürchtend, ſodaß man ſie oft mit dem Fuße beiſeite ſchieben konnte,
wenn ſie gerade behaglich auf dem Raſen des Hofes ſaß. Dreizehn Mal iſt dieſe getreue Gans, ein
Gänſerich, wie ſich herausgeſtellt hatte, zu dem Orte, wo ſie aufgezogen ward, zurückgekehrt und
zuletzt wahrſcheinlich eines gewaltſamen Todes geſtorben.... Sie ſtellte ſich in den dreizehn Jahren nie
früher als den erſten, nie ſpäter als den vierten April auf dem Hofe ein, alſo mehrere Wochen ſpäter
als die übrigen Gänſe, zeigte ſich auf dem Hofe ſehr zahm, außerhalb deſſelben ebenſo ſcheu wie die
wilden Jhresgleichen, kam in den erſten Wochen nach ihrer Rückkunft gewöhnlich morgens und
abends, um ſich ihr Futter zu holen, blieb auch wohl eine halbe bis eine ganze Stunde, flog dann
jedoch immer wieder zurück, fort nach dem See zu, ſodaß man auf die Vermuthung gerieth, ſie möge
dort ihr Neſt haben. Von der Zeit an, in welcher die wilden Gänſe Junge auszubringen pflegen,
blieb ſie länger auf dem Hofe und ſpäter hielt ſie ſich beſtändig dort auf. Abends zehn Uhr erhob
ſie ſich regelmäßig und flog ſtets in derſelben Richtung davon, dem See zu. Kurz ehe ſie aufflog,
ließ ſie erſt einzelne Rufe vernehmen; die Laute folgten ſich immer ſchneller, bis ſie ſich erhoben, ver-
ſtummten aber, ſowie ſie einmal ordentlich im Fluge war. Einſtmals, als ſie im April zurückkehrte,
erſchien eine zweite Gans mit dieſer gezähmten. Beide kreiſten hoch in der Luft; die erſtere ließ ſich
auf dem Raſen nieder, die wilde folgte mit allen Anzeichen von Furcht, erhob ſich aber unter heftigem
Geſchrei ſofort wieder und flog davon. Wo jene während des Sommers die Nächte zubrachte, iſt
nicht ermittelt worden. Eine flog jeden Abend dem See zu; man fand ſie aber am frühen Morgen
oft ſchon um drei Uhr auf dem Raſen des Hofes ſitzen. Jhr Wegfliegen war jedes Mal mit
Geſchrei verbunden, ihr Kommen nie. Jm Herbſte, gegen die Zugzeit hin, ward ſie unruhig, flog
oft und mit anhaltendem Geſchrei auf, blieb auch weniger lange auf dem Hofe, bis ſie zuletzt nicht
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[799/0847] Wildgans. fliegen und ziehen, wenn man ſie nicht gewaltſam zurückhält, im Herbſte mit anderen Wildgänſen nach Süden. Zuweilen geſchieht es, daß einzelne zurückkommen, das Gehöft, in welchem ſie groß wurden, wieder aufſuchen; ſie aber gehören doch zu den Ausnahmen. Von einer ſolchen Gans berichtet Boje. Man hatte vier Junge vom Ei an aufgezogen, zuerſt in einer kleinen Einfriedigung auf einem Grasplatze gehalten, ihnen ſpäter größere Freiheit gegeben und ihnen geſtattet, auf dem ans Gut ſtoßenden Plöner See nach Belieben umherzuſchwimmen. Sie kehrten ſtets nach kurzer Zeit zum Hofe zurück, lernten ihren Futterplatz und ihren Pfleger kennen, liefen ihm über den ganzen Hof nach und wurden ſo zahm, daß ſie z. B. Salat aus einem Korbe fraßen, den ein dazu abgerich- teter Hund im Maule hielt. Gegen Eintritt der Zugzeit ſtutzte man ihnen die Flügel, ließ ſie aber nach Belieben umherlaufen. Eine wurde vermißt, die übrigen ſperrte man ein, bis die Zugzeit vorüber war. Jm Laufe des Winters verſchwand eine zweite; die beiden anderen erlebten das Früh- jahr, liefen während des ganzen Sommers auf dem Hofe oder ſchwammen auf dem See umher, gingen aber nachts nicht mehr in den Stall. Beim Herannahen der Flugzeit ward beſchloſſen, ihnen die Flügel nicht zu ſtutzen, ſondern ihnen völlige Freiheit zu laſſen. Man bemerkte, als die Zugzeit heranrückte, eine große Unruhe; ſie entfernten ſich häufiger und auf längere Zeit von dem Hofe, kreiſten in weiteren Entfernungen über dem See und verſchwanden endlich gänzlich. Jm nächſten Frühjahre, als die wilden Gänſe wiederkehrten, war oft von den früher Gezähmten die Rede, aber man ſah und hörte lange Nichts von ihnen. Jn den erſten Tagen des April bemerkte der Pfleger eine Wildgans, welche ganz in ſeiner Nähe im See umherſchwamm, holte Hafer, ſtreute dieſen ins Waſſer und ans Ufer und erfuhr zu ſeiner Freude, daß ſich die Gans näherte, von den Körnern fraß und nachdem er ſie noch zwei oder drei Mal nach einander gefüttert, ihm folgte, ſich auch voll- kommen heimiſch auf dem Hofe zeigte, ſogar wie früher aus der Hand füttern ließ. Ueber das Schickſal der anderen wurde Nichts bekannt. Jene zog nun im nächſten Herbſte wieder fort, kehrte in dem darauf folgenden Frühlinge auf den Hof zurück, zeigte ſich dreiſter, folgte dem Pfleger ohne Weiteres bis in den Hof, lief an den Futterplatz und forderte ihr gewohntes Futter. Seitdem zog ſie jeden Herbſt fort und kehrte in jedem Frühjahre zurück, ſogleich völlig zahm und zutraulich aus der Hand freſſend, keinen Menſchen fürchtend, ſodaß man ſie oft mit dem Fuße beiſeite ſchieben konnte, wenn ſie gerade behaglich auf dem Raſen des Hofes ſaß. Dreizehn Mal iſt dieſe getreue Gans, ein Gänſerich, wie ſich herausgeſtellt hatte, zu dem Orte, wo ſie aufgezogen ward, zurückgekehrt und zuletzt wahrſcheinlich eines gewaltſamen Todes geſtorben.... Sie ſtellte ſich in den dreizehn Jahren nie früher als den erſten, nie ſpäter als den vierten April auf dem Hofe ein, alſo mehrere Wochen ſpäter als die übrigen Gänſe, zeigte ſich auf dem Hofe ſehr zahm, außerhalb deſſelben ebenſo ſcheu wie die wilden Jhresgleichen, kam in den erſten Wochen nach ihrer Rückkunft gewöhnlich morgens und abends, um ſich ihr Futter zu holen, blieb auch wohl eine halbe bis eine ganze Stunde, flog dann jedoch immer wieder zurück, fort nach dem See zu, ſodaß man auf die Vermuthung gerieth, ſie möge dort ihr Neſt haben. Von der Zeit an, in welcher die wilden Gänſe Junge auszubringen pflegen, blieb ſie länger auf dem Hofe und ſpäter hielt ſie ſich beſtändig dort auf. Abends zehn Uhr erhob ſie ſich regelmäßig und flog ſtets in derſelben Richtung davon, dem See zu. Kurz ehe ſie aufflog, ließ ſie erſt einzelne Rufe vernehmen; die Laute folgten ſich immer ſchneller, bis ſie ſich erhoben, ver- ſtummten aber, ſowie ſie einmal ordentlich im Fluge war. Einſtmals, als ſie im April zurückkehrte, erſchien eine zweite Gans mit dieſer gezähmten. Beide kreiſten hoch in der Luft; die erſtere ließ ſich auf dem Raſen nieder, die wilde folgte mit allen Anzeichen von Furcht, erhob ſich aber unter heftigem Geſchrei ſofort wieder und flog davon. Wo jene während des Sommers die Nächte zubrachte, iſt nicht ermittelt worden. Eine flog jeden Abend dem See zu; man fand ſie aber am frühen Morgen oft ſchon um drei Uhr auf dem Raſen des Hofes ſitzen. Jhr Wegfliegen war jedes Mal mit Geſchrei verbunden, ihr Kommen nie. Jm Herbſte, gegen die Zugzeit hin, ward ſie unruhig, flog oft und mit anhaltendem Geſchrei auf, blieb auch weniger lange auf dem Hofe, bis ſie zuletzt nicht mehr geſehen war und erſt im nächſten Frühjahre zurückkehrte.

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 4. Hildburghausen, 1867, S. 799. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben04_1867/847>, abgerufen am 22.11.2024.