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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 5. Hildburghausen, 1869.

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Die Schlangen. Giftnattern. Schildvipern.
Haltung, zum Angriffe oder mindestens zur Abwehr gerüstet, auf den Gegenstand ihres Zornes
zuschlängelt, vorn unbeweglich wie eine Bildsäule sich haltend, hinten jede einzelne Muskel anstrengend,
und wer da weiß, daß ihr Biß ebenso tödtlich wirkt, wie der der Lanzen- oder Klapperschlange:
begreift, daß sie von jeher die Aufmerksamkeit des Menschen erregen mußte, versteht es, warum man
ihr göttliche Ehre erzeigte und sie, ebenso wie andere Gottheiten auch, benutzte, Verstandesschwache
oder doch mit dem Wesen und den Eigenthümlichkeiten der Schlange nicht Vertraute zu täuschen.
Ein in seinem Bau und Wesen so eigenthümliches Geschöpf mußte die Beachtung jedes Denkenden
auf sich ziehen, und die Erkundung des Nutzens, welchen die Schlange durch Aufzehren schädlicher
Thiere bringt, wie die Erfahrung von der tödtlichen Wirkung ihres Bisses es dem herrschsüchtigen
Priester oder dem pfiffigen Betrüger leicht machen, dieses Thier als Abbild und Vertreter einer
Gottheit auszugeben. Das Wunder beginnt, wo das Verständniß aufhört!

Die eigentliche Cobra de Capello ist die Brillenschlange, wie wir sie gewöhnlich zu nennen
pflegen, die Tschinta-Negu der Jndier (Naja tripudians), die über Ostindien und die benach-
barten Eilande verbreitete Art der Familie, ein Thier von 4 bis 6 Fuß Länge und lohgelber, in gewissem
Lichte ins Aschblaue schimmernder Färbung, welche jedoch blasser erscheint, da die Zwischenräume der
einzelnen Schuppen lichtgelb oder weiß aussehen und auch die Ecken einzelner Schuppen oft dieselbe
Färbung theilen. Jm Nacken herrscht Lichtgelb oder Weiß derartig vor, daß die dunklere Färbung
nur als Tüpfelung erscheint, und gerade von dieser Stelle hebt sich eine Zeichnung deutlich ab, welche
mit einer Brille die größte Aehnlichkeit hat. Diese Brille wird von zwei schwarzen Linien umrandet
und ist gewöhnlich bedeutend lichter, als der umgebende Theil, während diejenigen Stellen, welche
den Gläsern entsprechen, entweder ganz schwarz aussehen oder einen lichten Augenflecken dunkel
nmranden. Die Bauchschilder sind schmuzigweiß, einzelne schwarz gefleckt.

Eine Folge der genauen Bekanntschaft, welche die Eingeborenen von der Brillenschlange erlangt
haben, ist, daß sie Spielarten namentlich unterscheiden. Russell, welcher bis jetzt am ausführlichsten
über das Thier berichtet hat, führt deren zehn an. Eine Spielart, welche an der Küste von Coro-
mandel lebt, die Arigi-Negu, hat eine graue, in der Mitte schwarz eingefaßte Brille und zu jeder
Seite des Bogens einen dunklen Flecken, eine zweite, Kendum-Negu, derselben Gegend ent-
stammend, dunklere Färbung, gelbe Haut zwischen den Schuppen und eine Brillenzeichnung, bei
welcher die Umrisse aus einem doppelten Bogen von schwarzer Farbe gebildet werden; eine dritte
Spielart, die Mogla-Negu, zeichnet sich durch die grau gefleckten Hinterhauptsschilder und die vier
graublau gefärbten Mittelschilder aus, eine vierte, Melle-Negu, durch blaßbraune Färbung,
mehrere dunkle Brustschilder und kleine Brillenflecken, eine sünfte, Kembu-Negu, durch dunkle
Nackenschilder und eine in Blau schillernde Gesammtfärbung, eine sechste, Jenne-Negu, durch
orangenfarbene, eine siebente, Nelletespem, durch schwarze Kehlhaut, eine achte, Korie-Negu,
durch die Schmalheit der vorderen und die Breite der letzteren Mittelschilder, eine neunte endlich, die
Senku-Negu, dadurch, daß sie gar keine Zeichnung auf dem Halse hat. Neuerdings sind noch
mehrere andere Spielarten beschrieben worden.

Die neueren Forschungen haben festgestellt, daß sich die Brillenschlange über ganz Südasien
verbreitet und auch auf allen benachbarten Jnseln, mit Ausnahme von Celebes, den Molukken, Timor
und Neuguinea vorkommt. Wie die meisten übrigen Schlangen scheint sie sich nicht an eine bestimmte
Oertlichkeit zu binden, im Gegentheile überall sich anzusiedeln, wo sie ein passendes Versteck und
genügende Nahrung findet. Lieblingswohnungen von ihr sind die verlassenen Nesthügel der weißen
Ameise oder Termite, deren Höhlungen ihr ein passendes Versteck gewähren. Tennent hebt hervor,
daß sie auf Ceylon neben der sogenannten Rattenschlange, einer Natter (Coryphodon Blumen-
bachii),
die einzige ihres Geschlechtes ist, welche die Nachbarschaft menschlicher Wohnungen aufsucht,
unzweifelhaft angezogen durch die Abzugsgräben und vielleicht durch die Beute, welche sie hier an
Ratten, Mäusen und kleinen Küchlein zu machen gedenkt. So lange sie ungestört bleibt, pflegt sie

Die Schlangen. Giftnattern. Schildvipern.
Haltung, zum Angriffe oder mindeſtens zur Abwehr gerüſtet, auf den Gegenſtand ihres Zornes
zuſchlängelt, vorn unbeweglich wie eine Bildſäule ſich haltend, hinten jede einzelne Muskel anſtrengend,
und wer da weiß, daß ihr Biß ebenſo tödtlich wirkt, wie der der Lanzen- oder Klapperſchlange:
begreift, daß ſie von jeher die Aufmerkſamkeit des Menſchen erregen mußte, verſteht es, warum man
ihr göttliche Ehre erzeigte und ſie, ebenſo wie andere Gottheiten auch, benutzte, Verſtandesſchwache
oder doch mit dem Weſen und den Eigenthümlichkeiten der Schlange nicht Vertraute zu täuſchen.
Ein in ſeinem Bau und Weſen ſo eigenthümliches Geſchöpf mußte die Beachtung jedes Denkenden
auf ſich ziehen, und die Erkundung des Nutzens, welchen die Schlange durch Aufzehren ſchädlicher
Thiere bringt, wie die Erfahrung von der tödtlichen Wirkung ihres Biſſes es dem herrſchſüchtigen
Prieſter oder dem pfiffigen Betrüger leicht machen, dieſes Thier als Abbild und Vertreter einer
Gottheit auszugeben. Das Wunder beginnt, wo das Verſtändniß aufhört!

Die eigentliche Cobra de Capello iſt die Brillenſchlange, wie wir ſie gewöhnlich zu nennen
pflegen, die Tſchinta-Negu der Jndier (Naja tripudians), die über Oſtindien und die benach-
barten Eilande verbreitete Art der Familie, ein Thier von 4 bis 6 Fuß Länge und lohgelber, in gewiſſem
Lichte ins Aſchblaue ſchimmernder Färbung, welche jedoch blaſſer erſcheint, da die Zwiſchenräume der
einzelnen Schuppen lichtgelb oder weiß ausſehen und auch die Ecken einzelner Schuppen oft dieſelbe
Färbung theilen. Jm Nacken herrſcht Lichtgelb oder Weiß derartig vor, daß die dunklere Färbung
nur als Tüpfelung erſcheint, und gerade von dieſer Stelle hebt ſich eine Zeichnung deutlich ab, welche
mit einer Brille die größte Aehnlichkeit hat. Dieſe Brille wird von zwei ſchwarzen Linien umrandet
und iſt gewöhnlich bedeutend lichter, als der umgebende Theil, während diejenigen Stellen, welche
den Gläſern entſprechen, entweder ganz ſchwarz ausſehen oder einen lichten Augenflecken dunkel
nmranden. Die Bauchſchilder ſind ſchmuzigweiß, einzelne ſchwarz gefleckt.

Eine Folge der genauen Bekanntſchaft, welche die Eingeborenen von der Brillenſchlange erlangt
haben, iſt, daß ſie Spielarten namentlich unterſcheiden. Ruſſell, welcher bis jetzt am ausführlichſten
über das Thier berichtet hat, führt deren zehn an. Eine Spielart, welche an der Küſte von Coro-
mandel lebt, die Arigi-Negu, hat eine graue, in der Mitte ſchwarz eingefaßte Brille und zu jeder
Seite des Bogens einen dunklen Flecken, eine zweite, Kendum-Negu, derſelben Gegend ent-
ſtammend, dunklere Färbung, gelbe Haut zwiſchen den Schuppen und eine Brillenzeichnung, bei
welcher die Umriſſe aus einem doppelten Bogen von ſchwarzer Farbe gebildet werden; eine dritte
Spielart, die Mogla-Negu, zeichnet ſich durch die grau gefleckten Hinterhauptsſchilder und die vier
graublau gefärbten Mittelſchilder aus, eine vierte, Melle-Negu, durch blaßbraune Färbung,
mehrere dunkle Bruſtſchilder und kleine Brillenflecken, eine ſünfte, Kembu-Negu, durch dunkle
Nackenſchilder und eine in Blau ſchillernde Geſammtfärbung, eine ſechſte, Jenne-Negu, durch
orangenfarbene, eine ſiebente, Nelletespem, durch ſchwarze Kehlhaut, eine achte, Korie-Negu,
durch die Schmalheit der vorderen und die Breite der letzteren Mittelſchilder, eine neunte endlich, die
Senku-Negu, dadurch, daß ſie gar keine Zeichnung auf dem Halſe hat. Neuerdings ſind noch
mehrere andere Spielarten beſchrieben worden.

Die neueren Forſchungen haben feſtgeſtellt, daß ſich die Brillenſchlange über ganz Südaſien
verbreitet und auch auf allen benachbarten Jnſeln, mit Ausnahme von Celebes, den Molukken, Timor
und Neuguinea vorkommt. Wie die meiſten übrigen Schlangen ſcheint ſie ſich nicht an eine beſtimmte
Oertlichkeit zu binden, im Gegentheile überall ſich anzuſiedeln, wo ſie ein paſſendes Verſteck und
genügende Nahrung findet. Lieblingswohnungen von ihr ſind die verlaſſenen Neſthügel der weißen
Ameiſe oder Termite, deren Höhlungen ihr ein paſſendes Verſteck gewähren. Tennent hebt hervor,
daß ſie auf Ceylon neben der ſogenannten Rattenſchlange, einer Natter (Coryphodon Blumen-
bachii),
die einzige ihres Geſchlechtes iſt, welche die Nachbarſchaft menſchlicher Wohnungen aufſucht,
unzweifelhaft angezogen durch die Abzugsgräben und vielleicht durch die Beute, welche ſie hier an
Ratten, Mäuſen und kleinen Küchlein zu machen gedenkt. So lange ſie ungeſtört bleibt, pflegt ſie

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[264/0286] Die Schlangen. Giftnattern. Schildvipern. Haltung, zum Angriffe oder mindeſtens zur Abwehr gerüſtet, auf den Gegenſtand ihres Zornes zuſchlängelt, vorn unbeweglich wie eine Bildſäule ſich haltend, hinten jede einzelne Muskel anſtrengend, und wer da weiß, daß ihr Biß ebenſo tödtlich wirkt, wie der der Lanzen- oder Klapperſchlange: begreift, daß ſie von jeher die Aufmerkſamkeit des Menſchen erregen mußte, verſteht es, warum man ihr göttliche Ehre erzeigte und ſie, ebenſo wie andere Gottheiten auch, benutzte, Verſtandesſchwache oder doch mit dem Weſen und den Eigenthümlichkeiten der Schlange nicht Vertraute zu täuſchen. Ein in ſeinem Bau und Weſen ſo eigenthümliches Geſchöpf mußte die Beachtung jedes Denkenden auf ſich ziehen, und die Erkundung des Nutzens, welchen die Schlange durch Aufzehren ſchädlicher Thiere bringt, wie die Erfahrung von der tödtlichen Wirkung ihres Biſſes es dem herrſchſüchtigen Prieſter oder dem pfiffigen Betrüger leicht machen, dieſes Thier als Abbild und Vertreter einer Gottheit auszugeben. Das Wunder beginnt, wo das Verſtändniß aufhört! Die eigentliche Cobra de Capello iſt die Brillenſchlange, wie wir ſie gewöhnlich zu nennen pflegen, die Tſchinta-Negu der Jndier (Naja tripudians), die über Oſtindien und die benach- barten Eilande verbreitete Art der Familie, ein Thier von 4 bis 6 Fuß Länge und lohgelber, in gewiſſem Lichte ins Aſchblaue ſchimmernder Färbung, welche jedoch blaſſer erſcheint, da die Zwiſchenräume der einzelnen Schuppen lichtgelb oder weiß ausſehen und auch die Ecken einzelner Schuppen oft dieſelbe Färbung theilen. Jm Nacken herrſcht Lichtgelb oder Weiß derartig vor, daß die dunklere Färbung nur als Tüpfelung erſcheint, und gerade von dieſer Stelle hebt ſich eine Zeichnung deutlich ab, welche mit einer Brille die größte Aehnlichkeit hat. Dieſe Brille wird von zwei ſchwarzen Linien umrandet und iſt gewöhnlich bedeutend lichter, als der umgebende Theil, während diejenigen Stellen, welche den Gläſern entſprechen, entweder ganz ſchwarz ausſehen oder einen lichten Augenflecken dunkel nmranden. Die Bauchſchilder ſind ſchmuzigweiß, einzelne ſchwarz gefleckt. Eine Folge der genauen Bekanntſchaft, welche die Eingeborenen von der Brillenſchlange erlangt haben, iſt, daß ſie Spielarten namentlich unterſcheiden. Ruſſell, welcher bis jetzt am ausführlichſten über das Thier berichtet hat, führt deren zehn an. Eine Spielart, welche an der Küſte von Coro- mandel lebt, die Arigi-Negu, hat eine graue, in der Mitte ſchwarz eingefaßte Brille und zu jeder Seite des Bogens einen dunklen Flecken, eine zweite, Kendum-Negu, derſelben Gegend ent- ſtammend, dunklere Färbung, gelbe Haut zwiſchen den Schuppen und eine Brillenzeichnung, bei welcher die Umriſſe aus einem doppelten Bogen von ſchwarzer Farbe gebildet werden; eine dritte Spielart, die Mogla-Negu, zeichnet ſich durch die grau gefleckten Hinterhauptsſchilder und die vier graublau gefärbten Mittelſchilder aus, eine vierte, Melle-Negu, durch blaßbraune Färbung, mehrere dunkle Bruſtſchilder und kleine Brillenflecken, eine ſünfte, Kembu-Negu, durch dunkle Nackenſchilder und eine in Blau ſchillernde Geſammtfärbung, eine ſechſte, Jenne-Negu, durch orangenfarbene, eine ſiebente, Nelletespem, durch ſchwarze Kehlhaut, eine achte, Korie-Negu, durch die Schmalheit der vorderen und die Breite der letzteren Mittelſchilder, eine neunte endlich, die Senku-Negu, dadurch, daß ſie gar keine Zeichnung auf dem Halſe hat. Neuerdings ſind noch mehrere andere Spielarten beſchrieben worden. Die neueren Forſchungen haben feſtgeſtellt, daß ſich die Brillenſchlange über ganz Südaſien verbreitet und auch auf allen benachbarten Jnſeln, mit Ausnahme von Celebes, den Molukken, Timor und Neuguinea vorkommt. Wie die meiſten übrigen Schlangen ſcheint ſie ſich nicht an eine beſtimmte Oertlichkeit zu binden, im Gegentheile überall ſich anzuſiedeln, wo ſie ein paſſendes Verſteck und genügende Nahrung findet. Lieblingswohnungen von ihr ſind die verlaſſenen Neſthügel der weißen Ameiſe oder Termite, deren Höhlungen ihr ein paſſendes Verſteck gewähren. Tennent hebt hervor, daß ſie auf Ceylon neben der ſogenannten Rattenſchlange, einer Natter (Coryphodon Blumen- bachii), die einzige ihres Geſchlechtes iſt, welche die Nachbarſchaft menſchlicher Wohnungen aufſucht, unzweifelhaft angezogen durch die Abzugsgräben und vielleicht durch die Beute, welche ſie hier an Ratten, Mäuſen und kleinen Küchlein zu machen gedenkt. So lange ſie ungeſtört bleibt, pflegt ſie

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 5. Hildburghausen, 1869, S. 264. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben05_1869/286>, abgerufen am 22.12.2024.